Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
der Armee. Vigor vermutet, dass Stalin es bewusst vermied, im Zusammenhang mit den kriegsentscheidenden Faktoren von der Gesamtstärke der Wirtschaft eines Landes zu sprechen, und zwar deshalb, weil die Wirtschaftskraft der UdSSR während seiner Herrschaftszeit – insbesondere während des Zweiten Weltkriegs – wesentlich schwächer war als jene der kapitalistischen Staaten. Zu verkünden, die wirtschaftliche Gesamtstärke der kriegführenden Länder sei entscheidend, hätte bei dieser Sachlage bedeutet, die Niederlage der Sowjets in einem Krieg gegen die Kapitalisten anzukündigen. Dass dies nicht in Stalins Interesse lag, versteht sich von selbst.
Stalin anerkannte, dass neben den fünf «ständig wirkenden Faktoren» auch noch andere Faktoren auf den Verlauf eines Kriegs einwirken konnten; er stufte deren Bedeutung jedoch als gering ein. So bezeichnete er beispielsweise «militärische Bereitschaft», «militärische Erfahrung» und «Überraschung» als lediglich «temporär auftretende» beziehungsweise «vorübergehende» Faktoren, welche zwar kurzfristige taktische Erfolge herbeiführten, nicht aber den Ausgang des Kriegs als Ganzes beeinflussen könnten. Am auffälligsten war die Geringschätzung des Faktors «Überraschung». Sie muss im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Sommer 1941 in der Sowjetunion gesehen werden: Nachdem die Rote Armee durch den Blitzangriff der deutschen Wehrmacht überrascht worden und in Bedrängnis geraten war, verkündete Stalin – einerseits zur Stärkung des Durchhaltewillens, andererseits, um nicht eigene Fehler zugeben zu müssen – dem Sowjetvolk, dass «Überraschung» kein entscheidender Faktor sei in einem Krieg und dass der Sieg stattdessen durch Überlegenheit in den «ständig wirkenden Faktoren» erreicht werde. Da der Ausgang des Zweiten Weltkriegs Stalins These bestätigte, blieb diese auch nach Kriegsende in Kraft, und zwar bis zu Stalins Tod. Das Aufkommen von Atomwaffen – und damit verbunden die erhöhte Wirkungskraft von Überraschungsangriffen – änderte daran nichts, im Gegenteil: Angesichts der nuklearen Überlegenheit der USA erschien es Stalin zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung sinnvoll, dem Faktor «Überraschung» – zumindest in der Öffentlichkeit – weiterhin nur untergeordnete Wichtigkeit zuzuerkennen.
(9) In Bezug auf das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs blieb Stalin ganz auf der Linie Lenins:140 Wie dieser war er der Auffassung, dass die Anzahl und die Art der von einer Kriegspartei eingesetzten Mittel vom politischen Ziel abhingen, welches diese Kriegspartei verfolge. Je wichtiger das Ziel, desto mehr und effizientere Mittel würden eingesetzt. Kriege zwischen zwei antagonistischen Klassen – egal, ob auf innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Ebene – seien die grausamsten Kriege: Sie würden immer unter Einsatz aller zur Verfügung stehender Mittel – sprich «unbegrenzt» – geführt.
(10) Weiterhin gültig blieb unter Stalin auch die These, dass ein Krieg – zumindest ein von Kommunisten geführter Krieg – dann beendet werde, wenn das diesem zugrunde liegende politische Ziel vollständig erreicht sei.141 Als Beleg dafür führt Peter H. Vigor unter anderem den Krieg der UdSSR gegen Finnland im Winter 1939/40 an: In diesem habe das Ziel der Sowjetunion darin bestanden, strategisch bedeutende Landstriche zu erobern, insbesondere die Grenze vor Leningrad so weit vorzuverlegen, dass diese Stadt erfolgreich verteidigt werden konnte.142 Dieses Ziel hätten die Sowjets im März 1940, als sich die Finnen zu den verlangten Gebietsabtretungen bereit erklärten, erreicht, und dementsprechend seien die Kriegshandlungen umgehend eingestellt worden.
(11) Die marxistisch-leninistische Theorie, dass es, solange auf diesem Planeten kapitalistische Staaten existierten, zwischen diesen immer wieder zu Kriegen kommen müsse, blieb in den ersten Jahren unter Stalin unverändert in Kraft.143 Angesichts der Tatsache, dass es in der Zwischenkriegszeit nur einen «proletarischen» Staat (die Sowjetunion) gab, der Rest der Welt dagegen kapitalistisch oder unter kapitalistischer Herrschaft war, zeigte sich Stalin vom baldigen Ausbruch eines neuerlichen grossen «imperialistischen Krieges» überzeugt.144
Als jedoch im Verlauf der 1930er-Jahre die Gefahr eines – insbesondere deutschen – Angriffs auf die UdSSR stark zunahm, wurden die sowjetischen Äusserungen bezüglich der Unvermeidbarkeit von innerkapitalistischen Kriegen immer zurückhaltender, ja, sie verkehrten sich in ihr Gegenteil. Die Ursache dafür lag in der politischen Strategie, mit welcher die Sowjetunion «der drohenden Gefahr des Faschismus und des Krieges»145 entgegentrat. Diese Strategie bestand aus zwei Teilen: Zum einen betrieb die sowjetische Führung – beziehungsweise die Kommunistische Internationale – unter der Losung einer «proletarischen Einheitsfront gegen Faschismus und Krieg»146 eine intensive Friedenspropaganda. In deren Rahmen wurde zu Mobilisierungszwecken betont, jeder «imperialistische Krieg» sei durch die Stärke der «Einheitsfront» und der Sowjetunion vermeidbar.147 Zum anderen rückte Stalin zunehmend vom bisherigen Konfrontationskurs gegenüber der gesamten kapitalistischen Welt ab, um im drohenden Krieg nicht völlig isoliert zu sein.148 Unter diesen Umständen wäre es kontraproduktiv gewesen, weiterhin die Theorie von der Unvermeidlichkeit innerkapitalistischer Kriege zu betonen, denn diese Theorie unterschied ja nicht zwischen «guten» und «schlechten» kapitalistischen Nationen, sondern betrachtete alle als «imperialistische Räuber».149 Obwohl die Sowjets während der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg Kriege zwischen kapitalistischen Staaten also nicht mehr als unvermeidlich bezeichneten, fand eine direkte, offizielle Revidierung der Theorie Lenins nicht statt; es war vielmehr so, dass diese Theorie mit Schweigen übergangen wurde.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte den sowjetischen Erwägungen über die Vermeidbarkeit von Kriegen innerhalb der kapitalistischen Welt ein Ende und bedeutete die Rückkehr zur Annahme der Unvermeidbarkeit solcher Kriege.150 Bis zu Beginn der 1950er-Jahre erfuhr dieser Aspekt indes nur sehr beschränkte Beachtung in den öffentlichen Erörterungen der sowjetischen Führung, was insofern erstaunt, als die Theorie von der Unvermeidbarkeit von innerkapitalistischen Kriegen doch gerade durch den Zweiten Weltkrieg ihre Bestätigung erhalten zu haben schien. Der Grund für dieses Phänomen war zunächst der, dass die Sowjets den Zweiten Weltkrieg bis kurz nach dessen Beendigung nicht – wie den Ersten Weltkrieg – als «imperialistischen», sondern als «antifaschistischen» Krieg, als «Befreiungskrieg […], dessen […] Aufgabe […] die Wiederherstellung der demokratischen Freiheiten war»,151 einordneten, und zwar als Befreiungskrieg nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der bürgerlichen westlichen Demokratien. Anschliessend – in den ersten Nachkriegsjahren – lag der Grund darin, dass im Rahmen der nun vorherrschenden «Zwei-Lager-Theorie» ganz klar das Thema «Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus» im Zentrum stand und demgegenüber dasjenige des Kriegs innerhalb des Kapitalismus nur von geringem Interesse war.
Dies änderte sich, als die sowjetische Führung Anfang der 1950er-Jahre – unter dem Eindruck des Koreakriegs und zur Vermeidung eines offenen Kriegs mit den USA – die Doktrin der «Zwei Lager» aufgab und stattdessen die Möglichkeit einer Friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Kommunismus hervorhob. Stalin spielte nun die zuvor stark betonten Gegensätze zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager herunter und reaktivierte im Gegenzug die Theorie von der Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen Ländern.152
Stalins Haltung in Bezug auf das Problem von Krieg oder Frieden zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten – konkret zwischen der Sowjetunion und der nichtkommunistischen Welt – wurde in den eben gemachten Ausführungen teilweise bereits angesprochen. Im Folgenden soll die Entwicklung dieser Haltung nun gesamthaft aufgezeigt werden.153 Im Zentrum steht also die Frage, ob Stalin Krieg zwischen den beiden Seiten als wahrscheinlich, unvermeidlich, gar unmittelbar bevorstehend oder aber als vermeidbar betrachtete. Generell kann vorausgeschickt werden, dass Stalin, für den – noch mehr als für Lenin – Doktrin in erster Linie ein Mittel zur Erreichung von spezifischen politischen Zielen bedeutete, diese Frage wie Lenin nicht auf der Grundlage der Theorie des historischen Materialismus beantwortete, sondern aufgrund der jeweiligen inneren und äusseren Situation der Sowjetunion beziehungsweise in Übereinstimmung mit den Zielen seiner momentanen Politik. Dementsprechend fielen seine Erklärungen zum Problem von Krieg oder Frieden zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu unterschiedlichen Zeitpunkten sehr verschieden aus:
Von seiner Machtübernahme an bis zu Beginn der 1930er-Jahre betonte Stalin, ein Krieg zwischen der Sowjetunion und den «imperialistischen Staaten» sei