Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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und die Aufrichtung des Terrorregimes der Bourgeoisie in der ganzen Welt»154 sei. Der Ausbruch dieses Kriegs könne durch den «Interessengegensatz im Lager der Imperialisten, die Interessiertheit bestimmter Länder an wirtschaftlichen Beziehungen zur UdSSR, die Friedenspolitik der UdSSR, [den] Widerstand der Arbeiterklasse Europas, die Furcht der Imperialisten, im Fall eines Kriegs gegen die UdSSR die Revolution bei sich zu Hause zu entfachen», zwar hinausgezögert werden.155 In der näheren oder ferneren Zukunft werde ein kapitalistischer Angriff jedoch nicht zu verhindern sein: «[D]ie Voraussetzungen für einen Krieg […] reifen [heran] und der Krieg [kann], natürlich nicht morgen oder übermorgen, wohl aber in einigen Jahren, unvermeidlich werden […].»156 Diese Behauptungen scheinen auf den ersten Blick merkwürdig, war doch in den 1920er-Jahren die effektive Bedrohung der Sowjetunion gering. Erklären lässt sich der scheinbare Widerspruch damit, dass Stalin mit der Betonung der kapitalistischen Gefahr innenpolitische Ziele verfolgte: Er suchte seine unumschränkte und willkürliche Herrschaft sowie die forcierte Industrialisierung und Aufrüstung, welche seinen Untertanen harte Entbehrungen abverlangte, zu rechtfertigen.

      Als 1933 in Deutschland Hitler an die Macht kam und die Sowjetunion mit einer echten Bedrohung konfrontierte, änderte Stalin seine Haltung: Im Rahmen seiner – bereits weiter oben beschriebenen – politischen Strategie zur Verhinderung einer deutschen oder japanischen Aggression gegen die Sowjetunion liess er nun die These von der Vermeidbarkeit von Krieg zwischen der kapitalistischen Welt und der Sowjetunion verkünden. Stalins Kalkül, sich durch zurückhaltende aussenpolitische Äusserungen die Option auf Sicherheitsbündnisse mit anderen Staaten zu eröffnen, erwies sich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs als erfolgreich: Im August 1939 ermöglichte diese Taktik ihm eine Allianz mit dem ideologischen Erzfeind, Nazi-Deutschland, und damit die vermeintliche Eliminierung der unmittelbaren Kriegsgefahr. Im Zusammenhang mit der «Vermeidbarkeits-These» ist darauf hinzuweisen, dass deren Einführung in der Sowjetunion keineswegs eine Verharmlosung oder gar Negierung der «kapitalistischen Bedrohung» mit sich brachte. Stalin verwies vielmehr auch weiterhin vor allem dann auf diese Gefahr, wenn er innenpolitische Entscheidungen zu begründen hatte.157

      Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich die Situation für die Sowjetunion insofern, als sie nun nicht mehr länger der einzige sozialistische Staat war. Dennoch hielt Stalin – zumindest öffentlich – weiterhin nur einen vom kapitalistischen Lager begonnenen Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus für möglich. Die Gefahr eines solchen Kriegs wurde von sowjetischer Seite in den ersten Jahren des Kalten Kriegs – im Rahmen der Doktrin der «Zwei Lager» – als sehr gross dargestellt. Als grundsätzlich unvermeidlich wurde der Krieg jedoch nicht bezeichnet. Worauf ist die starke Betonung der kapitalistischen Gefahr in der ersten Nachkriegsphase zurückzuführen? Auch wenn sie damals tatsächlich einen realen Hintergrund hatte,158 dürfte sie in erster Linie erneut machtpolitischen Zwecken gedient haben: der Stabilisierung von Stalins Herrschaft in der Sowjetunion sowie der verstärkten Anbindung der Satellitenstaaten an die Sowjetunion.

      Ab den 1950er-Jahren schwächte Stalin im Zuge der Abwendung von der «Zwei-Lager»-Theorie seine Äusserungen zur Gefahr eines kapitalistischen Angriffs deutlich ab und sprach davon, dass Kriege zwischen den beiden gegensätzlichen Gesellschaftssystemen verhindert werden könnten. So antwortete Stalin in einem im Februar 1951 durchgeführten Interview auf die Frage, ob er einen neuen Weltkrieg für unvermeidlich halte: «Nein. Zumindest darf man ihn gegenwärtig nicht für unvermeidlich halten. […] Sie, die aggressiven Kräfte, halten in ihren Händen die reaktionären Regierungen und lenken sie. Gleichzeitig aber fürchten sie ihre Völker, die keinen Krieg wollen und für die Erhaltung des Friedens sind.»159 Das eben Gesagte einschränkend, fügte Stalin allerdings hinzu: «Der Krieg kann unvermeidlich werden, wenn es den Kriegsbrandstiftern gelingt, die Volksmassen durch Lügen zu umgarnen, sie zu betrügen und sie in einen neuen Weltkrieg hineinzuziehen.»160 In seiner 1952 veröffentlichten Schrift «Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR» erklärte er, dass entgegen der Theorie «die Gegensätze zwischen dem Lager des Sozialismus und dem Lager des Kapitalismus» in der Wirklichkeit schwächer seien als «die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Ländern».161 Diese Aussagen enthielten die Botschaft, dass die Sowjetunion gewillt war, Schritte zu unternehmen, um einen direkten Krieg mit den USA zu vermeiden, und sind zu sehen im Zusammenhang mit Stalins Bereitschaft, im Koreakrieg einen Waffenstillstand auszuhandeln.

      1.3.1.4 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Kriegsverständnisses an die Bedingungen des Nuklearzeitalters unter Chruščev

      Durch das Aufkommen von Atomwaffen sowie von immer weiter reichenden Trägermitteln sowohl im Westen wie im Osten entstand in den 1950er-Jahren eine gefährliche Lage: Ein mit strategischen Nuklearwaffen geführter Krieg zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus hätte wohl unweigerlich die totale Vernichtung sowohl der kapitalistischen als auch der kommunistischen Gesellschaft zur Folge gehabt. Eine solche Entwicklung lag natürlich nicht im Interesse weder der einen noch der anderen Seite.

      Für die sowjetische Führung musste es nun darum gehen, die Gefahr der Zerstörung der Sowjetunion beziehungsweise des Kommunismus so weit wie möglich zu minimieren. Dies bedingte unter anderem eine Revision der kommunistischen Kriegstheorie – insbesondere ihrer Aussagen über den Krieg als wichtiges Mittel zur Ausbreitung des Kommunismus sowie der Aussagen über die Unmöglichkeit der Vermeidung von Krieg in einer Welt mit kapitalistischen Staaten. Die Aufgabe, die kommunistische Kriegslehre den Bedingungen des nuklearen Zeitalters anzupassen, fiel Stalins Nachfolger Nikita Sergeevič Chruščev zu, denn Stalin selbst hatte sich, obwohl die Atomwaffen während seiner Amtszeit eingeführt wurden, geweigert, offiziell anzuerkennen, dass diese den Charakter des Klassenkampfes oder die Rolle von Krieg in den Beziehungen zwischen den Staaten beeinflussten.162

      (1/2) Während die Einschätzung der Ursache von Krieg unter Chruščev gleich blieb wie unter seinen Vorgängern,163 ergaben sich in den Ansichten über die Funktion von Krieg gewisse Veränderungen:164 Die meisten sowjetischen Militärtheoretiker verteidigten zwar weiterhin die Gültigkeit des von Lenin betonten Clausewitz’schen Lehrsatzes, der Krieg sei eine Fortsetzung und ein Instrument der Politik.165 Es gab jedoch auch einige Autoren, welche eine andere Meinung vertraten: Sie erklärten, dass der Kernwaffenkrieg aufgrund seines «eindeutigen Zerstörungs- und Vernichtungscharakters» nicht als ein «verlässliches Mittel zur Erreichung politischer Ziele» betrachtet werden könne,166 und verlangten offen, im nuklearen Zeitalter solle die Clausewitz-Formel in den Satz umgewandelt werden: «Der Krieg kann nur eine Fortsetzung der Torheit sein.»167 Chruščev selbst wagte es nicht, den von Lenin aufgestellten Grundsatz direkt zu verwerfen. Aber er sagte öffentlich, dass es undenkbar sei, den Kommunismus auf den radioaktiv verseuchten Trümmern aufzubauen, die ein neuer Weltkrieg hinterlassen würde.168 Diese und ähnliche Äusserungen von ihm deuten darauf hin, dass er wohl nicht mehr an dem bislang vertretenen Standpunkt festhielt, Politik und Krieg seien zusammengehörige Grössen.

      (3) Einem Wandel unterlagen während der Herrschaft Chruščevs auch die Auffassungen zur Wirkung von Krieg:169 In offiziellen Erklärungen wurde zwar nach wie vor betont, dass «in der Epoche des Imperialismus die Weltkriege, die die sozial-politischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft auf die Spitze treiben, unvermeidlich zu revolutionären Umwälzungen führen» würden.170 Diese Behauptung verlor jedoch, da in der sowjetischen Führung die Einsicht in die immense Zerstörungskraft eines Atomkriegs wuchs, zunehmend ihren realen Bezug und wurde nurmehr aus propagandistischen und psychologischen Gründen171 aufrechterhalten. In Wirklichkeit fand in der UdSSR nun ein – allerdings nicht kontinuierliches – Abrücken vom Lehrsatz der revolutionsfördernden Wirkung eines zukünftigen Weltkriegs statt. Georgij M. Malenkov, Vorsitzender des Ministerrats, wagte bereits 1954 die Aussage, ein nuklearer Krieg könne zur gegenseitigen Zerstörung der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft führen. Chruščev selbst widersetzte sich zunächst – nicht zuletzt aus machtpolitischen Erwägungen – der unorthodoxen Behauptung Malenkovs; allmählich aber gelangte er dann zu der gleichen Überzeugung. Ab Ende der 1950er-Jahre wies auch er – unter anderem aufgrund einer ideologischen Kontroverse mit den chinesischen Kommunisten über die Notwendigkeit beziehungsweise die Vermeidbarkeit


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