Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
vor allem die Werktätigen und ihre Vorhut, die Arbeiterklasse, Schaden erleiden werden.»174 Chruščev glaubte also, dass ein Nuklearkrieg zwischen Ost und West den Prozess in Richtung Weltkommunismus nicht beschleunigen, sondern vielmehr verzögern würde. Seiner Ansicht nach konnte im Kernwaffen- und Raketenzeitalter nur noch eine Kategorie von Kriegen revolutionsbegünstigende Wirkung entfalten, nämlich die «nationalen Befreiungskriege».175 Bei dieser Kriegsart müsse – als einziger – weiterhin nicht mit einer nuklearen Eskalation gerechnet werden. Als aktuelles Beispiel führte Chruščev den – von 1954 bis 1962 dauernden – algerischen Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich an.
Abb. 13: Nikita Sergeevič Chruščev. (Osteuropabibliothek Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1961)
(4) Bezüglich seiner allgemeinen Einstellung zum Krieg unterschied sich Chruščev nicht von seinen Vorgängern:176 Wie jene verwahrte er sich gegen eine generelle Ablehnung von Krieg und stellte sich auf den Standpunkt, dass die Beurteilung eines konkreten Kriegs aufgrund der Frage vorgenommen werden müsse, «welchen Klassencharakter dieser Krieg besitzt, von welchen Klassen und zu welchem Zweck er geführt und von welchen Klassen er vorbereitet und gelenkt wird».177 Entsprechend dieser Grundhaltung behielt Chruščev auch die Unterscheidung zwischen «gerechten» und «ungerechten» Kriegen bei.
Chruščevs vom Anbruch der nuklearen Ära beinflusste, etwas improvisiert wirkende Kriegsklassifizierung umfasst drei Grundtypen von Kriegen: «Weltkriege», «lokale Kriege» sowie «nationale Befreiungskriege». Der Begriff «Weltkrieg» bezeichnete dabei eine vom «Lager des Imperialismus» begonnene, global ausgedehnte militärische Auseinandersetzung zwischen der «imperialistischen» und der sozialistischen Staatenkoalition. Ein solcher Krieg war nach offizieller sowjetischer Darstellung «ein aggressiver, ungerechter Eroberungskrieg von seiten des Imperialismus und ein gerechter revolutionärer Befreiungskrieg von seiten der Staaten der sozialistischen Völkergemeinschaft».178 Mit «lokalen Kriegen» meinte Chruščev kleinere «imperialistische Kriege» in lokalem, begrenztem Rahmen: in erster Linie Kriege, die von «den Imperialisten» geführt würden, «um nationale Befreiungsbewegungen zu unterdrücken, um Kolonien zu erobern oder sie zu behalten»;179 in zweiter Linie verstand er unter diesem Begriff aber auch Kriege zwischen «imperialistischen» Mächten. Sämtliche «lokalen Kriege» galten als «ungerecht» beziehungsweise «volksfeindlich». Als «gerecht» beziehungsweise «revolutionär» wurden demgegenüber die «nationalen Befreiungskriege» angesehen.180 Unter diese dritte Kategorie subsumierte Chruščev «Bürgerkriege und sonstige Volkskriege, die auf die Abwehr imperialistischer Aggressionen mit Eroberungsabsichten, auf einen Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat hinauslaufen».181
(5) Die Haltung der Sowjetunion zum Akt der Aggression war unter Chruščev die gleiche wie während der Stalin-Zeit:182 Weiterhin wurde offiziell jede Form von militärischem Erstangriff eines Staates gegen einen anderen Staat kategorisch verurteilt; gemäss sowjetischer Darstellung konnten weder politische noch strategische noch wirtschaftliche Umstände eine Aggression rechtfertigen.183 Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass nach sowjetischer Definition nur Staaten Aggressionen begehen konnten. «Unterdrückte Klassen» – sei es das «Proletariat» eines kapitalistischen Staates oder sei es die einheimische Bevölkerung einer Kolonie – wurden demgegenüber in jedem Fall als berechtigt angesehen, einen Bürgerkrieg oder einen «nationalen Befreiungskrieg» anzufangen; ein solches Vorgehen stellte aus Sicht der Sowjets nie eine Aggression dar.
Der Grund für die rigorose sowjetische Ablehnung von militärischen Aggressionsakten von Staaten gegen andere Staaten – sowie für die Tatsache, dass Chruščev jegliche sowjetische Angriffsabsichten entschieden in Abrede stellte184 und die Verwendung des Begriffs «revolutionärer Krieg» gänzlich unterliess185 – war wie unter Stalin kein ideologischer, sondern ein taktischer: Es ging der sowjetischen Führung darum, die UdSSR gegenüber der Weltöffentlichkeit als friedliebend darzustellen und auf diese Weise die Gefahr eines Kriegs zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager zu verkleinern. Dieses Vorhaben wurde angesichts der während der 1950er-Jahre auf beiden Seiten stark anwachsenden Nuklearwaffenarsenale (mit der Sowjetunion in der schwächeren Ausgangsposition), durch welche sich das Zerstörungsrisiko in einem zukünftigen Krieg massiv vergrösserte, immer dringlicher.186 Die Basis für die Ermöglichung einer langfristigen, nicht zum Krieg führenden Beziehung zwischen Kommunismus und Kapitalismus bildete das Prinzip der «Friedlichen Koexistenz» von Staaten mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen.187 Dieses Konzept wurde von Chruščev im Februar 1956 auf dem XX. Parteikongress der KPdSU vorgestellt188 und 1961 wie folgt im neuen Parteiprogramm verankert: «Friedliche Koexistenz setzt voraus: Verzicht auf Kriege als Mittel zur Entscheidung von Streitfragen zwischen den Staaten, Entscheidung dieser Fragen durch Verhandlungen; Gleichberechtigung, Verständigung und Vertrauen unter den Staaten, Berücksichtigung der Interessen des anderen; Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, jedem Volk muss das Recht zugestanden werden, alle Fragen seines Landes selbständig zu entscheiden; strikte Respektierung der Souveränität und der territorialen Integrität aller Länder; Ausbau der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit auf der Grundlage der vollständigen Gleichheit und des gegenseitigen Vorteils.»189
In Anbetracht der bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, ob sich denn die Sowjetunion mit dem im November 1956 erfolgten Einmarsch ihrer Truppen in Ungarn nicht selbst einer Aggression – im Sinn ihrer eigenen Definition – schuldig machte?190 Die Sowjets verneinten dies zwar mit dem Hinweis darauf, dass die Rote Armee auf Ersuchen der ungarischen Volksregierung nach Budapest geschickt worden sei, um jener zu helfen, einen Aufstand zu unterdrücken und die Ordnung wiederherzustellen.191 Diese Begründung war jedoch alles andere als hieb- und stichfest, denn die Sowjets bezogen sich hierbei offensichtlich auf die von János Kádár geführte, unter sowjetischem Einfluss stehende Gegenregierung, welche zum Zeitpunkt ihres «Hilferufs» weder die rechtmässige ungarische Regierung war, noch den Volkswillen verkörperte. Zu behaupten, die Sowjetunion habe gegenüber Ungarn auch nach ihren eigenen Massstäben eine Aggression verübt, ist somit sicherlich gerechtfertigt.
(6) Chruščev widersprach dem Vorwurf, «die Sowjetunion habe das Prinzip der friedlichen Koexistenz nur aus taktischen, konjunkturbedingten Erwägungen aufgestellt»,192 scharf: «Es ist […] bekannt, dass wir uns mit der gleichen Beharrlichkeit auch früher, seit den ersten Jahren der Sowjetmacht, für die friedliche Koexistenz eingesetzt haben. Folglich ist das kein taktischer Schachzug, sondern das Grundprinzip der sowjetischen Aussenpolitik. Wenn also eine Gefahr für die friedliche Koexistenz von Ländern mit verschiedenen sozialen und politischen Systemen besteht, so geht sie keineswegs von der Sowjetunion, keineswegs vom ‹sozialistischen Lager› aus. Hat ein sozialistischer Staat auch nur den kleinsten Beweggrund, einen aggressiven Krieg zu entfesseln?»193 Chruščevs Beteuerung, die Sowjetunion beabsichtige keinen Angriff auf die kapitalistische Welt, kann aufgrund des heutigen Wissensstandes194 als durchaus glaubwürdig bezeichnet werden. Sein Versuch jedoch, einen solchen Angriff als grundsätzlich – das heisst für immer – unmöglich darzustellen, erscheint fragwürdig, steht er doch im Widerspruch zu den Aussagen der marxistisch-leninistischen Lehre zum Beginnen eines Kriegs: Wie weiter oben gezeigt wurde, lehnt diese Ideologie einen solchen Akt nicht generell ab, und es spielt aus ihrer Sicht auch keine Rolle, wer in einem Krieg der Angreifer ist. Auch wenn diese Aussagen nun in den Hintergrund gerückt wurden, so hatten sie unter Chruščev doch weiterhin Gültigkeit.195 Es muss somit davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen dafür, dass die Sowjets einen Krieg begannen, letztlich nach wie vor die gleichen waren wie bis anhin:196 Erstens musste ausgeschlossen werden können, dass das angestrebte Ziel mit friedlichen Mitteln erreicht werden konnte. Zweitens musste man sich des Sieges in diesem Krieg sicher sein. Und drittens durfte der politische Preis für den Sieg nicht zu hoch sein, das heisst, die «Errungenschaften» sowie die weitere Entwicklung des Kommunismus durften nicht gefährdet werden. Letzteres bedeutete