Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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Klassen und dem Ausbeuterstaat und verschwindet mit ihnen.»234 Dementsprechend sei Krieg «eine historische Erscheinung, die nur während der Dauer der Existenz der antagonistischen Klassengesellschaften auftritt.»235 Im «imperialistischen Stadium des Kapitalismus» diene der Krieg «der Monopolbourgeoisie als Mittel, die bereits aufgeteilte Welt von Zeit zu Zeit entsprechend dem sich aufgrund der ungleichmässigen ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitalismus ständig verändernden Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Staaten neu aufzuteilen und Völker, die sich von ihrem Joch befreit und den (sozialistischen oder auch nichtsozialistischen) Weg einer selbständigen nationalen Entwicklung beschritten haben, erneut zu unterwerfen.»236 Mit dem weltweiten Sieg des Sozialismus werde die Menschheit «für immer von der Gefahr eines Krieges befreit, da es in der sozialistischen Gesellschaft keine gesellschaftlichen Kräfte – Klassen oder Schichten – gibt, die an der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker und somit an einem Krieg interessiert sind».237

      (2) Hinsichtlich der Funktion von Krieg fand demgegenüber eine Veränderung in der sowjetischen Einschätzung statt:238 Die während der Chruščev-Zeit vorhandene Tendenz, anzuerkennen, dass ein Nuklearkrieg wohl militärisch nicht führbar beziehungsweise nicht eindeutig gewinnbar wäre, und daraus zu folgern, dass Lenins auf Clausewitz beruhendes Diktum vom Krieg als Fortsetzung der Politik obsolet geworden sei, wurde nun – unter anderem angesichts des zunehmend für möglich gehaltenen «begrenzten Kriegs» – von verschiedenen Militärtheoretikern als fatalistisch und politisch gefährlich kritisiert. Als Folge davon erlangte die Clausewitz-Formel wieder verstärkte Gültigkeit. Gemäss Meissner war ab dem XXIII. Parteitag der KPdSU im Frühling 1966 die offizielle sowjetische Auffassung die, dass «auch der Krieg mit Raketenkernwaffen ein Mittel der Politik sein könne».239

      (3) Die eben beschriebene Entwicklung hatte direkte Auswirkungen auf die unter Brežnev vorherrschenden Ansichten bezüglich der Wirkung von Krieg:240

      Die Gültigkeit der These, dass Kriege den Prozess in Richtung Weltkommunismus unterstützen und beschleunigen würden, welche während der Herrschaft Chruščevs stark eingeschränkt worden war, wurde nun auch auf Nuklearkriege ausgedehnt. So schrieb beispielsweise Oberstleutnant Evgenij Ivanovič Rybkin: «Wenn diese wissenschaftliche Lehre in der Zeit gültig war, als Kriege nur mit konventionellen Waffen geführt wurden, so verliert sie unter den Bedingungen des nuklearen Raketenkrieges keineswegs ihre Gültigkeit […].»241 Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Sowjets den «revolutionären Fortschritt» nun mittels eines nuklearen Kriegs gegen das kapitalistische Lager herbeiführen wollten, sondern muss vielmehr als Zeichen verstanden werden, dass sie sich nicht durch eine zu eng formulierte Doktrin die Hände binden wollten. Jeder Konfliktfall sollte individuell analysiert werden, um das konkrete sowjetische Vorgehen festzulegen.

      Generell sahen die Sowjets – insbesondere die Militärs – im Vergleich zur Chruščev-Periode grössere Möglichkeiten zur Einflussnahme im Bereich der «nationalen Befreiungskriege».242 Diese erschienen ihnen nach wie vor als deutlichster Beleg für die revolutionsbegünstigende Wirkung von Krieg, war doch im Zuge von Kämpfen während der Entkolonialisierung in zahlreichen Staaten der Sozialismus eingeführt worden. Ab Mitte der 1960er-Jahre beobachteten die Sowjets dementsprechend erwartungsvoll, welche Auswirkungen der amerikanische Misserfolg im Vietnamkrieg hatte – speziell auf die USA selbst. Eine eigentliche Revolution konnten sie dort zwar nicht ausmachen, immerhin aber eine grosse politische Krise und schliesslich massive Veränderungen in der Struktur der amerikanischen Gesellschaft. Dies schien ihnen Grundlage genug zu sein für die Folgerung, dass auch die USA wegen eines Kriegs der proletarischen Revolution einen Schritt nähergerückt seien.243

      (4) Die generelle Einstellung zum Krieg veränderte sich nach dem Sturz

      Chruščevs nicht.244 Es wurde weiterhin betont, dass der Marxismus-Leninismus «im Gegensatz zu den dogmatischen Auffassungen vom Krieg als einem absoluten Übel» zwischen «gerechten und ungerechten, reaktionären und revolutionären Kriegen» unterscheide: «Kriege, die dazu dienen, die von der herrschenden Klasse eines Landes betriebene Politik der Unterdrückung und Ausbeutung des eigenen Volkes wie auch fremder Völker mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes fortzusetzen, den Herrschaftsbereich von Ausbeuterklassen gewaltsam auszudehnen und die Macht der reaktionären Kräfte gewaltsam aufrechtzuerhalten, sind ungerecht. Gerecht sind Kriege, die die Völker für ihre Befreiung von nationaler und kolonialer Unterdrückung und die die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen um die Befreiung vom Klassenjoch führen.»245

      Chruščevs simplifizierende Kriegstypologie jedoch wurde nicht beibehalten, sondern vielmehr offen angegriffen: Die sowjetischen Theoretiker kritisierten, Chruščev habe nicht genügend scharf zwischen gerechten und ungerechten Kriegen unterschieden und so zu wenig deutlich gemacht, dass «das einzig richtige Kriterium für die Definition des Wesens von Kriegen […] ihr sozio-politischer Inhalt»246 sei. Neu wurden nun meistens fünf Arten von Kriegen aufgeführt; drei eindeutig «gerechte» und zwei eindeutig «ungerechte». Zu den Letzteren gehörten zum einen «Weltkriege zwischen einander entgegengesetzten Gesellschaftssystemen» – denn solche Kriege wurden nach sowjetischer Auffassung immer von den «Imperialisten» begonnen – und zum anderen «Kriege zwischen imperialistischen Staaten». Als «gerechte» Kriege wurden demgegenüber die folgenden charakterisiert: Erstens «Kriege zur Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes», womit Kriege gemeint waren, die zwar von ihrer Form her ebenfalls global und zwischen entgegengesetzten Gesellschaftssystemen geführt wurden, in welchen es aber um die historische Pflicht des «Weltproletariats» ging, die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen; zweitens «Bürgerkriege», worunter bewaffnete Kämpfe der unterdrückten Klassen gegen die Unterdrückerklassen innerhalb eines Staates verstanden wurden; und drittens «nationale Befreiungskriege», das heisst bewaffnete Kämpfe «der Völker der kolonialen und abhängigen Länder für ihre Befreiung vom imperialistischen Joch auf jede Art und Weise»247 oder Kriege «der jungen Nationalstaaten gegen die Restauration des Kolonialjochs».248

      (5) Unverändert in Kraft blieb unter Brežnev die Doktrin der Friedlichen Koexistenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus.249 Sie wurde weiterhin für die der gegenwärtigen, gemäss sowjetischer Darstellung vom «Kampf um den Frieden»250 geprägten Weltlage angemessenste Form der Aussenpolitik erachtet. Dementsprechend wies die sowjetische Führung die Idee, dass die UdSSR einen oder mehrere kapitalistische Staaten angreifen könnte, nach wie vor weit von sich und hielt stattdessen am Axiom fest, dass ein Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus nur durch das kapitalistische Lager begonnen werde könne. Die Behauptung, in der sozialistischen Gesellschaft gebe es «keine Klassen und andere Kräfte, die an einem Krieg interessiert sein könnten»,251 auch nicht an einem «revolutionären Krieg» gegen die kapitalistischen Staaten,252 stand aber ideologisch noch immer auf wackeligen Beinen. Dasselbe gilt für die ebenfalls weiterhin praktizierte generelle Ablehnung des Aktes der Aggression. Diese Ablehnung wurde unter Brežnev – besonders nach dem Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei 1968 – übrigens weniger stark betont als unter seinen Vorgängern. So gab die sowjetische Führung Ende der 1960er-Jahre die Formel, dass keine politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Erwägungen eine Aggression rechtfertigen könnten, stillschweigend auf.253 Ganz offensichtlich war sie zur Auffassung gelangt, dass diese Formel den sowjetischen Interessen nun nicht mehr entsprach. Wie schon im Fall Ungarns war der Sowjetunion nach der Intervention in der ČSSR nämlich vorgeworfen worden, selbst nach ihren eigenen Massstäben eine Aggression verübt zu haben.254 Die Sowjets hatten zwar erneut versucht, diesen Vorwurf unter Verweis auf einen angeblichen tschechoslowakischen «Hilferuf» zu entkräften,255 dürften sich aber selbst bewusst gewesen sein, dass diese legalistische Argumentation alles andere als überzeugend war. Um derartige «Unannehmlichkeiten» in Zukunft zu verhindern, proklamierten die Sowjets von nun an, Aggressionen könnten nur von «imperialistischen» Staaten begangen werden.256 Gleichzeitig verkündete Brežnev die These von der «begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten», welche besagte, dass die «internationale Pflicht der Kommunisten» ein – notfalls auch militärisches – Eingreifen gebiete, wann immer in einem kommunistisch


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