Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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Lenin – in Anlehnung an Clausewitz als «Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln». Krieg im Allgemeinen war für sie demzufolge ein grundsätzlich wertneutrales Instrument zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele einer Klasse. Das Aufkommen von Nuklear- und Raketenwaffen und die daraus erwachsende massiv erhöhte Vernichtungsgefahr im Fall eines Kriegs führten unter Chruščev zur Infragestellung der weiteren Gültigkeit der Clausewitz-Formel. Nach der Machtübernahme Brežnevs wurde dieser Theoriestreit jedoch zu Gunsten der Ansicht entschieden, dass auch der Krieg mit Raketenkernwaffen ein Mittel der Politik bleibe.

      In Bezug auf die Wirkung von Krieg wiesen Marx und Engels einerseits auf die vielen äusserst negativen Aspekte hin, welche der Krieg in Form von Tod, Leiden, Not und Elend für den einzelnen Arbeiter und Bauern mit sich bringe. Andererseits betonten sie – und diesen Gesichtspunkt gewichteten sie stärker – , welch überaus positive Auswirkungen Krieg für die Sache des «Proletariats» als Ganzes haben könne. Krieg könne nämlich den revolutionären Prozess beschleunigen und so den Triumph des Kommunismus näherbringen. Auch Lenin und Stalin hoben in der Folge den Wert von Krieg als «Hebamme» für die Verbreitung des Kommunismus beziehungsweise für die Stärkung der sowjetischen Machtposition hervor. Anders Chruščev: Er gelangte im Lauf der 1950er-Jahre zur Erkenntnis, dass ein Weltkrieg im Kernwaffen- und Raketenzeitalter wohl einer Selbstvernichtung gleichkäme oder doch den ohnehin unvermeidlichen kommunistischen Sieg unnötig erschweren und verzögern würde. Seiner Ansicht nach konnten nun nur noch die «nationalen Befreiungskriege» revolutionsbegünstigende Wirkung entfalten. Die Bedeutung von Krieg als Faktor, welcher die proletarische Revolution förderte, ging während dieser Periode somit grossenteils verloren. Nach Chruščevs Sturz wurde diese Entwicklung dann zumindest teilweise wieder rückgängig gemacht.

      Die Einstellung der Marxisten-Leninisten zum Krieg war im untersuchten Zeitraum geprägt davon, dass sie ihn nie generell ablehnten. Vielmehr unterschieden sie stets zwischen guten beziehungsweise «gerechten» und schlechten beziehungsweise «ungerechten» Kriegen. Zur ersten Kategorie zählten Kriege, die zum Zwecke der Verbreitung oder Verteidigung des Kommunismus geführt wurden, zur zweiten Kategorie Kriege, die nur den Interessen der «Kapitalisten» dienten.

      Die Frage nach dem Aggressor in einem Krieg wurde von Marx, Engels und Lenin als irrelevant angesehen. Eine prinzipielle Verurteilung des Aktes der Aggression war für sie kein Thema, im Gegenteil: Sie hielten es für richtig, selbst Kriege zu beginnen, wann immer es ihnen schien, dass die Sache des Kommunismus dies verlange. Nach der Gründung Sowjetrusslands allerdings wurden die Äusserungen zu diesem Thema immer zurückhaltender, und spätestens Anfang der 1930er-Jahre kam es zu einer regelrechten Kehrtwende: Stalin stellte nun jegliche Absicht eines offensiven «revolutionären Krieges» entschieden in Abrede und setzte sich für ein weltweit geltendes generelles Aggressionsverbot ein. Der Grund für diese Haltungsänderung war freilich kein ideologischer, sondern ein politisch-taktischer: Angesichts der exponierten Lage der Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat sowie ihrer relativen militärischen Schwäche fürchtete Stalin Angriffe der kapitalistischen Staaten auf sein Land. Um diese zu verhindern, versuchte er, einerseits die UdSSR gegenüber der Weltöffentlichkeit als friedliebend darzustellen und andererseits institutionelle Sicherungen gegen Aggressionen zu erreichen. Da sich die Sowjets auch nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den Westmächten nicht in einer Position der Stärke fühlten, führten sie die Propaganda gegen jegliche Art von Aggression – unter Chruščev eingebettet in die Politik der Friedlichen Koexistenz – fort. Das Verhalten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs sowie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei weist allerdings darauf hin, dass die offiziell postulierte Ablehnung des Aktes der Aggression stets nur eine scheinbare war und in Tat und Wahrheit die ursprüngliche marxistisch-leninistische Haltung zum Beginnen eines Kriegs in Kraft blieb.

      Obwohl für Marxisten-Leninisten keinerlei moralische oder ethische Hinderungsgründe für die Anwendung von Krieg existierten, mussten für einen solchen Schritt doch gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Die von Marx und Engels formulierten Grundbedingungen lauteten: Es muss ausgeschlossen werden können, dass das angestrebte Ziel mit friedlichen Mitteln erreicht werden kann, und der Sieg in diesem Krieg muss als sicher angesehen werden können. Nach der Entstehung der Sowjetunion gesellte sich dazu noch eine dritte Voraussetzung: Die zu erwartenden negativen Begleiterscheinungen eines Sieges für die Sicherheit und die Macht der UdSSR – als staatlicher Verkörperung des Kommunismus – durften nicht zu schwerwiegend sein.

      Unterschiedlich bewertet wurde im Verlauf der Zeit die Rolle der militärischen Gewalt für den Sieg der Revolution: Während Marx’ und Engels’ Äusserungen zu diesem Thema uneinheitlich ausfielen, war nach Meinung Lenins für die weltweite Errichtung des Sozialismus auf jeden Fall bewaffnete Gewalt notwendig. Diese Haltung blieb bis Mitte der 1950er-Jahre unverändert. Dann unternahm Chruščev unter dem Eindruck der Gefahr eines nuklearen Weltkriegs eine ideologische Kehrtwende: Er stellte die Behauptung auf, dass eine kommunistische Revolution auch mit rein friedlichen Mitteln – das heisst auf parlamentarischem Wege – bewerkstelligt werden könne. Der Rückgriff auf Waffengewalt blieb allerdings eine Option – für den Fall, dass sich der friedliche Weg als nicht gangbar erwies. Chruščevs Ansichten behielten auch nach seiner Entmachtung Gültigkeit: Dem evolutionären, gewaltlosen Übergang zum Sozialismus wurde weiterhin Priorität eingeräumt.

      Der wichtigste den Verlauf und den Ausgang eines Kriegs beeinflussende Faktor war sowohl für Marx und Engels als auch für Lenin die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft. Vor allem von Letzterem wurde daneben auf die zunehmende Bedeutung der «Moral» der Bevölkerungen der an diesem Krieg beteiligten Staaten hingewiesen. Stalins Vorstellungen zu diesem Thema waren inhaltlich praktisch dieselben wie die seiner Vorgänger, in der Form unterschieden sie sich jedoch: Stalin nannte – wohl aus innenpolitisch-taktischen Gründen – nicht das wirtschaftliche Gesamtpotential eines Staates als Hauptfaktor für den Sieg in einem Krieg, sondern bezeichnete fünf «ständig wirkende Faktoren» als entscheidend. Nicht zu diesen gehörte – trotz dem Aufkommen von Nuklearwaffen nach dem Zweiten Weltkrieg – der Faktor «Überraschung». In den ersten Jahren nach Stalins Tod blieb die zentrale Bedeutung der fünf «ständig wirkenden Faktoren», wenn auch nun anders bezeichnet und strukturiert, grundsätzlich erhalten. Gleichzeitig wurde dem Faktor «Überraschung» etwas grössere Wichtigkeit zuerkannt. Im Jahr 1960 jedoch erfolgte ein vollständiger Bruch mit den bisherigen Vorstellungen: Chruščev betonte nun erstmals den Vorrang der Feuerkraft, das heisst der nuklearen Waffen, gegenüber dem Menschenpotential, also in erster Linie der konventionellen Landmacht. Gemäss Chruščev waren fortan die strategischen Nuklearraketen das bestimmende und entscheidende Element eines künftigen Kriegs, wohingegen die konventionelle Bewaffnung zunehmend an Bedeutung verlieren würde. Unter Brežnev wurde diese Entwicklung dann teilweise wieder rückgängig gemacht.

      Der Marxismus-Leninismus geht – basierend auf Clausewitz – davon aus, dass die Anzahl und die Art der von einer Kriegspartei in einem militärischen Konflikt eingesetzten Mittel vom politischen Ziel, welches diese Kriegspartei verfolgt, bestimmt werden. Je wichtiger dieses Ziel, desto mehr und effizientere Mittel würden verwendet. In Bezug auf den Krieg zwischen zwei antagonistischen Klassen galt bis zur Chruščev-Periode der Leitsatz, in einem solchen Fall bestehe das Ziel jeder der beiden Klassen zwangsläufig in der kompletten Zerstörung des gegnerischen Gesellschaftssystems, und dementsprechend würden beide Seiten sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zum Einsatz bringen. Nach dem Sturz Chruščevs wurde diese Einschätzung – unter dem Eindruck des amerikanischen Konzepts der flexiblen Reaktion – jedoch «entradikalisiert»: Von nun an wurden unter der Voraussetzung, dass beide Kriegsparteien beschränkte Ziele verfolgten, «begrenzte Kriege» zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus für möglich gehalten.

      Zur Beendigung eines Kriegs von Seiten der Kommunisten kam es gemäss der stets gleichbleibenden marxistisch-leninistischen Auffassung genau dann, wenn die dem Krieg zugrunde liegenden politischen Ziele vollständig erreicht waren. Eine Fortsetzung des Kriegs «um des Krieges willen» wurde schärfstens abgelehnt.

      Die Ansichten über die Vermeidbarkeit von Kriegen unterlagen von Marx bis Brežnev einem recht starken Wandel. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Kriege zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Ob solche Kriege als vermeidbar


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