Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
noch bevor dessen kapitalistische Bündnispartner ihm hätten zu Hilfe kommen können.
Die Tatsache, dass Stalin den Abschluss von Neutralitätsabkommen mit anderen Staaten anstrebte, bedeutete nicht, dass er die Neutralität als politische Institution nun generell positiv beurteilte. Im Gegenteil: Das Neutralitätsrecht wurde in der Sowjetunion weiterhin als eine kapitalistische Entwicklung betrachtet und entsprechend kritisch bewertet. Gemäss der «Grossen Sowjetenzyklopädie» aus dem Jahr 1939 war die Neutralität in der Epoche des Imperialismus zu einer speziellen Form der unbewaffneten Teilnahme an einem Krieg geworden: Die Neutralität habe sich «im gegenwärtigen imperialistischen System nicht nur als eine gefährliche Illusion erwiesen, da sie in Wirklichkeit keineswegs den Einbezug der neutralen Staaten in den Krieg abwenden konnte, sondern sie erweist sich als Duldung von Aggression, als Faktor, welcher die Entfesselung von Kriegen stimuliere».306 Als Beleg für diese Aussage wurde auf die von den USA praktizierte Neutralitätspolitik gegenüber dem franquistischen Spanien sowie gegenüber der japanischen Aggression in China verwiesen. Angesichts solch deutlich geäusserter Kritik an der «kapitalistischen Neutralität» mussten die Sowjets ihr eigenes Interesse an der Neutralität natürlich klar von der Neutralitätspolitik kapitalistischer Länder abgrenzen. So behaupteten sie, die Neutralität habe in der Politik der UdSSR eine ganz andere Bedeutung erhalten: «Das prinzipiell neue Wesen unserer Verträge findet seinen Ausdruck in erster Linie darin, dass sie der Aufgabe des Kampfes gegen die Aggression untergeordnet sind. Die Verpflichtung der Neutralität tritt in unseren Verträgen als der Verpflichtung zum Nichtangriff untergeordnet hervor, als diese Verpflichtung ergänzend und sie entwickelnd.»307
Der Zweite Weltkrieg setzte den sowjetischen «Experimenten» mit der Neutralität ein Ende. Die Sowjets beschäftigten sich während des Kriegs nur noch insofern mit Neutralität, als sie das Verhalten von «immerwährend neutralen» Staaten wie der Schweiz und Schweden als nicht «absolut neutral» kritisierten.
Nach dem Ende des Kriegs jedoch erblickte die sowjetische Führung angesichts der Formierung und Verfestigung eines westlich-kapitalistischen und eines östlich-kommunistischen Blocks, welche die Weltpolitik zu dominieren begannen, in der Neutralität plötzlich wieder ein Mittel, das der Sowjetunion unter Umständen nützlich sein konnte. Falls nämlich ein Land, welches bis anhin dem kapitalistischen Lager angehört hatte oder zwischen den beiden Blöcken umstritten gewesen war, neutral wurde, so konnte dadurch wenn auch nicht direkt der sowjetische Einfluss verstärkt, so doch zumindest eine Schwächung des feindlichen Lagers erreicht werden. Genau dieses letztere Ziel verfolgte Stalin mit seinem im März 1952 vorgebrachten Vorschlag zur «Neutralisierung» Deutschlands: Der Vorschlag bildete einen Versuch, die zu jenem Zeitpunkt im Westen stattfindenden Verhandlungen um die Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu torpedieren und generell die Eingliederung der Bundesrepublik in die militärischen Strukturen des Westens zu verhindern.308 Der sowjetische Plan scheiterte, da die Westmächte die Absicht der Sowjets durchschauten und die «Neutralisierung» Deutschlands ablehnten.
1.4.4 Die Entwicklung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses während der Chruščev-Zeit
Unter Chruščev nahm das Interesse der Sowjetunion am Konzept der Neutralität im Zusammenhang mit der Politik der Friedlichen Koexistenz weiter zu.309 Es wurden nun vor allem die positiven Aspekte der Neutralität hervorgehoben: «Die historische Erfahrung», so Chruščev, «lehrt uns, dass einige Staaten, welche während des Kriegs eine neutrale Politik führten oder sich nicht an den militärischen Blöcken beteiligten, dadurch geholfen haben, den Völkern ihrer Länder Sicherheit zu gewähren, und insgesamt eine positive Rolle in der Welt gespielt haben. Eine solche Politik entspricht den nationalen Interessen jener Staaten, erhöht die Sicherheit und zwingt sie nicht zu einer überflüssigen und vergeblichen Verschwendung von Produktivkräften für militärische Ausgaben. Bereits viele Jahrzehnte geniessen zum Beispiel die Schweiz und Schweden alle Vorzüge der Neutralität. Eine wichtige Rolle im Kampf für den Frieden und die Sicherheit spielen auch solche Staaten wie Indien, Burma, die Vereinigte Arabische Republik, Kambodscha und andere Länder, welche die Teilnahme an einem militärischen Block ablehnen. Ihr Standpunkt trifft auf Verständnis und Sympathie.»310 Der Grund dafür, dass Chruščev die Neutralität derart positiv darstellte, lag darin, dass er in ihr ein Mittel sah, um trotz der nun gültigen Doktrin der «Friedlichen Koexistenz» das westliche Lager beträchtlich zu schwächen. Dementsprechend befürwortete und förderte er intensiv die «Neutralisierung» westlich beeinflusster Staaten, keineswegs jedoch – wie 1956 in Ungarn deutlich wurde – Bestrebungen in Richtung Neutralität von Staaten aus dem sowjetischen Einflussbereich.
Während der ersten Phase der Herrschaft Chruščevs, bis Ende der 1950er-Jahre, richtete sich das sowjetische Interesse hauptsächlich auf die Konzeption der «immerwährenden Neutralität»: Einerseits beobachteten die Sowjets mit Argusaugen das Verhalten derjenigen Staaten, welche bereits «immerwährend neutral» waren, wie die Schweiz und Schweden. Falls sie eine neutralitätspolitische Verfehlung solcher Länder zu erkennen glaubten, kritisierten sie diese umgehend. Besonders heftig fiel die sowjetische Kritik aus, als sowohl die Schweiz als auch Schweden im Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren die Anschaffung von Nuklearwaffen für ihre Truppen in Erwägung zogen. Aus Sicht der Sowjets war ein solcher Schritt mit dem Status der «immerwährenden Neutralität» ganz und gar unvereinbar, da sich diese Staaten dafür unweigerlich in eine zu grosse Abhängigkeit von einer der grossen Nuklearmächte hätten bringen müssen.311 Andererseits versuchte die sowjetische Führung weiterhin, Staaten, welche ganz oder teilweise unter westlichem Einfluss standen, zu «neutralisieren». Im Fall Österreichs waren die entsprechenden Bemühungen erfolgreich: 1955 wurde zwischen den bisherigen Besetzungsmächten USA, UdSSR, Frankreich und Grossbritannien und der österreichischen Regierung ein «Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich» unterzeichnet, mit dem die anschliessende Erklärung der «immerwährenden Neutralität» durch dieses Land verbunden war. Für die Sowjetunion bedeutete ein neutrales Österreich einen beträchtlichen Vorteil in militärischer Hinsicht, denn dadurch, dass die Truppen der Westmächte das österreichische Territorium nun nicht mehr benützen konnten, wurde deren bis anhin direkteste Verbindung zwischen Westdeutschland und Italien unterbrochen. Während die Nato also eine Schwächung erlitt, veränderte sich für die Sowjets die Situation kaum: Der Abzug ihrer Truppen aus dem östlichen Teil Österreichs war für sie militärisch ohne grosse Bedeutung, zum einen, weil es südlich von Österreich keinen zum sowjetischen Einflussbereich gehörenden Staat gab, zum anderen, weil Truppenbewegungen zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn auch ohne Zugang zu österreichischem Territorium problemlos möglich waren.312 Für die sowjetische Führung stellte Österreich fortan das Musterbeispiel eines «immerwährend neutralen» Staates dar. Trotzdem betrachtete sie dieses Land nicht in jeder Hinsicht als neutral, denn Österreich gehörte von seinem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem her ja klar zur kapitalistischen Welt. Einen weiteren Versuch zur «Neutralisierung» eines Staates unternahmen die Sowjets Ende der 1950er-Jahre: Sie nützten die Diskussion um eine Revision des amerikanisch-japanischen Zusammenarbeits- und Sicherheitsvertrags zur Lancierung entsprechender Vorschläge für Japan aus. Der Grund für den sowjetischen Wunsch nach einem neutralen Japan lag auf der Hand: Die dort stationierten amerikanischen Truppen hätten in diesem Fall das Land verlassen müssen, wodurch die aus sowjetischer Sicht von diesen Truppen ausgehende Bedrohung für den Fernen Osten der UdSSR nicht mehr länger bestanden hätte. Die Bestrebungen in Richtung einer «immerwährenden Neutralität» Japans hatten jedoch keinen Erfolg; die Amerikaner blieben in Japan militärisch präsent.
Zu Beginn der 1960er-Jahre verlagerte sich das Interesse der Sowjets vom traditionellen Konzept der «immerwährenden Neutralität» mehr und mehr auf die neue Bewegung der sogenannten «Blockfreien».313 Mit diesem Begriff wurden jene Länder bezeichnet, die keinem Militärblock angehörten, sich im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und auch in wirtschaftlicher Hinsicht einen «dritten Weg» einschlagen wollten. Da es sich dabei fast ausschliesslich um ehemalige Kolonien von kapitalistischen Mächten handelte, glaubten die Sowjets, die Stärkung und Vergrösserung der Blockfreienbewegung würde unweigerlich zur Schwächung des westlichen Lagers führen. Dies erstens dadurch, dass die