Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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und Rassendiskriminierung sowie die Forderung nach Abrüstung – betrieben, und drittens dadurch, dass die Blockfreien auf Kosten des Westens immer stärkeren Einfluss in der UNO gewannen. Angesichts dieser für das sozialistische Lager vorteilhaften Entwicklungen beurteilten die Sowjets das Konzept der Blockfreiheit, welches oft auch «positive Neutralität» oder «Neutralismus» genannt wurde, sehr positiv: «Staaten, welche eine Politik der Bündnisfreiheit verkünden oder den Status der Neutralität annehmen, lehnen es ab, in einen organisierten imperialistischen Militärblock einzutreten, ihr Territorium ausländischen Militärbasen zur Verfügung zu stellen; sie führen eine friedliebende Aussenpolitik. Dadurch erweitern diese Staaten, welche auf dem Weg der Neutralität gehen, die Zone des Friedens, welche Staaten umfasst, in denen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt.»314 Entsprechend dieser positiven Einschätzung versuchten die Sowjets, die Blockfreienbewegung zu fördern. Damit verbunden war nicht zuletzt die – auf der marxistisch-leninistischen Ideologie beruhende – Hoffnung beziehungsweise Überzeugung, dass die Blockfreiheit für die vom «Joch der Imperialisten» befreiten früheren Kolonien nur ein Zwischenstadium vor dem historisch unvermeidlichen Übergang zum Sozialismus darstellte.

      Nach dem Sturz Chruščevs änderte sich an der sowjetischen Einstellung zur Neutralität und zur Blockfreiheit vorerst nichts.316 Diese Konzepte wurden im Rahmen der Realisierung der Friedlichen Koexistenz weiterhin befürwortet: «Der moderne Neutralitätsbegriff richtet sich begrifflich gegen Kriegsvorbereitung und Krieg. Er verneint jede Politik der ‹Stärke› und des ‹kalten Kriegs› in den zwischenstaatlichen Beziehungen und ist ein wichtiges Instrument zur Sicherung der friedlichen Koexistenz von Staaten mit verschiedenen Staats- und Gesellschaftsordnungen.»317 Gegenwärtig finde die Neutralität ihren Ausdruck am häufigsten in der Blockfreiheit, «der einseitig erklärten Neutralitätspolitik, welche von einer beachtlichen Zahl von Staaten geführt wird.»318

      Ab Ende der 1960er-Jahre jedoch scheint die sowjetische Führung langsam das Interesse an der Instrumentalisierung der «immerwährenden Neutralität» und – vor allem – der Blockfreiheit zur Erreichung bestimmter aussenpolitischer Ziele verloren zu haben. Der Grund dafür dürfte die den Sowjets offenbar bewusst gewordene Tatsache gewesen sein, dass die Blockfreienbewegung auf der internationalen Ebene nicht jene einschneidenden Veränderungen zu Gunsten des Ostblocks bewirkte, welche unter Chruščev zu Beginn der 1960er-Jahre erwartet worden waren. Das sich abschwächende Interesse an der Neutralität hatte zur Folge, dass diesem Konzept in den sowjetischen Wörterbüchern immer weniger Platz eingeräumt wurde, ja dass es teilweise gar nicht mehr erwähnt wurde – ein an sich logischer Vorgang, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Neutralität etwas dem Marxismus-Leninismus eigentlich Fremdes war.

      Die Vertreter des Marxismus-Leninismus hielten die Einnahme einer neutralen Position in dem von ihnen als zentral angesehenen Kampf zwischen den Klassen grundsätzlich für unmöglich, das heisst, sie lehnten die Neutralität ab. Nach der Entstehung des Sowjetstaates stellten sie jedoch fest, dass das Konzept der Neutralität unter gewissen Umständen vorteilhaft sein konnte für dieses erste sozialistische Land. Wenn sich nämlich ein kapitalistischer Staat – in jede Richtung oder zumindest gegenüber der Sowjetunion – für neutral erklärte, dann bedeutete dies eine Schwächung der kapitalistischen Staatenwelt als Ganzes und damit eine Verringerung der von dieser vermeintlich ausgehenden Aggressionsgefahr. Die Sowjets versuchten in der Folge, diese «unneutralen» Auswirkungen von Neutralität zu ihren Gunsten auszunützen. So initiierten oder unterstützten sie immer wieder Bestrebungen zur «Neutralisierung» von Staaten, die dem westlich-kapitalistischen Lager angehörten. Die Förderung neutraler Haltungen im internationalen Kontext wurde zeitweise – wie Krieg und Frieden – zu einem wichtigen Mittel der sowjetischen Aussenpolitik. Allerdings konnte die Anwendung dieses Mittels der UdSSR jeweils bloss beschränkten Nutzen bringen: Sie konnte es ermöglichen, ein Territorium dem Einfluss des gegnerischen Lagers zu entziehen, nicht jedoch, dieses Territorium auf die Seite des Sozialismus zu bringen, was ja das eigentliche Ziel der Kommunisten war. Deshalb förderten die Sowjets die Neutralität nur dann, wenn sie sich in einer Position der Schwäche befanden und beispielsweise die Führung eines Kriegs keine Option für sie war.

      Die Marxisten-Leninisten hegten also niemals Sympathie für das Konzept der Neutralität als solches, sondern lediglich für die Vorteile, die der Sowjetunion beziehungsweise der kommunistischen Bewegung daraus erwachsen konnten. Falls eine Neutralität nicht zum Vorteil der UdSSR war – wie im Fall Ungarns 1956 – , dann lehnten sie diese ab.

TEIL II: Die Militärdoktrin der Sowjetunion
Hans Rudolf Fuhrer/Matthias Wild

      2.1 Einleitende Bemerkungen

      Auch in diesem zweiten Teil geht es darum, die Grundlagen für die Beantwortung unserer drei Leitfragen zu schaffen. Die verschiedenen Aspekte der Militärdoktrin der Sowjetunion und in gewissem Sinn auch des Warschauer Vertrags sind sehr vielfältig und können hier nur exemplarisch angesprochen werden.

      Vieles deutet darauf hin, dass es in unserer Zeitperiode 1945–1966 keine gemeinsame Militärdoktrin der Warschauer Vertragsstaaten in abgesegneter Papierform gegeben hat. Erst 1987 wurde eine «Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages» verabschiedet.

      Auch ein Dokument mit dem Titel «Militärdoktrin der UdSSR» ist bisher nicht gefunden worden. Für sicher kann jedoch gelten, dass die Grundsätze der sowjetischen Militärdoktrin für die Bündnispartner bei der Ausarbeitung nationaler Dokumente verbindlich waren. Dies bestätigt beispielsweise Armeegeneral Heinz Kessler, indem er 1968 – kurz nach dem Ende unserer Forschungsperiode – wortreich und nicht ohne systemübliches Lob für seine Vorgesetzten schreibt: «Bei der Herausarbeitung und Festlegung der Militärdoktrin der Deutschen Demokratischen Republik wurde vor allem von den Grundzügen der sowjetischen Militärdoktrin ausgegangen. Dabei liess sich unsere Partei- und Staatsführung davon leiten, dass die Sowjetunion als die stärkste und führende Macht im sozialistischen Lager mit ihren reichen militärischen Erfahrungen für die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik wertvolle Lehren vermittelt. Die Partei- und Staatsführung der DDR hat ausgehend von den spezifischen politischen und ökonomischen Bedingungen unserer Republik sowie ihrer militärgeographischen Lage die allgemeinen Erkenntnisse der sowjetischen Militärdoktrin schöpferisch verarbeitet und entsprechend der Politik unserer Partei und Regierung in den Leitsätzen der Militärdoktrin verankert. Es ist das historische Verdienst unserer Partei und ihres Ersten Sekretärs, Genossen Walter Ulbricht, dass sie in den jeweiligen Entwicklungsetappen schöpferisch die sowjetischen Erfahrungen auf die Belange und die Besonderheiten der Deutschen Demokratischen Republik anwandte.»1

      Der Begriff «Militärdoktrin» wird im Nato-Gebrauch meist als Synonym für «Militärstrategie» verwendet.2 In der Sowjetunion haben die beiden Begriffe einen Eigenwert. Die «Militärstrategie»3 bildet nach sowjetischer Terminologie zusammen mit der operativen Kunst und der Taktik die «Kriegskunst», die wiederum als führende Disziplin der Militärwissenschaften gilt.4 Die «Militärstrategie» ist also eine Anwendungslehre der höchsten Stufe und beschäftigt sich – ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen der «Militärdoktrin» – mit den konkreten militärischen Gesichtspunkten zur Durchführung eines Kriegs.5

      Nach der Definition im Militärlexikon der DDR ist die «Militärdoktrin» «die von der politischen Führung offiziell festgelegte und für das gesellschaftliche Handeln verbindliche prinzipielle Auffassung über den Charakter, die Vorbereitung und Führung möglicher Kriege. Sie umfasst grundlegende Weisungen über die Mittel und Methoden zur Lösung der dem Staat [und ebenfalls der Koalition,


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