Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
die Vorbereitung des militärischen, moralischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Potentials, auf die unter den jeweiligen Bedingungen möglichen Kriege.»6 Sie ist also – wie die Militärenzyklopädie definiert – «ein System richtungweisender Prinzipien und wissenschaftlich begründeter Ansichten der KPdSU und der Sowjetregierung über Wesen, Charakter und Methoden der Führung eines Kriegs, der der Sowjetunion durch die Imperialisten aufgezwungen werden könnte, wie auch über den militärischen Aufbau sowie über die Vorbereitung der Streitkräfte und des Landes auf die Zerschlagung des Aggressors».7 Die sowjetische Militärdoktrin ist somit Grundlage der staatlichen Verteidigungspolitik und ist der «Militärstrategie» übergeordnet.8
Wir können zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen ist es die politisch-moralische Ebene. Sie ergibt sich unmittelbar aus den Grundsätzen der kommunistischen Ideologie, insbesondere die Parameter zur Ausübung von bewaffneter Gewalt für politische Ziele. Sie zeigt Wege auf zur Erreichung der strategischen Ziele sowie Aufgaben der geistigen und ideologischen Vorbereitung von Volk und Armee.
Zum anderen ist es die militärisch-technische Ebene, welche die Szenarien möglicher Kriege, ihre operativ-taktischen Besonderheiten und die daraus resultierenden qualitativen und quantitativen Anforderungen an die eigenen Streitkräfte festlegt. Sie definiert auch die Prioritäten der Rüstungspolitik.
Beide Seiten der Militärdoktrin bilden eine untrennbare Einheit und sind infolge der gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung ständigen Veränderungen unterworfen. Die politische Dimension wurde dabei als die führende angesehen.9
Das folgende Kapitel beantwortet insbesondere die folgenden Fragen:
– Von wem geht eine militärische Bedrohung aus?
– Welches sind die möglichen Angriffsarten des Gegners?
– Welchen Charakter wird ein künftiger Krieg voraussichtlich aufweisen?
– Woraus bestehen die strategischen Ziele in einem künftigen Krieg?
– Welche Aufgaben werden den Streitkräften gestellt?
– Welche Mittel und Methoden kommen zur Anwendung?
– Wer gilt als direkter oder indirekter militärischer Verbündeter?
2.2 Die «Stalin-Phase» (1945–1953)
Die Anstrengungen der vier Kriegsjahre hatten die Sowjetunion ausserordentlich geschwächt. Schätzungen gehen dahin, dass bis zu 13 Millionen Soldaten der Roten Armee ihr Leben verloren haben. Die Armeegenerale Kvašnin (Generalstabschef) und Gareev (Präsident der Akademie der Militärwissenschaften der Russischen Föderation) sprechen von 8,6 Millionen «unwiederbringlichen Verlusten» der Roten Armee und 7,2 Millionen in der Wehrmacht und bei ihren Verbündeten.10 Wahrscheinlich mindestens so hoch waren die Verluste in der Zivilbevölkerung. Rund 35 Millionen Frauen und Männer wurden eingezogen und die Wirtschaft über alle Massen beansprucht. 1710 Städte, mehr als 70 000 Dörfer, über 30 000 Industrie- und rund 100 000 Landwirtschaftsbetriebe wurden zerstört oder schwer beschädigt. Die seit der Gründung der Roten Armee im Frühjahr 1918 gültige Militärdoktrin der offensiven Abwehr – sie wird Michail Frunze zugeschrieben – war misslungen. Die Rote Armee musste sich zwei Jahre lang auf eigenem Territorium verteidigen, bis sie ab der zweiten Jahreshälfte 1943 in die Gegenoffensive übergehen konnte. Nur der totale Einsatz aller personellen und materiellen Ressourcen sowie die Zusammenarbeit mit den anglo-amerikanischen Streitkräften machten den Sieg über die Deutsche Wehrmacht und ihre Verbündeten möglich. Diese bittere Lage forderte nun eine Konsolidierung. Die Schaffung eigener Sicherheit sowie der Wiederaufbau des Landes standen im Vordergrund.
2.2.1 Annahmen bezüglich des Gegners in einem zukünftigen Krieg11
Stalin erklärte in der Nachkriegszeit stets, die Sowjetunion werde von sich aus keinen Krieg beginnen. Als Aggressor in einem zukünftigen Krieg kam für ihn – zumindest offiziell – nur eine kapitalistische Macht in Frage. Wie in Teil 1 ausgeführt, konnte er sich dabei auf die von der marxistisch-leninistischen Ideologie behauptete «aggressive Natur» der kapitalistischen Staaten berufen. Stalin hegte ausserdem die Vorstellung, dass diese imperialistische Allianz die UdSSR vernichten wolle. Das Bild dieser vermeintlichen Verschwörung zur skrupellosen Durchsetzung der kapitalistischen Klasseninteressen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln war tief in der kommunistischen Vorstellung verankert und lässt sich auch aus den historischen Erfahrungen des Zarenreiches und der Sowjetunion herleiten. Es war bittere Erlebniswelt.
Die grösste Bedrohung für die Sowjetunion sah Stalin unmittelbar nach Kriegsende nicht in der allfälligen Bildung einer antisowjetischen anglo-amerikanischen Koalition, sondern in der Wiederentstehung eines mächtigen Deutschland. Der Grund für diese Lagebeurteilung war das Trauma, welches der deutsche Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 verursacht hatte. Um der potentiellen Gefahr eines zukünftigen deutschen Revanchekriegs zu begegnen, beschloss Stalin verschiedene Massnahmen:
Erstens sollte ein militärisches Wiedererstarken Deutschlands verhindert werden. Zu diesem Zweck strebte Stalin die Verkleinerung des deutschen Staatsgebietes und die Aufteilung des reduzierten Landes in Besetzungszonen, die vollständige Entmilitarisierung Deutschlands – verbunden mit dem Verbot der Produktion von Kriegsgütern – sowie die Auferlegung von Strafreparationsleistungen an.
Zweitens sollten die Grenzen der UdSSR besser geschützt werden. Dies wollte Stalin durch die Errichtung eines «cordon sanitaire» in Ost- und Mitteleuropa erreichen.
Und drittens sollte die Sowjetunion militärisch auf einen Stand gebracht werden, welcher die Abwehr jeder künftig denkbaren deutschen Aggression ermöglichte.
Allerdings mehrten sich bald die Anzeichen, dass der UdSSR eher von Seiten der westlichen Alliierten eine Gefahr drohte. Sowjetische Analytiker hatten kurz nach Kriegsende in Grossbritannien und den USA zwei miteinander konkurrierende aussenpolitische Richtungen ausgemacht – zum einen den Kurs Franklin D. Roosevelts, welcher auf die Integration der Sowjetunion in die Völkergemeinschaft abziele und auf Zusammenarbeit mit ihr setze, zum anderen den Kurs John F. Dulles’ und Winston S. Churchills, welche die Ausgrenzung der UdSSR anstrebten und auf Konfrontation mit ihr drängten. Ab Frühling 1946 nach einem scharfen Kurswechsel im amerikanischen Verhandlungsstil war der sowjetischen Führung klar, dass die antisowjetische Richtung im Westen die Oberhand gewonnen hatte. Churchills Rede am 5. März 1946 in Fulton,12 in welcher der ehemalige britische Premierminister nicht nur vom «Eisernen Vorhang» sprach, der Europa geteilt habe, sondern auch von einem unverhohlenen sowjetischen Expansionismus, führte bei der Sowjetführung zu grosser Irritation. Im Gegenzug weckte eine immer wieder als möglich erklärte Eingliederung ganz Deutschlands in den sowjetischen Macht- und Einflussbereich im Westen starke Abwehrreaktionen und förderte die Bildung der Bundesrepublik.13 Als Gegenstrategie zur angeblichen Gefahr einer sowjetischen Hegemonie in Deutschland kultivierte man in Moskau die These von aggressiven Plänen des Westens und der Gefahr eines neuen Weltkriegs.
Die Sowjetunion ging von einer Position der Stärke aus, die sich in einem Referat im September 1947, gehalten im polnischen Riesengebirge anlässlich einer internationalen Beratung, von Andrej Aleksandrovič Ždanov, dem Leiter des neu gegründeten Kominform,14 manifestierte: «Es muss immer im Auge behalten werden, dass zwischen dem Wunsch der Imperialisten, einen neuen Krieg zu provozieren, und der Möglichkeit, ihn zu organisieren, ein enormer Abstand besteht. Die Völker der Welt wollen keinen Krieg. Die Mächte, die den Frieden verteidigen, sind so gross, so einflussreich, dass die Pläne der Angreifer einen völligen Fehlschlag erleiden werden, wenn diese Mächte bei der Verteidigung des Friedens unerschütterlich bleiben und Entschlossenheit und Ausdauer zeigen.»15
Nach dem Beginn der Umsetzung des Marshall-Plans, durch welchen die vom amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman verfolgte Politik der Eindämmung («containment») des Kommunismus auch auf wirtschaftlicher Ebene konkretisiert wurde, kam Stalin zum Schluss, dass eine Situation entstanden sei, die keine Kooperation mehr zulasse. Diese bestand für ihn darin, dass sich nun zwei im Innern homogene, aber diametral unterschiedliche Strategien verfolgende Länderblöcke