Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
machten die systematische Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» in der Sowjetunion überhaupt möglich, wobei dieser immer durch Anführungszeichen als fremder Sprachgebrauch markiert blieb. «Kalter Krieg» bezeichnete im sowjetischen Verständnis bis in die 1980er-Jahre stets eine aggressive Politik der kapitalistischen gegen die sozialistischen Staaten. Innerhalb dieses unverrückbaren Rahmens ist jedoch ein historischer Wandel feststellbar. Die sowjetische Definition des «Kalten Kriegs» versachlichte sich: Das dem Feind zugeschriebene Instrumentarium wurde im Lauf der Zeit immer raffinierter, dessen angebliche Absichten entfernten sich in den 1960er-Jahren immer weiter vom Ziel, einen neuen Weltkrieg zu entfachen. Dies sollte schliesslich so weit gehen, dass die sowjetische Seite den «Kalten Krieg» nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki vorübergehend als Phänomen der Vergangenheit betrachtete.
Der Vollständigkeit halber sei abschliessend darauf hingewiesen, dass sich mit dem Ende des Sowjetsystems in den Staaten des ehemaligen Ostblocks die Definition und die Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» radikal veränderten. Es erfolgte der Schritt auf eine höhere Abstraktionsstufe. Seither wird der «Kalte Krieg» mehrheitlich nicht mehr als antisowjetische Politik des Westens verstanden, sondern – wie im Westen – als historische Epoche, in der das System der internationalen Beziehungen durch eine Bipolarität gekennzeichnet war.
1.4 Die marxistisch-leninistischen Ansichten bezüglich Neutralität
1.4.1 Marx’, Engels’ und Lenins Neutralitätsverständnis
Die Väter des Marxismus-Leninismus sahen für das Konzept der Neutralität in ihrer Ideologie keinen Platz.300 Ihrer Auffassung nach konnte im unausweichlichen Kampf zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen keine neutrale Position eingenommen werden; alle Menschen mussten entweder die eine oder die andere Seite unterstützen. Wenn jemand im Klassenkampf zwischen «Proletariat» und «Bourgeoisie» nicht auf der Seite des «Proletariats» stand, dann half er in Marx’, Engels’ und Lenins Augen automatisch dem Klassenfeind. Mit anderen Worten, es galt das Motto: «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.» Lenin brachte diese Überzeugung im November 1917 wie folgt gegenüber dem russischen Eisenbahnerverband, der sich nach der Oktoberrevolution für neutral erklärt hatte, zum Ausdruck: «Wenn man in Tagen des revolutionären Kampfes, wo jede Minute kostbar ist, wo Nichtübereinstimmung, Neutralität dem Feind die Möglichkeit gibt, das Wort zu ergreifen und sich Gehör zu verschaffen, nicht dem Volke in seinem Kampfe für seine heiligsten Rechte zu Hilfe eilt, so kann ich eine solche Haltung auf keinen Fall als Neutralität bezeichnen. Das ist nicht Neutralität, ein Revolutionär wird das als Aufwiegelung bezeichnen. (Beifall) Mit einer solchen Haltung hetzt ihr die Generale zur Aktion auf. Unterstützt ihr uns nicht, so seid ihr gegen das Volk.»301
Abb. 15: Die Schweizer Neutralität aus sowjetischer Sicht: eine Milchkuh des Hitlerregimes. Karikatur der «Tass» Nr. 1128, wahrscheinlich 1944/45. (NZZ, 18.3.1996, Nr. 65)
Mit der gleichen Argumentation wandte sich Lenin gegen die Neutralität von Staaten: Als während des Ersten Weltkriegs die Mehrheit der Schweizer Sozialdemokraten die Meinung vertrat, die schweizerische Neutralität müsse mit bewaffneten Mitteln verteidigt werden, wurde dies von Lenin massiv kritisiert. Er erklärte, eine militärische Besetzung der Landesgrenzen erhöhe bloss die Gefahr, dass die Schweizer Bourgeoisie die eigenen Leute an diese oder jene imperialistische Mächtekoalition verkaufe. Wer als Sozialist nicht vor dieser Gefahr warne, werde zu einem «Diener und Agenten der Bourgeoisie».302 Lenin forderte deshalb die «Aufklärung der Massen über die Tatsache […], dass die sogenannte ‹Neutralität› bürgerlicher Betrug oder Heuchelei ist, dass sie faktisch passive Unterwerfung unter die Bourgeoisie und passive Unterstützung ihrer besonders schändlichen Unternehmungen, wie z. B. des imperialistischen Kriegs, bedeutet.»303
1.4.2 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses an die Bedürfnisse des Sowjetstaates durch Lenin
Nachdem Lenin in Russland die Macht übernommen hatte, sah er sich durch zwei Umstände und eine Erkenntnis zu einer Abkehr von seiner bisherigen strikten Ablehnung der Neutralität veranlasst.304 Die beiden Umstände bestanden zum einen aus der Tatsache, dass das militärische Potential des jungen Sowjetstaats bedeutend geringer war als jenes der kapitalistischen Staaten, und zum anderen aus der sich aus der marxistisch-leninistischen Ideologie ergebenden These, dass die kapitalistischen Staaten sich früher oder später zusammenschliessen würden in der Absicht, den einzigen kommunistischen Staat der Welt zu zerstören. In dieser Situation erkannte Lenin, dass das Konzept der Neutralität vorübergehend von Vorteil sein konnte für den Sowjetstaat – nämlich dann, wenn es gelang, kapitalistische Staaten zu «neutralisieren» und so von der Teilnahme an einer antisowjetischen Angriffskoalition abzuhalten.
Entsprechend dieser Neueinschätzung unterstützte die sowjetische Führung 1920 die Bestrebungen Estlands und Litauens zur Erlangung des Status der «immerwährenden Neutralität». «Immerwährend neutral» zu sein, bedeutete aus Sicht der Sowjets ebenso wie in den kapitalistischen Ländern, dass ein Staat sich in Kriegszeiten nicht an den Kriegshandlungen beteiligte und zusätzlich in Zeiten des Friedens keinerlei Aktionen unternahm oder zuliess, welche ihn im Fall eines Kriegs in den Konflikt hineingezogen hätten. Letzteres hiess konkret, dass dieser Staat sich keinem Militärbündnis anschliessen und sein Territorium weder als Basis für fremde Truppen noch als Aufbewahrungsort für ausländische Waffen und Ausrüstung zur Verfügung stellen durfte. Wären diese Einschränkungen für Estland und Litauen in Kraft getreten, dann wären in einer Region, von der aus wichtige sowjetische Städte wie Leningrad und Smolensk leicht angegriffen werden konnten, zwei «neutralisierte» Pufferzonen entstanden – und dementsprechend hätten sich die Sowjets deutlich weniger bedroht fühlen müssen. Noch vorteilhafter wäre die Lage für die Sowjetunion natürlich gewesen, wenn sich auch der dritte baltische Staat, Lettland, für «immerwährend neutral» erklärt hätte. Lettland interessierte sich jedoch nicht für diesen Status. Letztlich wurde übrigens keiner der baltischen Staaten «immerwährend neutral», da die Westmächte aus strategischen Gründen nicht bereit waren, diesem Schritt zuzustimmen.
1.4.3 Die Entwicklung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses während der Stalin-Zeit
Die Bemühungen der Sowjetunion, die Wirkung von Neutralität zu ihren Gunsten auszunützen, wurden während der Herrschaft Stalins fortgesetzt:305 In den 1920er- und 1930er-Jahren, als die Sowjetunion militärisch weiterhin relativ schwach und die Furcht vor einem kapitalistischen Angriff deshalb noch immer gross war, zielten die diplomatischen Aktivitäten der sowjetischen Führung in erster Linie darauf ab, so viele Staaten wie möglich – und speziell all jene, die eine gemeinsame Grenze mit der UdSSR hatten – zur Unterzeichnung von Nichtangriffs- und Neutralitätsverträgen mit ihr zu bewegen. Den Sowjets ging es dabei hauptsächlich darum, von potentiell feindlichen Ländern die Zusicherung zu erhalten, dass diese keiner politischen oder militärischen Allianz beitraten, welche gegen die Sowjetunion gerichtet war, und sich auch nicht an einem Finanz- oder Handelsboykott gegen die UdSSR beteiligten. Mit anderen Worten: Die Sowjets versuchten möglichst viele Staaten dazu zu bringen, sich gegenüber der Sowjetunion im Sinn der «immerwährenden Neutralität» zu verhalten. Die hinter diesem Vorgehen stehende Absicht war, eine Art «Vorwarnsystem» aufzubauen, welches es der sowjetischen Führung ermöglichte, frühzeitig Massnahmen gegen eine feindliche Aggression zu ergreifen: Hätte beispielsweise ein an die UdSSR angrenzendes Land durch den Beitritt zu einem antisowjetischen Militärbündnis das Neutralitätsabkommen verletzt, so hätte dies der Sowjetunion noch nicht unmittelbar geschadet, da ja nicht mit einem sofortigen Angriff dieses Bündnisses zu rechnen gewesen wäre. Vielmehr konnte davon ausgegangen werden, dass zwischen dem Abschluss des Bündnisvertrags und dem Beginn einer Invasion in die Sowjetunion Wochen, vielleicht sogar Monate vergingen. Diese «Vorlaufzeit» hätte die sowjetische Führung aber nützen können, um Gegenmassnahmen durchzuführen: Sie hätte zum Beispiel das