Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
von den momentanen politischen Zielen der sowjetischen Führung. Die ursprüngliche marxistisch-leninistische Haltung zum Thema Vermeidbarkeit von Kriegen war die, dass, solange der Kapitalismus – der als Klassengesellschaft ja von Natur aus kriegerisch-aggressiv sei – bestehe, Kriege grundsätzlich unvermeidlich seien. Diese Aussage wurde nach der Entstehung des Sowjetstaats jedoch relativiert: In den 1930er-Jahren liess Stalin im Rahmen seiner auf die Verhinderung einer deutschen oder japanischen Aggression gegen die Sowjetunion abzielenden Friedenspropaganda die These von der Vermeidbarkeit von Kriegen verkünden. In erster Linie waren damit natürlich die Kriege zwischen der kapitalistischen Welt und der UdSSR gemeint, doch wurden auch die innerkapitalistischen Kriege nicht explizit davon ausgenommen. Nach einer durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten teilweisen Rückkehr zur Auffassung, dass Kriege bei Fortbestehen des Kapitalismus unvermeidlich seien, folgte zu Beginn und dann vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre eine neuerliche Betonung der Vermeidbarkeit von Kriegen: Im Kontext der Doktrin der Friedlichen Koexistenz erklärte Chruščev ab 1956, dank den stark gestiegenen Einflussmöglichkeiten des «sozialistischen Lagers» in der Welt könnten nun sämtliche «imperialistischen Kriege» verhindert, wenn auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Als unvermeidbar stellte Chruščev – ebenso wie nach ihm Brežnev – nur noch die «nationalen Befreiungskriege» hin.
Bezüglich der gänzlichen Beseitigung des Phänomens «Krieg» galt lange Zeit der Grundsatz, dass diese möglich sei, jedoch erst dann, wenn der Gegensatz zwischen unterdrückenden und unterdrückten Klassen überall aufgehoben worden sei, sprich: nach der Errichtung des Kommunismus auf der ganzen Welt. Erst dann nämlich sei die für die Entstehung von Kriegen verantwortliche Ursache endgültig beseitigt. Unter Chruščev wurde diese These – im Zusammenhang mit der Behauptung vom rasanten Aufstieg des «sozialistischen Weltsystems» – abgeändert. Von nun an hiess es offiziell, der Krieg werde bereits dann gänzlich «aus dem Leben der Völker verschwinden», wenn sich der Sozialismus im grösseren Teil der Welt durchgesetzt habe, also schon vor dem völligen und endgültigen Verschwinden des Kapitalismus in der ganzen Welt.
1.3.2 Die Ansichten bezüglich Frieden
Bedingt durch die Geschichtsphilosophie des Marxismus-Leninismus gilt in dieser Ideologie der Grundsatz, dass Inhalt und Charakter eines Friedenszustandes immer der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation entsprechen.268 So wird ein dauerhafter, «echter» Frieden in der Klassengesellschaft für unmöglich gehalten. Der materielle Interessengegensatz zwischen der «Ausbeuterklasse» und der «ausgebeuteten Klasse» sei nämlich unversöhnlich und führe zwangsläufig immer wieder zu Konflikten. In der Klassengesellschaft sei Frieden somit stets nur «ein Zustand des Nichtkriegs, eine Pause zwischen den Kriegen, in der die herrschenden Klassen beziehungsweise Klassenfraktionen neue Kriege vorbereiten und versuchen, andere Staaten und Völker mit nichtkriegerischen Mitteln zu unterwerfen».269 Ein «echter», «ewiger» Frieden sei nur in einer Gesellschaft möglich, in der es keine «Ausbeuterklasse» gebe. In dieser klassenlosen Gesellschaft sei Frieden dann nicht bloss möglich, sondern geradezu unvermeidbar: «Er ist die notwendige Folge des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und der dementsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse und inneren Gesetzmässigkeiten der sozialistisch-kommunistischen Produktionsweise.»270
Die Erkenntnis, dass nur in der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus «echter» Frieden möglich sei, erklärt, warum für Marxisten-Leninisten das Herstellen von Frieden als Zustand nie ein eigenständiges Ziel bildete. Sie nannten dieses immer nur im Zusammenhang mit der Errichtung des Kommunismus: Für Lenin bedeutete Frieden einfach die Erreichung und Umsetzung der eigenen, kommunistischen Ziele. Die Forderung nach Frieden sei inhalt- und sinnlos, wenn damit nicht die Forderung nach einer sozialistischen Revolution verbunden sei.271 Auch für Stalin war Frieden kein eigentliches Thema. Er erklärte, dass Frieden dann herrschen werde, wenn der Kapitalismus überwunden und der Kommunismus errichtet sei: «Erst im Reiche des Sozialismus kann völliger Friede hergestellt werden.»272 Diese Auffassung, in welcher der Begriff des Friedens mit jenem des Kommunismus zusammenfiel, vertraten ebenso Chruščev und Brežnev: Das unter ihnen gültige Konzept der Friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Kommunismus hielt vollständig am grundlegenden marxistisch-leninistischen Ziel der proletarischen Weltrevolution fest und ebenso an der Idee, dass erst diese Revolution den «echten» Frieden mit sich bringe.273
Die marxistisch-leninistische Einstellung zum Frieden in einer Klassengesellschaft beziehungsweise in einer Welt mit kapitalistischen Staaten ist eng mit der Einstellung zum Krieg verbunden.274 Wie Krieg wird im Marxismus-Leninismus nämlich auch Frieden in Clausewitz’schem Sinn als ein Instrument zur Durchsetzung einer bestimmten Politik gesehen: «Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik, die die herrschenden Klassen der kriegführenden Staaten lange vor dem Krieg getrieben haben, mit Mitteln der Gewalt. Der Friede ist die Fortsetzung der gleichen Politik, unter Berücksichtigung jener Veränderungen im Kräfteverhältnis der Gegner, die durch die Kriegshandlungen eingetreten sind.»275 Mit anderen Worten: Ob Krieg oder Frieden herrscht, hänge davon ab, welche der beiden Möglichkeiten von einem Staat oder einer Bevölkerungsgruppe in der jeweiligen Situation als das zweckmässigste Instrument zur Erreichung der eigenen Ziele angesehen werde.
Aus marxistisch-leninistischer Perspektive ist Frieden somit grundsätzlich weder ein positiver noch ein negativer, sondern ein wertneutraler Zustand. Frieden ist zwar das Gegenteil von Krieg, aber nicht a priori «besser» als Krieg.276
Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass das marxistisch-leninistische Verständnis von Frieden mit jenem des Pazifismus nicht übereinstimmt. Die Vertreter des Marxismus-Leninismus nahmen gegenüber der pazifistischen Bewegung denn auch stets eine klar ablehnende Haltung ein:
Lenin machte deutlich, dass ein «Friede ohne weiteres»,277 wie ihn die Pazifisten anstreben, keinen Sinn mache: «Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse. […] Eine Friedenspropaganda, die nicht begleitet ist von der Aufrufung der Massen zu revolutionären Aktionen, kann in der gegenwärtigen Zeit nur Illusionen erwecken, das Proletariat dadurch demoralisieren, dass man ihm Vertrauen in die Humanität der Bourgeoisie einflösst, und es zu einem Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie der kriegführenden Länder machen. Insbesondere ist der Gedanke grundfalsch, dass ein sogenannter demokratischer Frieden ohne eine Reihe von Revolutionen möglich sei.»278 Wer «einen dauerhaften und demokratischen Frieden» wolle, der müsse «für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein».279 Dementsprechend forderte Lenin: «Es gilt zu wählen: Für den Sozialismus oder für die Unterwerfung unter die Gesetze der Herren Joffre und Hindenburg, für den revolutionären Kampf oder Liebedienerei vor dem Imperialismus. Einen Mittelweg gibt es hier nicht.»280
Stalins Urteil über den Pazifismus war ebenfalls unmissverständlich: «Manch einer glaubt, der imperialistische Pazifismus sei ein Instrument des Friedens. Das ist grundfalsch. Der imperialistische Pazifismus ist ein Instrument der Kriegsvorbereitung, er dient zur Bemäntelung dieser Vorbereitung mittels pharisäischer Friedensphrasen.»281
An der grundsätzlichen Ablehnung des Pazifismus änderte auch die Einführung des Prinzips der Friedlichen Koexistenz Ende der 1950er-Jahre nichts, denn Chruščev sowie anschliessend Brežnev unterschieden das Konzept der Friedlichen Koexistenz deutlich vom Pazifismus: Der Pazifismus betrachte «das Problem Krieg oder Frieden» fälschlicherweise nicht von dessen «Wesen», das heisst von dessen «sozialökonomischen Wurzeln», sondern bloss «von der Erscheinung» her.282 Er lehne deshalb nicht nur «lokale und Weltkriege», sondern – zu Unrecht – auch «nationale Befreiungskriege und revolutionäre Volksaufstände» ab: «Die Pazifisten […] negieren völlig, dass die Gewalt auch eine progressive Rolle spielen kann, und wenden sich gegen alle, also auch gegen gerechte und revolutionäre Kriege.»283
Insgesamt wurde der Pazifismus als «bourgeoise» beziehungsweise «kleinbürgerliche ideenpolitische Richtung und sozialpolitische Bewegung» bezeichnet, «welche den konkreten historischen Zugang zu den Kriegen und zur Verteidigung verkennt».284 Der Pazifismus übersehe, dass Kriege ohne Beseitigung ihrer Quelle, das heisst