Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
erstaunen, waren doch im Verlauf der 1950er-Jahre durch das Aufkommen nuklearer und thermonuklearer Waffen sowie von Hochgeschwindigkeits- und Langstrecken-Trägermitteln (Düsenflugzeuge und Raketen) die Möglichkeit und die Wirkung von Überraschungsangriffen objektiv gesehen deutlich grösser geworden. Tatsächlich anerkannten nun – im Unterschied zur Stalin-Zeit – auch die Sowjets die gestiegene Bedeutung des Faktors «Überraschung» in modernen Kriegen. Sie räumten sogar ein, dass ein Überraschungsangriff mit strategischen Nuklearwaffen unter gewissen Umständen – wenn der angegriffene Staat klein oder schlecht vorbereitet war – den Zusammenbruch des attackierten Staates verursachen konnte. In einem Krieg zwischen gut vorbereiteten und wachsamen Weltmächten jedoch war dies ihrer Meinung nach nicht möglich: Der Umfang der Streitkräfte und die voraussichtliche territoriale Ausdehnung der Kriegshandlungen wären zu gross, als dass der Einsatz von strategischen Nuklearwaffen zu einem direkten und raschen Ende des Kriegs führen könnte.
Im Januar 1960 gab Chruščev eine Änderung der in der Sowjetunion geltenden Haltung bezüglich der kriegsentscheidenden Faktoren bekannt:210 «Heutzutage wird die Verteidigungsfähigkeit des Landes nicht dadurch bestimmt, wie viele Soldaten wir unter den Waffen halten, wie viele Menschen die Uniform tragen. Wenn man von den allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Faktoren absieht […], so hängt die Verteidigungsfähigkeit des Landes in entscheidendem Mass davon ab, welche Feuerkraft und welche Zustellungsmittel diesem Land zur Verfügung stehen.»211 Mit anderen Worten: Die entscheidende Rolle in einem zukünftigen Krieg würden nun die Nuklearwaffen und die Raketen spielen. Wenn diese Kriegsmittel in Form von strategischen Nuklearschlägen gegen militärische, wirtschaftliche und politische Objekte auf dem Territorium des Gegners am Anfang eines Kriegs zum Einsatz gelangten, seien die langfristig wirkenden Faktoren – insbesondere das wirtschaftliche Gesamtpotential eines kriegführenden Staates – nicht mehr länger von ausschlaggebender Wichtigkeit.
Dass die Schläge der strategischen Raketen- und Kernwaffenkräfte kriegsentscheidend waren, bedeutete gemäss Chruščev nicht, dass automatisch jene Seite den Krieg gewann, welche als Erste und überraschend solche Schläge ausführte. Er behauptete, es sei sehr wohl möglich, dass der Sieg an den angegriffenen Staat gehe, vorausgesetzt, dieser verfüge über ein genügend grosses Territorium und habe sich in Friedenszeiten ausreichend darauf vorbereitet, den gegnerischen Nuklearschlag auszuhalten sowie umgehend selbst noch heftiger zurückzuschlagen. Chruščev zeigte sich überzeugt, dass die Sowjetunion diese Voraussetzungen erfüllte: «Das Territorium unseres Landes ist riesengross, wir haben die Möglichkeit, die Raketentechnik zu streuen und sie gut zu tarnen. Wir schaffen ein solches System, dass man immer, wenn die einen für den Gegenschlag bestimmten Mittel ausser Gefecht geraten sind, die zweite Garnitur einsetzen und die Ziele von Ersatzstellungen aus treffen kann.»212 Der Faktor «Überraschung» – so wichtig er nun, im Zeitalter von Nuklearraketen, sein konnte – war nach Ansicht Chruščevs somit weiterhin nicht notwendigerweise von entscheidender Bedeutung für den Ausgang eines Kriegs. Dieses Herunterspielen der Rolle des Überraschungsmoments erscheint angesichts des den strategischen Nuklearraketen zugeschriebenen Zerstörungspotentials sowie angesichts der zu Beginn der 1960er-Jahre de facto gar nicht vorhandenen sowjetischen Zweitschlagskapazität fragwürdig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Chruščev sich dessen durchaus bewusst war. Einige Autoren vermuten jedenfalls, dass er in Wirklichkeit dem Überraschungsfaktor nun sehr wohl entscheidende Wichtigkeit beimass, dass es ihm aber zu gefährlich erschien, dies offiziell zuzugeben. Ein solcher Schritt hätte nämlich – gegen aussen – die Abschreckungswirkung der UdSSR geschwächt und – im Innern – die Moral von Bevölkerung und Armee untergraben.213
Was war der Grund dafür, dass Chruščev im Jahr 1960 plötzlich die qualitative und quantitative Stärke des Arsenals an atomaren Raketen eines Landes als den kriegsentscheidenden Faktor bezeichnete? Er selbst begründete diesen Schritt mit den waffentechnischen Veränderungen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre: Die Entwicklung und Einführung von Atom- und Wasserstoffwaffen sowie vor allem von ballistischen Trägerraketen sowohl im Westen wie im Osten habe aufgrund der ungeheuren Zerstörungskraft dieser neuen Kriegsmittel zu einem grundlegenden Wandel des Charakters des modernen Kriegs geführt und habe somit die bisherigen Annahmen bezüglich der kriegsentscheidenden Faktoren obsolet werden lassen. Dieser Erklärung folgte unter anderem die Feststellung, dass die nukleare und thermonukleare Feuerkraft eine Verkleinerung der Streitkräfte ermögliche, «durch deren Verwirklichung ein bedeutender Teil der Soldaten und Offiziere zur Arbeit in den Betrieben, auf den Baustellen, in den Kolchosen, in den wissenschaftlichen Institutionen und Lehranstalten»214 zurückkehren könne. Damit wies Chruščev auf ein wirtschaftliches Motiv für seine Hervorhebung der Nuklear- und Raketenwaffen hin: die Revitalisierung der zivilen Wirtschaft durch Arbeitskräfte, die bis anhin in den konventionellen Streitkräften gebunden gewesen waren. Mit dem Bekenntnis zum Primat der strategischen Raketentruppen und der damit verbundenen Absicht, die übrigen Streitkräfte zu verringern, dürfte Chruščev auch noch andere Zwecke verfolgt haben: Einmal ging es ihm wohl darum, ein Ansteigen der Militärausgaben zu verhindern; dann wollte beziehungsweise musste er wahrscheinlich der demographischen Entwicklung in der Sowjetunion – die Anzahl der für die Armee zur Verfügung stehenden Männer ging zu Beginn der 1960er-Jahre stark zurück – Rechnung tragen; und schliesslich könnte er – durch die Zurückstufung des Offizierskorps der traditionellen Waffengattungen – auch einen machtpolitischen Gewinn angestrebt haben.
Chruščevs einseitige Betonung der Bedeutung von Kern- und Raketenwaffen stiess bei den meisten sowjetischen Militärs auf Ablehnung. Sie waren weiterhin der Meinung, dass auch in einem Nuklearkrieg grosse Truppenmassen und konventionelle Waffen nötig und zumindest mitentscheidend seien. Der Widerstand der Militärs führte 1961 zu einer teilweisen Modifizierung der von Chruščev im Jahr zuvor gemachten Aussagen. Verteidigungsminister Malinovskij ergänzte den zentralen Leitsatz, dass die entscheidende Funktion in einem künftigen Krieg den strategischen Nuklearraketen zukomme, um die Anmerkungen, der endgültige Sieg über den Gegner könne nur durch gemeinsame Operationen aller Waffengattungen erreicht werden und es würden mehrere Millionen Mann starke Armeen benötigt. Diese Kompromissformel stellte nun die offizielle sowjetische Auffassung dar und wurde dementsprechend auch im 1962 erstmals erschienenen Standardwerk «Militär-Strategie» verwendet. Die in der «Militär-Strategie» bezüglich der kriegsentscheidenden Faktoren gemachten Ausführungen waren allerdings zum Teil widersprüchlich oder zumindest ambivalent,215 was darauf hindeutet, dass dieses Thema keineswegs abschliessend geregelt war und nach wie vor unterschiedliche Standpunkte dazu bestanden.
(9) Das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs wurde Chruščevs Ansicht nach durch die politischen Ziele der Kriegsparteien bestimmt – so wie es Lenin auf der Grundlage von Clausewitz postuliert hatte.216 In Bezug auf den Krieg zwischen zwei antagonistischen Klassen galt unter Chruščev weiterhin der Leitsatz, das Ziel jeder der beiden Klassen bestehe nicht nur in der Besiegung des Gegners, sondern in dessen Vernichtung. Ein solcher Krieg stelle für beide Seiten also einen Kampf um die eigene Existenz dar, und dementsprechend würden sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um den Krieg zu gewinnen beziehungsweise um ihren Untergang zu verhindern. Mit anderen Worten: Ein solcher Krieg sei ein «unbegrenzter Krieg». Komme es zu einem Krieg zwischen den kapitalistischen USA und der kommunistischen UdSSR, so sei dies «die höchste Form des Klassenkampfes», denn die beiden Kriegsparteien verfolgten darin «die entscheidendsten aller Ziele», nämlich – die USA – die Zerstörung des kommunistischen Gesellschaftssystems der östlichen Welt sowie – die Sowjetunion – die Zerstörung des kapitalistischen Gesellschaftssystems der westlichen Welt. Um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen, würden sowohl die Amerikaner als auch die Sowjets zwangsläufig ihre mächtigsten Waffen zum Einsatz bringen. Während der Herrschaft Chruščevs waren dies die strategischen Nuklearraketen. Chruščev war dementsprechend der Überzeugung, dass jeder Krieg, in welchen die USA und die UdSSR involviert waren, mit strategischen Nuklearwaffen geführt werde.
(10/11) Während sich die Ansichten über die Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs unter Chruščev nicht änderten,217 ging mit der Einführung der Politik der Friedlichen Koexistenz die Revidierung der bis anhin gültigen These, dass in einer Welt mit kapitalistischen Staaten Kriege grundsätzlich unvermeidbar seien,