Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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neuen Definition von «Aggression» verschaffte sich die sowjetische Führung praktisch eine Blankovollmacht, jederzeit gegen alle ihr missliebigen Entwicklungen in ihrem Einflussbereich vorzugehen, ohne dabei nach ihren eigenen Massstäben eine Aggression zu verüben.

      (6) Obwohl die Sowjets auch unter Brežnev die Möglichkeit eines von ihnen begonnenen Kriegs gegen das kapitalistische Lager offiziell klar verneinten, sprach rein ideologisch weiterhin nichts Grundsätzliches dagegen.258 Die einzigen möglichen Hinderungsgründe für einen sowjetischen Angriffskrieg dürften nach wie vor die drei folgenden gewesen sein: erstens die Erkenntnis, dass das angestrebte politische Ziel ebenso gut mit nichtkriegerischen Mitteln erreicht werden konnte, zweitens die fehlende Gewissheit des eigenen Sieges in diesem Krieg und drittens eine zu grosse Furcht vor negativen Begleiterscheinungen eines Sieges für die Sicherheit und die Macht der Sowjetunion – konkret insbesondere vor massiver nuklearer Zerstörung des eigenen Territoriums.

      (7) Als Folge der andauernden Gültigkeit des Konzepts der Friedlichen Koexistenz zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten blieb unter Brežnev auch die von Chruščev aufgestellte These weiter in Kraft, «dass der Sozialismus ohne Krieg über den Kapitalismus zu triumphieren vermag».259 Dieser Grundsatz bedeutete – wie schon zu Chruščevs Zeiten – nicht, dass die Sowjets den Krieg als Mittel zur Förderung der Weltrevolution gänzlich ausschlossen. Dem friedlichen, evolutionären Übergang zum Sozialismus wurde zwar Priorität eingeräumt, doch für den Fall, dass sich dieser Weg als nicht gangbar erweisen sollte, blieb der Rückgriff auf Waffengewalt eine Option. Die Sowjets schätzten dabei die Möglichkeiten zum Einsatz von gewaltsamen Mitteln nun als etwas grösser ein als während der Ära Chruščev: Als zulässig angesehen wurden nicht mehr nur nationale Befreiungskriege sowie Bürgerkriege in Gestalt der Bürger-Befreiungskriege, sondern verschiedene Formen der Einmischung, die grösstenteils den Charakter einer Intervention besassen. Nicht in Frage kamen demgegenüber nach wie vor die sogenannten «internationalen Kriege», das heisst der atomare Weltkrieg und begrenzte, lokale Kriege, bei denen Eskalationsgefahr bestand.

      (8) Die sowjetischen Ansichten bezüglich der über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheidenden Faktoren waren nach Chruščevs Sturz geprägt von einer deutlichen Relativierung der Vorrangstellung der strategischen Nuklearraketen gegenüber anderen, insbesondere langfristig wirkenden Faktoren.260 Wie in Punkt 9 ausgeführt werden wird, setzte sich in der Sowjetunion um die Mitte der 1960er-Jahre die Erkenntnis durch, dass zukünftige Kriege zwischen West und Ost unter Umständen ohne den Einsatz strategischer Nuklearwaffen ausgetragen werden konnten. Als Folge davon wurde Faktoren wie der Mobilmachung, den Reserven an militärischem Personal und Material sowie dem «wirtschaftlichen Potential» eines Landes nach Kriegsausbruch nun wieder grössere Wichtigkeit zuerkannt. Auch die Bedeutung des «moralischen Potentials» wurde verstärkt betont: «Man darf […] die Kernwaffen nicht zum Fetisch erheben, wie einige bürgerliche Militärideologen dies tun. Bei der Beurteilung der Auswirkungen von Kernwaffen und technischem Gerät auf die Methoden der Kriegführung hat man stets die Frage zu berücksichtigen, in welchen Händen diese Waffen sich befinden. Wie die Erfahrungen der Geschichte zeigen, wird von neuen Methoden und Formen des bewaffneten Kampfes, von neuen Waffen und technischen Geräten zur Errichtung des Sieges über den Feind dann der beste Gebrauch gemacht, wenn sich ihrer dasjenige Volk und diejenige Armee bedienen, die einen gerechten Krieg, einen Befreiungskrieg führen, die den Wert der Freiheit und Unabhängigkeit, die Errungenschaften des Sozialismus und Kommunismus verteidigen und sich durch hohe sittlich-politische Qualitäten auszeichnen. In dieser Hinsicht wird auch ein möglicher Weltkrieg mit Raketen-Kernwaffen keine Ausnahme bilden. Auch in ihm werden sich die schöpferischen Fähigkeiten jener Völker, die sich zu einem gerechten Kampf erhoben, die Ziele und Aufgaben des Krieges begriffen und sich entsprechend auf ihn vorbereitet haben, mit ungebrochener Kraft offenbaren. Es kann keinen Zweifel daran bestehen, dass die der Aggression die Stirn bietenden Völker dem Feind mit Kampfmethoden entgegentreten werden, die den seinigen überlegen sind.»261

      (9) Die Frage nach der Form der Austragung eines Kriegs zwischen zwei einander entgegengesetzten Klassen – insbesondere eines Kriegs zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten – wurde in der Brežnev-Periode anders beantwortet als während der Stalin- und der Chruščev-Zeit:262 Wie zu Beginn dieses Unterkapitels erwähnt, gelangte die sowjetische Führung unter dem Eindruck der amerikanischen Konzepte der flexiblen Reaktion sowie der garantierten Zweitschlagkapazität Mitte der 1960er-Jahre zur Auffassung, dass ein militärischer Konflikt zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten nicht – wie seit Lenins Zeiten behauptet – zwangsläufig von beiden Seiten mit dem Ziel der vollständigen Zerstörung des gegnerischen Gesellschaftssystems und unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Kriegsmittel geführt werden müsse. Selbst ein Krieg, in welchen gleichzeitig die Supermächte UdSSR und USA involviert waren, müsse nicht mehr unbedingt zur letzten Entscheidungsschlacht zwischen den beiden Weltsystemen werden. Mit anderen Worten: Die Sowjets hielten nun «begrenzte Kriege» zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus für möglich, also Kriege, in denen die Konfliktparteien nicht alle verfügbaren Mittel einsetzten, sondern beispielsweise auf die Verwendung von strategischen Nuklearwaffen oder von Nuklearwaffen überhaupt verzichteten. Voraussetzung für einen solchen «begrenzten Krieg» war aus sowjetischer Sicht, dass die in diesem Krieg verfolgten Ziele beschränkt und somit die Folgen einer Niederlage für den Verlierer von relativ geringer Bedeutung waren. Falls dies nicht der Fall war, der Verlierer die Konsequenzen einer Niederlage in einem Krieg also als existenzgefährdend einstufte, dann, so waren die Sowjets überzeugt, komme es weiterhin zu einem «unbegrenzten Krieg», in welchem auch Atomwaffen – taktische und strategische – eingesetzt würden. In den Augen der Sowjets konnte nur ein bezüglich seiner regionalen Ausdehnung beschränkter Krieg, das heisst ein sogenannter «lokaler Krieg», ein «begrenzter Krieg» sein. Hatte sich ein Krieg auf den Grossteil oder die Gesamtheit unseres Planeten ausgebreitet und war somit zu einem globalen Krieg, zu einem «Weltkrieg», geworden, so standen nach Ansicht der Sowjets sowohl für die kapitalistische als auch für die kommunistische Seite unweigerlich derart wichtige Interessen auf dem Spiel, dass es zu einem «unbegrenzten Krieg» kommen musste.

      (10/11) Die von Lenin formulierte Auffassung, dass für die Beendigung von Kriegen das vollständige Erreichen der ihnen zugrunde liegenden politischen Ziele nötig sei, blieb unter Brežnev unverändert in Kraft.263 Dasselbe gilt für die von Chruščev entwickelten Thesen über die Vermeidbarkeit beziehungsweise die endgültige Überwindung von Krieg. So hiess es weiterhin, dass «imperialistische Kriege in der heutigen Epoche nicht mehr unvermeidlich» seien, da «es auf Grund der Existenz der sozialistischen Staaten, der ihre Friedenspolitik unterstützenden jungen Nationalstaaten und aller an der Erhaltung des Friedens in den kapitalistischen Ländern selbst interessierten gesellschaftlichen Kräfte heute objektiv möglich» sei, «den Imperialismus an der Entfesselung eines neuen Weltkriegs zu hindern und ihn zur Einstellung begrenzter imperialistischer Kriege zu zwingen».264 Ausgenommen von der Vermeidbarkeitsthese blieben die «nationalen Befreiungskriege» und die «Bürgerkriege».265 Bezüglich der Möglichkeit der gänzlichen Abschaffung von Krieg lautete der Grundsatz nach wie vor, dass «mit dem Sieg des Sozialismus im Weltmassstab […] die Menschheit für immer von der Gefahr eines Krieges befreit» werde, «da es in der sozialistischen Gesellschaft keine gesellschaftlichen Kräfte – Klassen oder Schichten – gibt, die an der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker und somit an einem Krieg interessiert sind».266 Dazu wurde allerdings – wie schon unter Chruščev – angefügt, die mit der Politik der Friedlichen Koexistenz einhergehende «Veränderung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten der Kräfte des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus» schaffe allmählich Bedingungen, unter denen «noch vor dem vollen Sieg des Sozialismus und Kommunismus im Weltmassstab der Krieg gänzlich aus dem Leben der Völker verschwinden wird».267

      1.3.1.6 Fazit

      Das Kernstück der marxistisch-leninistischen Lehre vom Krieg ist die These, dass der Krieg seinem Wesen nach ein Produkt des Kapitalismus beziehungsweise des Imperialismus sei. Sowohl Marx und Engels als auch alle ihre ideologischen Nachfolger erachteten als Ursache von Krieg nämlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln beziehungsweise die


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