Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
beeinflussen können, insbesondere für kurze Zeit. Die bedeutendsten dieser übrigen Faktoren waren gemäss Engels die «Qualität und Quantität der Bevölkerung»62 der jeweiligen Kriegsgegner. Unter der «Qualität» der Bevölkerung verstand Engels menschliche Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit, Standhaftigkeit, Intelligenz, Disziplin und Organisationsfähigkeit. Mit der «Quantität» der Bevölkerung meinte er demgegenüber die Bevölkerungszahl. Marx und Engels hielten es für nicht ausgeschlossen, dass eine von ihrer wirtschaftlichen Basis her schwächere Kriegspartei dank einer Überlegenheit im Bereich der menschlichen Faktoren den Sieg in einem Krieg davontragen konnte. Allerdings sahen sie diese Möglichkeit nur im Fall eines «Blitzkrieges», wenn es einer wirtschaftlich unterlegenen Kriegspartei gelingen sollte, den Sieg zu erreichen, bevor der Gegner die langfristigen Vorteile seines grösseren ökonomischen Potentials zur Geltung bringen könne.
(9/10) Zum Ausmass beziehungsweise zur Form der Austragung eines bestimmten Kriegs sowie zu den Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs finden sich in den Schriften von Marx und Engels keine spezifischen Aussagen. Mit diesen Aspekten sollten sich erst ihre ideologischen Nachfolger – insbesondere Lenin – vertieft befassen.
(11) Abschliessend muss noch die Frage beantwortet werden, welche Ansicht Marx und Engels bezüglich der Möglichkeit der Vermeidung beziehungsweise Abschaffung von Krieg vertraten.63 Marx und Engels waren der Überzeugung, dass Krieg letztlich abschaffbar sei. Zu dieser Haltung waren sie aufgrund der Auffassung gelangt, Krieg sei ein mit dem Kapitalismus untrennbar verbundenes Produkt der Klassengesellschaft. Wenn dem nämlich so ist, dann muss nach der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus das Phänomen «Krieg» verschwinden.
Voraussetzung für das «Absterben» des Kriegs war aus marxistischer Sicht allerdings, dass der Kommunismus nicht nur in einem Land, sondern auf der ganzen Welt errichtet wird. Andernfalls werde es nämlich Staaten geben, welche nicht kommunistisch seien und somit durch «Ausbeuterklassen» beherrscht würden; und diese «Ausbeuterklassen» könnten dann natürlich weiterhin zum Mittel des Kriegs greifen, wann immer sie das Gefühl hätten, dies würde ihren Interessen nützen. Solange der Gegensatz zwischen einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse bestehe, werde es deshalb – so Marx und Engels – stets Kriege geben.
1.3.1.2 Die Weiterentwicklung des marxistischen Kriegsverständnisses und dessen Anpassung an die Bedürfnisse des Sowjetstaates durch Lenin
Zu Marx’ und Engels’ Zeiten hatte kein Land existiert, in welchem die «ausgebeutete Klasse» die Macht innegehabt hatte, und folglich auch kein Land, welches eine Militäraktion zu Gunsten der Interessen der «Ausgebeuteten» hätte unternehmen können. Einige Jahrzehnte später präsentierte sich eine veränderte Situation: Nach der Gründung Sowjetrusslands im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gab es auf der Welt einen ersten «proletarischen» Staat. Als Folge dieser neuen Konstellation sahen sich die kommunistischen Theoretiker vor die Aufgabe gestellt, sich mit dem Problem von Krieg oder Frieden zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten –konkret zwischen Sowjetrussland und den kapitalistischen Mächten – auseinanderzusetzen. Die entscheidende Figur bei der entsprechenden Ergänzung und Weiterentwicklung der kommunistischen Kriegstheorie war Lenin. Nach Auffassung des amerikanischen Sowjetunion-Experten Thomas W. Wolfe bestand Lenins Leistung zwar eher darin, die Theorien anderer dem praktischen Ziel der Machtergreifung anzupassen, als eigene Theorien aufzustellen.64 Sein Erfolg als Praktiker der Revolution sowie als Führer des ersten «proletarischen» Staates habe es jedoch mit sich gebracht, dass seine Ideen zur Grundlage für die gesamte spätere marxistisch-leninistische Kriegslehre geworden seien. Lenins Ansichten über Krieg sollen im Folgenden systematisch dargestellt werden.
(1) In Bezug auf die Ursache von Krieg übernahm Lenin voll und ganz die von Marx und Engels entwickelte Erklärung:65 Kriege seien letztlich durch die antagonistische Struktur der Klassengesellschaft bedingt und somit ökonomischer Natur.66 Konkret komme es immer dann zu einem Krieg, wenn zwei oder mehrere Staaten oder aber die Klassen innerhalb eines Staates entgegengesetzte Politiken verfolgten und keine Seite den Forderungen der anderen Seite nachgebe.
Lenin liess es allerdings nicht bei dieser Aussage bewenden, sondern er ergänzte sie – im Rahmen seiner Imperialismustheorie – um eine eigene Erkenntnis: Im Zeitalter des Imperialismus, der höchsten Stufe des Kapitalismus, nehme die Wahrscheinlichkeit von Kriegen wegen der verstärkten ökonomischen Konkurrenzsituation massiv zu. Das beste Beispiel für die Richtigkeit dieser These sah Lenin im Ersten Weltkrieg. Er interpretierte diesen nämlich als die logische Konsequenz des Wettrennens zwischen den führenden Kreisen der kapitalistischen Grossmächte um die Aufteilung der Welt: Dem Volk werde dieser Krieg verkauft als «Verteidigung des Vaterlandes», doch in Wirklichkeit sei es ein «Krieg zwischen zwei grossen Räubern um die Beherrschung und Ausplünderung der Welt», in welchem Millionen von Proletariern für die Interessen des Finanzkapitals ihr Leben lassen müssten.67
(2) Aus den vorhergehenden Erläuterungen lässt sich ableiten, dass sich Lenin auch bezüglich seiner Ansichten über die Funktion von Krieg nicht von seinen Vorgängern unterschied.68 Die Tatsache, dass er sich mit diesem Thema viel gründlicher beschäftigte als Marx oder Engels, spiegelt sich freilich in akzentuierteren Aussagen dazu. So sah Lenin im Krieg eines von mehreren möglichen Mitteln der Politik einer bestimmten Klasse zur Durchsetzung bestimmter ihrer ökonomischen und politischen Ziele. Zu dieser Erkenntnis hatte ihn nicht zuletzt seine Beschäftigung mit Carl von Clausewitz’ Klassiker «Vom Kriege» geführt.69 Der Clausewitz’sche Ausspruch, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen – nämlich gewaltsamen – Mitteln sei,70 wurde für Lenin «zum Ausgangspunkt und Urteilsmassstab für alle seine Betrachtungen und Deutungen des Krieges».71 So definierte Lenin das Phänomen «Krieg» folgendermassen: «‹Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik› der einen oder der anderen Klasse; und in jeder Klassengesellschaft, in der auf Sklaverei beruhenden, in der fronherrschaftlichen und in der kapitalistischen, hat es Kriege gegeben, die die Politik der unterdrückenden Klassen fortsetzten, aber es hat auch Kriege gegeben, die die Politik der unterdrückten Klassen fortsetzten.»72
Nach der Entstehung des Sowjetstaates gewann die Clausewitz’sche Konzeption des Kriegs als einer Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zusätzliche Bedeutung für Lenin:73 Die Clausewitz-Formel erlaubte es ihm, den Krieg als ein Instrument der Politik nicht nur kapitalistischer, sondern auch kommunistischer Staaten darzustellen – und damit als Fortsetzung des Klassenkonfliktes auf internationaler Ebene. Da mit Kriegen zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Ländern gerechnet werden musste, war es wichtig, einerseits die Kriegsziele und die Politik des Sowjetstaates als Fortsetzung seiner fortschrittlichen, friedliebenden Politik hinzustellen und andererseits zu behaupten, kriegslüsterne kapitalistische Mächte wollten den Krieg zur Fortsetzung ihrer räuberischen Politik nutzen.
(3) Hinsichtlich der Wirkung von Krieg betonte auch Lenin vor allem den für ihn positiven Aspekt, dass Kriege den «revolutionären Prozess» beschleunigen könnten: «Es ist längst anerkannt, dass Kriege bei allen Schrecken und Nöten, die sie nach sich ziehen, mehr oder minder grossen Nutzen dadurch bringen, dass sie viel Morsches, Überlebtes und Abgestorbenes in den menschlichen Institutionen unbarmherzig aufdecken, enthüllen und zerstören.»74 Lenin konkretisierte den Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution in der im Rahmen seiner Imperialismustheorie formulierten Vorstellung vom Übergang der kapitalistischen zur kommunistischen Ordnung: Das Proletariat – beziehungsweise die Partei als Avantgarde – könne, müsse und werde die durch die «imperialistischen Kriege» zwangsläufig aufkommende grosse Unzufriedenheit der Völker ausnützen und mittels Weltrevolution die «Bourgeoisie» stürzen und den Kapitalismus abschaffen.75 Als «mächtiger Beschleuniger» erschien Lenin insbesondere der Erste Weltkrieg. Dieser war gemäss seinen Aussagen imstande, «einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu beschleunigen und anderseits weltumfassende Krisen, wirtschaftliche, politische, nationale und internationale Krisen von ungeahnter Intensität hervorzurufen.»76
(4) Aufgrund der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg lehnte Lenin diesen wie Marx und Engels nicht grundsätzlich ab:77 «Je nach der geschichtlichen Situation, je