Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
Sieg sie sich den grössten Nutzen für die kommunistische Sache versprachen. Doch wie fanden sie heraus, welche Kriegspartei dies war?
In gewissen Fällen lag es natürlich auf der Hand, wem die Unterstützung der Marxisten zuteil werden musste. So konnte eine benachteiligte oder unterdrückte Bevölkerungsgruppe eines Landes, welche gegen die betreffende herrschende Schicht kämpfte und dabei aus marxistischer Perspektive progressive Ziele verfolgte, sich des Beistands der Marxisten sicher sein.51 Dies war beispielsweise bei Bürgerkriegen, die zwischen einer «ausgebeuteten Klasse» und einer «Ausbeuterklasse» geführt wurden, der Fall. Als weiteres Beispiel können nationale Freiheitskriege angeführt werden, das heisst Kriege zwischen Nationen, welche staatliche Unabhängigkeit anstrebten, und bestehenden Staaten. Hier sympathisierten Marx und Engels meistens mit den nationalen Freiheitskämpfern. Dies deshalb, weil der Aufbau von starken, zentralistischen Nationalstaaten – und folglich der Untergang der im 19. Jahrhundert noch zahlreich bestehenden, auf feudalen Strukturen basierenden Vielvölkerstaaten und Kleinstaaten – aus marxistischer Sicht eine fortschrittliche Entwicklung darstellte. Generell galt nämlich die Auffassung, dass der Kommunismus nur in Nationalstaaten erreicht werden konnte. Die meisten der erwähnten Bürgerkriege sowie der nationalen Freiheitskriege waren für Marx und Engels also eindeutig gute Kriege. Dabei ist anzufügen, dass die beiden Vordenker des Kommunismus selbst nie die Bezeichnung «gut» verwendeten, sondern diverse andere Ausdrücke – darunter «legitim», «gerecht» und «progressiv».52
Den eindeutig guten Kriegen standen die eindeutig schlechten Kriege gegenüber – von Marx und Engels unter anderem als «illegitim», «ungerecht» und «reaktionär» bezeichnet.53 Schlechte Kriege waren für die Marxisten diejenigen Kriege, bei denen sowohl die Ziele der Kriegsparteien als auch die Wirkung des Kriegs im marxistischen Sinn schlecht waren, das heisst Kriege, die nicht der Sache des Kommunismus, sondern bloss den Interessen der «Ausbeuterklasse» dienten. Dazu zählten die meisten jener Kriege, die territoriale Vergrösserung, Plünderung oder Befriedigung von dynastischen Ambitionen zum Ziel hatten, insbesondere Kolonialkriege. Derartige Kriege lehnten die Marxisten grundsätzlich ab.
Neben den eindeutig guten und den eindeutig schlechten Kriegen gab es auch Kriege, die von Marx und Engels als teilweise gut und teilweise schlecht charakterisiert wurden. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem solche Kriege, in denen sämtliche Kriegsparteien der herrschenden Schicht angehörten; konkret also entweder Kriege zwischen den «Ausbeuterklassen» mehrerer Staaten (internationale Kriege) oder Kriege zwischen verschiedenen Gruppen der «Ausbeuterklasse» eines Staates (Bürgerkriege). In diesen Fällen waren die Ziele der Kriegsparteien aus marxistischer Sicht schlecht, da der «Ausbeuterklasse» nützend und damit nicht «fortschrittlich». Die Wirkung solcher Kriege konnte für die Sache des Kommunismus jedoch sehr wohl gut sein, nämlich dann, wenn die Kriege Entwicklungen auslösten, die in marxistischem Sinn progressiv waren. Durfte von einem Krieg derartige Wirkung erwartet werden, dann hiessen Marx und Engels ihn gut, und ihre Unterstützung galt logischerweise derjenigen Seite, von deren Sieg sie sich die grösste «progressive» Wirkung versprachen. Welche Seite dies war, konnten sie oft erst nach einer genauen Analyse der Politik der am Krieg teilnehmenden Parteien sowie der möglichen Folgen des Kriegs entscheiden.
(5) Wie soeben ausgeführt, fällten Marx und Engels ihre Entscheidung darüber, welche Seite in einem Krieg sie unterstützen sollten, anhand zweier Fragen: Welche Ziele verfolgen die Kriegsparteien? Und: Ist der Sieg der einen oder der anderen Kriegspartei der Sache des Kommunismus nützlich? Die Frage, wer in einem Krieg der Aggressor54 war, spielte für Marx und Engels diesbezüglich keine Rolle.55 Es war nämlich so, dass Marx und Engels den Akt der Aggression, das heisst das Beginnen eines Kriegs, nicht generell ablehnten. Vielmehr hiessen sie die Aggression immer dann gut, wenn diese ihrer Ansicht nach der Sache des Kommunismus förderlich war. Dabei ist Folgendes zu betonen: Marx und Engels hielten es nicht nur für richtig, dass die Kommunisten von jedem Krieg zu profitierten suchten, welcher durch Nicht-Kommunisten angefangen worden war; sie hielten es auch für richtig, dass die Kommunisten, wenn immer diese der Meinung waren, das Wohl ihrer Sache verlange es, selbst einen Krieg begannen. Mit anderen Worten: Marx und Engels sahen im Krieg ein Mittel zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele und befürworteten das direkte eigene Einsetzen dieses Mittels. Aus der Sicht von Marx und Engels bedeutete das Beginnen eines Kriegs mit dem Ziel, die Sache des Kommunismus zu fördern, die Inkaufnahme eines kleinen Übels für die Erreichung des Guten – ganz nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel.
(6) Die Tatsache, dass Marx und Engels es grundsätzlich für richtig hielten, Kriege anzufangen, wenn die Sache des Kommunismus dies verlangte, bedeutet freilich nicht, dass sie in jedem solchen Fall tatsächlich den Beginn eines Kriegs befürworteten. Es war vielmehr so, dass für Marx und Engels zwei Voraussetzungen stets erfüllt sein mussten, damit sie die Anwendung von Krieg als Mittel zur Förderung des Kommunismus guthiessen: Zum einen musste Krieg das zweckmässigste, beste Mittel zur Erreichung des jeweiligen Zieles sein. Und zum anderen musste in diesem Krieg der Sieg gesichert sein.
Zur ersten genannten Voraussetzung:56 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Marx und Engels den Krieg wegen seiner schlimmen Auswirkungen grundsätzlich für ein Übel hielten. Dementsprechend zogen sie das Beginnen eines Kriegs nur dann in Betracht, wenn sie ihr Ziel, die Förderung des revolutionären Prozesses, nicht mit friedlichen Mitteln erreichen konnten. Einen Krieg zu führen, obwohl das jeweilige konkrete Ziel auch mit Verhandlungen, mit Drohungen, mit Bestechung oder aber mit Zugeständnissen erreicht werden konnte, war aus marxistischer Sicht eine politische Verantwortungslosigkeit ohnegleichen.
Zur zweiten genannten Voraussetzung:57 Die Betrachtungsweise des Kriegs als ein Mittel zur Durchsetzung der kommunistischen Ziele führte Marx und Engels dazu, die Forderung aufzustellen, dass ein Krieg nur dann begonnen werde, wenn der Sieg in diesem Krieg als gewiss angesehen werden könne. Dies deshalb, weil ja nur der Sieger in einem Krieg seine Ziele durchsetzen konnte.
(7) Im Zusammenhang mit der erstgenannten Voraussetzung für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten – der Voraussetzung, dass ein Ziel mit friedlichen Mitteln nicht erreicht werden konnte – drängt sich eine Frage auf: Hielten Marx und Engels ihr Ziel, die weltweite Errichtung des Sozialismus, grundsätzlich mit friedlichen Mitteln für erreichbar, oder waren sie der Meinung, es sei auf jeden Fall Krieg und Gewalt notwendig, um die bestehende Ordnung zu stürzen?58 Ihre Antwort auf diese Frage fiel nicht eindeutig aus: Auf der einen Seite gibt es in den Schriften diverse Belege für eine von der Notwendigkeit von Gewalt ausgehende Haltung. So betonte Marx, dass die herrschende «Ausbeuterklasse» ihrer Beseitigung stets Widerstand entgegensetzen werde und dass die «ausgebeutete Klasse» deshalb «nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen»59 könne, sondern sie zerschlagen und die Macht mit Gewalt ergreifen müsse. Zugleich hob Engels wiederholt hervor, die Armee müsse als Werkzeug für den Übergang zum Sozialismus immer stärker ins Auge gefasst werden. Auf der anderen Seite gibt es jedoch – vor allem von Marx – auch Äusserungen, die dafür sprechen, dass Marx und Engels an die Möglichkeit einer friedlichen Evolution und Reform geglaubt haben. So erklärte Marx gegen Ende seines Lebens, als er seine Hoffnungen auf grosse Fortschritte im revolutionären Prozess enttäuscht sah, dass der Weg zum Sozialismus möglicherweise ein langwieriger Prozess sei, der auch in einem relativ friedlichen Übergang ohne direkte revolutionäre Aktion stattfinden könne.
(8) Auch aus der zweiten Voraussetzung für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten, nämlich dass der Sieg in diesem Krieg als gesichert gelten müsse, ergibt sich eine Anschlussfrage: Welches waren für Marx und Engels die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheidenden Faktoren?60 Die Antwort darauf ist klar und überrascht angesichts der Tatsache, dass die kommunistische Lehre den gesamten Verlauf und sämtliche Erscheinungen der menschlichen Geschichte auf die materiellen Verhältnisse zurückführt, nicht: Der entscheidende Faktor sei die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft.61 Es obsiege in einem Krieg somit letztlich immer diejenige Kriegspartei, welche über die stärkere ökonomische Grundlage verfüge. Marx und Engels begründeten dies damit, dass diejenige Gesellschaft, welche die stärker entwickelte Wirtschaft besitze, die qualitativ und quantitativ bessere Kriegsausstattung – insbesondere