Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
Operationspläne. Und auch die Übungsunterlagen gingen von einem Angriff der Nato, dessen schneller Zerschlagung in einer Grenzschlacht und nachfolgendem weit- und tiefräumigem, entscheidenden Gegenangriff der Vereinten Streitkräfte der WVO aus. Für die zahlreichen Berichte von Professor Rühl gilt das Gleiche wie für den ‹Stoltenberg-Bericht›.»
Abschliessend meint Jablonsky: «Es ging mir wie Ihnen, als ich im Militärgeschichtlichen Institut (MGI) der Ex-DDR in Potsdam mit meiner Crew mehrmals wochenlang Archive durcharbeitete: Wir kamen gemeinsam zu Forschungsergebnissen, die in der Tat mit den alten Feindbildern aus dem Nato/WP-Konflikt nicht übereinstimmten.»
Grosses Aufsehen in der Schweiz und in Deutschland erregte ein ganzseitiger Artikel von Heinz und Michael Rühl in der NZZ vom 13./14.9.2008 unter dem Titel «Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa». Die positiven und kritischen Stellungnahmen in den Leserbriefen (NZZ vom 27./28.9., S. 21) hielten sich in etwa die Waage. Erstere fühlten sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass die «im kürzlich erschienenen Buch von Peter Veleff protokollierten Aussagen ehemaliger in Moskau geschulter DDR-Generäle nach dem System ‹Mein Name ist Hase, ich weiss von nichts›» definitiv nicht als historische gelten können. Es ist darum wahrscheinlich, dass der Leserbrief von Siegfried Lautsch/Köln, 1983 bis 1987 Leiter der operativen Abteilung im Militärbezirk V und Planungsoffizier im Verteidigungsministerium der DDR, von dieser Gruppe auch nicht als wahr, sondern als blosse Rechtfertigung disqualifiziert wurde. Lautsch schrieb, die Darstellung der beiden Autoren, «dass der Warschaupakt bis in die späte Hälfte der achtziger Jahre einen präventiven, regional begrenzten Nuklearkrieg in Europa plante», sei irreführend. Die UdSSR und die Warschauer-Pakt-Staaten hätten nie einen überraschenden Erstschlag geplant, sondern nur für den Fall einer äusseren Aggression «alle erforderlichen Massnahmen zu ihrer Abwehr und zur Bekämpfung des Gegners» vorbereitet. Dazu gehörte «die Bereitschaft und Fähigkeit […] bei der sich bietenden Gelegenheit, noch im Verlauf der Abwehr, entschlossen anzugreifen». Ohne zu präzisieren, ob die Aussage für die ganze Periode des Kalten Kriegs gelte, verriet er, dass der Warschauer Vertrag im Rahmen eines Zwei-Phasen-Konzeptes offensive und defensive Kampfhandlungen vorbereitet habe, «die je nach politisch-militärischer Lageentwicklung angewendet werden konnten». Dem konventionellen Einsatz sei erstrangige Bedeutung zugekommen.
Von vornherein kann die Kritik von Vojtech Mastny/Arlington, Geschichtsprofessor und anerkannter Ostexperte, auch vom überzeugtesten Kalten Krieger nicht einfach übergangen werden. Mastny kritisierte, die Darstellung in der NZZ werde dem komplizierten Thema nicht gerecht. «Die Autoren ignorieren die Art und Weise, wie in der ehemaligen Sowjetunion Entscheide getroffen wurden. Sowjetische Militärplaner zerbrachen sich – wie ihre Gegenspieler bei der Nato – die Köpfe darüber, wie sie einem überraschenden Nuklearangriff des Feindes zuvorkommen könnten; sie planten einen solchen Angriff jedoch keinesfalls aus heiterem Himmel. Sie planten vielmehr, was zu tun sei, falls eine Krise aus irgendeinem Grund ausbrechen und militärische Handlungen nötig machen würde. Der Entscheid darüber lag aber nicht bei den sowjetischen Militärs, sondern in den Händen ihrer Vorgesetzten im Politbüro, die vor allem von politischen Erwägungen geleitet wurden.» Die weitergehende Kritik wurde in der NZZ nur verstümmelt wiedergegeben.51 Mastny bedauerte, dass die Autoren die Quellen nicht genannt hätten, was eine Überprüfung verunmögliche, und stellte fest, dass die bisherige Forschung nur ungenügend berücksichtigt worden sei. Die Kritik, die Autoren hätten unsachgemäss die beiden Begriffe «präventiv» und «präemptiv» synonym verwendet, ist aus völkerrechtlicher, strategischer und amerikanischer Sicht berechtigt, setzt aber voraus, dass der Unterschied allgemein bekannt ist. Als «präemptiv» wird gemeinhin ein Angriff dann bezeichnet, wenn er zweifelsfrei in eine unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende Angriffshandlung eines Gegners hineinläuft. Als «präventiv» gilt eine Kriegshandlung, wenn eine Angriffsvorbereitung des Gegners zwar nicht direkt erkennbar, aber damit zu rechnen ist, dass dieser Gegner demnächst oder jedenfalls in absehbarer Zeit eine militärische Offensive startet. Bezüglich der völkerrechtlichen Legitimation ist es ein entscheidender Unterschied, ob eine militärische Aktion «präemptiv» oder «präventiv» erfolgt. Die Erstere wird in jedem Fall als legitim und in der Regel als legal beurteilt, während ein Präventivkrieg – da nicht zweifellos zum Zweck der Selbstverteidigung – völkerrechtswidrig oder mindestens umstritten ist.52
Diese verschiedenen gegensätzlichen Meinungen quellenkritisch zu werten, wird die grosse Herausforderung dieser Arbeit sein.
Zum schweizerischen «Feindbild»
Die sowjetischen Planungen gegen Europa blieben der schweizerischen Öffentlichkeit, aber auch ihren nachrichtendienstlichen Organen verständlicherweise verborgen. Die meisten Informationen waren durch die Propaganda so verstellt, dass bewusste Desinformation drohte. Trotzdem wurde schweizerischerseits immer wieder der Versuch unternommen, sich dem Geheimnis zu nähern und für die eigene Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Schlüsse zu ziehen. Eine wichtige Quelle waren die aufgedeckten Spionagefälle mit östlichen Auftraggebern. Selbstverständlich wurden alle Möglichkeiten des offenen Nachrichtendienstes genutzt, und befreundete Nachrichtendienste dürften auch immer wieder Informationen weitergeleitet haben. Eine ergiebige Quelle waren die Berichte von Generalstabsoffizieren, welche die Chance einer Auslandkommandierung nutzen durften. Sie erfuhren in den verschiedenen Kursen und Schulen vom «Feindbild Rot» des Gastlandes und berichteten nach ihrer Rückkehr.
Strategieexperten lieferten grundsätzliche Überlegungen und stellten Konzeptionsvorschläge zur Diskussion. Hinsichtlich unseres Forschungszeitraums sind an erster Stelle Gustav Däniker und Jakob Annasohn zu nennen, die beide ein neues strategisches Denken forderten und die Basis zu einer Gesamtverteidigung legten. Däniker leitete sein 1966 erschienenes Buch «Strategie des Kleinstaats»53 mit folgender historischer Erfahrung ein: «Kleinstaaten waren zu allen Zeiten bedroht. Sie konnten sich meist nur dann behaupten, wenn ihre Existenz im Interesse der stärkeren Mächte lag, oder aber, wenn sie über eine besonders wirksame Verteidigung verfügten.»54 Däniker hatte, abgesehen von gewissen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, keine Informationen über die konkreten militärischen Planungen des Warschauer Vertrags und blieb mit seinen Überlegungen weitgehend auf einer hohen Abstraktionsebene, was aber seiner fachlichen Kompetenz keinen Abbruch tut.
Die Ausweitung des strategischen in ein sicherheitspolitisches Denken ab Ende der 1960er-Jahre widerspiegelte sich in verschiedenen Arbeiten der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (FSK) der ETH Zürich unter der Leitung von Prof. Kurt R. Spillmann. Die wichtigsten Ergebnisse – das Produkt verschiedener Einzelstudien – sind im Buch «Sicherheitspolitik seit 1945. Zwischen Autonomie und Kooperation»55 zusammengefasst. Dieses umfasst den ganzen Zeitabschnitt des Kalten Kriegs.
Das aktuelle Standardwerk der schweizerischen militärischen und militärpolitischen Situation in der ersten Periode des Kalten Kriegs ist zweifellos die Dissertation von Peter Braun mit dem Titel «Von der Reduitstrategie zur Abwehr. Die militärische Landesverteidigung der Schweiz im Kalten Krieg 1945–1966», die als Band X der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs herausgegeben worden ist.56
Gesamthaft kann gesagt werden, dass die schweizerische Seite, die eidgenössische «Innensicht», bereits als gut erforscht gelten kann, wenn auch noch immer Einzelaspekte einer gründlicheren Erforschung harren.
Quellenlage
Veröffentlichte Archivdokumente
Als Reaktion auf die nach dem Ende des Kalten Kriegs einsetzende und in der Folge zunehmende Entklassifizierung von Nato-Dokumenten sowie die gleichzeitig wachsende Verfügbarkeit von Akten aus den Archiven des früheren Ostblocks wurde im Jahr 1999 unter Leitung des tschechischstämmigen US-Historikers Vojtech Mastny und unter Beteiligung verschiedener sich mit der Geschichte des Kalten Kriegs befassender Institutionen das «Parallel History Project on Nato and the Warsaw Pact» (PHP) ins Leben gerufen. 2006 wurde es in «Parallel History Project on Cooperative Security» umbenannt. Seit seiner Gründung hat das PHP in nationalen Archiven in Europa und Nordamerika mehrere Tausend Seiten Material zu sicherheitspolitischen Aspekten des Kalten Kriegs gesammelt und eine grosse Zahl dieser Archivunterlagen zusammen mit Kommentaren und Analysen