Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
Der Übergang von Fremd- zu Feindbildern ist oft fliessend. Feindbilder sind nach Ansicht von Kurt R. und Kati Spillmann15 durch sieben typische Merkmale gekennzeichnet:
«1. Misstrauen (‹Alles, was vom Feind kommt, ist entweder schlecht oder – wenn es vernünftig aussieht – aus unredlichen Motiven entstanden.›)
2. Schuldzuschiebung (‹Der Feind ist schuld an der existierenden Spannung beziehungsweise an dem, was an den herrschenden Umständen für uns negativ ist.›)
3. Negative Antizipation (‹Was immer der Feind unternimmt, er will uns schaden.‹)
4. Identifikation mit dem Bösen (‹Der Feind verkörpert in allem das Gegenteil dessen, was wir sind und anstreben; er will unsere höchsten Werte vernichten und muss deshalb selbst vernichtet werden.›)
5. Nullsummendenken (‹Was dem Feind nützt, schadet uns› und umgekehrt.)
6. De-Individualisierung (‹Jeder, der zur feindlichen Gruppe gehört, ist eo ipso ein Feind.›)
7. Empathieverweigerung (‹Mit unserem Feind verbinden uns keine Gemeinsamkeiten; es gibt keine Information, die uns von unserer Feind-Auffassung abbringen könnte; den Feinden gegenüber sind menschliche Gefühle und ethische Kriterien gefährlich und fehl am Platz.›).»
Gemäss Spillmann/Spillmann besteht der entscheidende Unterschied zwischen Stereotypen und Feindbildern darin, dass es sich bei Letzteren nicht einfach um Orientierungshilfen und -hypothesen handle, sondern um Orientierungsdiktate, welche kategorisch einer bestimmten Gruppe (Hexen, Juden, Kommunisten usw.) die Schuld für bestimmte bedrohliche oder unverständliche Ereignisse zuschieben. Sie folgern weiter: «Damit werden die eigenen Werte erhöht, die Gruppenkohäsion gestärkt, der diffuse innere Angstdruck kann nach aussen verlegt werden.»
Zum Abbau von Feindbildern sei in erster Linie eine «Re-Individualisierung» nötig, verbunden mit einem Wiederaufbau der emotionalen und kognitiven Differenzierungen. Der Abbau müsse sowohl innerhalb der eigenen Gruppe geschehen, «wo sich schon früh in der Eskalationsphase eine Intoleranz gegenüber unterschiedlichen Bewertungen und Wahrnehmungen entwickelt», als auch nach aussen, «dem Feind selber gegenüber, der als stereotype Kategorie nicht nur seine Individualität, sondern oft auch seine Menschlichkeit verloren hat». Als wichtigste Schritte auf dem Weg zum Abbau von Feindbildern betrachten die beiden Autoren Information und Kontakt, ergänzt durch Kommunikationstraining der Gesprächspartner.16
Diese Analyse der Funktion von Feindbildern bildet einen wichtigen Aspekt der Studien Kurt R. Spillmanns zur Friedens- und Konfliktforschung an der ETH Zürich.17 Als Aufgabe dieser Forschung bezeichnet er, «Spannungen zu vermindern und Konflikte ohne Gewalt zu lösen, beziehungsweise – wie es das Wesen der Forschung ist – nach Wegen zu suchen und Beiträge zu leisten zur Ergründung der Voraussetzungen, von denen aus solche Tätigkeiten sinnvoll ausgeübt werden können». Ausgangspunkt der Konfliktforschung ist nach Spillmann das «konkrete Bedürfnis jedes Staates, nicht Opfer von Konflikten seiner Umwelt zu werden», womit er bewusst den Begriff des Friedens aufgrund von dessen «verführerischer Leerformel» umgeht.18 Wahrnehmungen von Nicht-Übereinstimmungen, das heisst Konflikten, seien zunächst einmal grundlegende funktionale Elemente des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, und es sei aussichtslos, sie ausmerzen zu wollen. Kriege erwüchsen primär aus Zwischengruppenkonflikten, wobei im Verlauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung zur Lösung von Innergruppenkonflikten kontrollierte Formen der Konfliktaustragungen entwickelt worden seien, welche eine Tötungshemmung mit einschlössen. Die Konfliktforschung stehe deshalb vor der paradoxen Problematik, «dass gerade der von uns so hoch geschätzte Wert ‹Sicherheit› ein wesentliches, wenn auch verborgenes Motiv für Kriege – und damit für extreme Unsicherheit – zu sein scheint».
Eine sinnvolle Konfliktforschung muss nach Auffassung Spillmanns bei der Frage einsetzen, «was bei dieser Umwandlung des Sicherheitsbedürfnisses in praktische Unsicherheit passiert, d. h. welche Elemente zur Inkubation von Kriegen beigetragen haben, und welche Elemente zu einer solchen Inkubation heute beitragen beziehungsweise beitragen könnten». Diesbezüglich könnten rationale und nichtrationale Faktoren unterschieden werden. Zur Illustration verweist Spillmann auf das Beispiel des Kalten Kriegs: Die rationale Einschätzung der Gefahren habe die Supermächte davon abgehalten, während des «Kalten Kriegs» einen Konflikt zu riskieren. Andererseits habe gerade die traumatische Erfahrung des deutschen Überfalls vom Sommer 1941 die Sowjetunion dazu geführt, ihre Streitkräfte ganz systematisch für geballte und rasche Offensivaktionen nach Westen auszulegen, wodurch dem Gegner gleich zu Beginn hohe Verluste hätten beigefügt werden sollen, um selbst den erwarteten längeren Abnützungskrieg zu überstehen.
Für Spillmann ist klar, «dass der entscheidende Faktor in diesem Szenario die Wahrnehmung der Bedrohung ist». Die Wahrnehmung aber könne leicht verzerrt werden, sei es durch falsche Informationen, sei es durch selektive Wahrnehmung, kognitive Dissonanz oder vorgefasste Meinungen. An dieser Stelle komme der Kommunikation zwischen den Konfliktparteien eine grosse Bedeutung zu. Sie werde jedoch bereits durch das Problem der adäquaten Übermittlung erheblich erschwert. «Andere Denkvoraussetzungen, andere Raster in der Wirklichkeitsdefinition spielen eine entscheidende Rolle bei der Konstellation von […] Konflikten.» An der Bewusstmachung dieser Faktoren müsse die Konfliktforschung heute in höchstem Mass interessiert sein. Diese Bewusstmachung umfasse nicht nur die «Förderung der Fähigkeit zur Empathie», worunter Spillmann ein möglichst vorurteilsfreies Sich-Hineinfühlen oder Sich-Hineindenken in den anderen versteht, sondern auch die permanente Selbstreflexion über die eigenen Denkvoraussetzungen, die eigenen Widerstände und Ängste. Dies erfordere einen Verzicht auf «emotionale Entlastung, zu der uns die Freund-Feind-Unterscheidung immer wieder drängen will», ferner die «Fähigkeit, starke Spannungen und Konflikte im eigenen Inneren aushalten zu können, statt sie – was bedeutend einfacher ist – nach aussen zu projizieren».
Zusammenfassend hält Spillmann fest: «In der Bewusstmachung unbewusster, zu Konflikten drängender Wahrnehmungsmuster steckt viel Potential für einen aktiven Beitrag zur Friedenssicherung.» Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll versucht werden, dieses Potential auszuschöpfen.
Forschungsstand
Wir gliedern den Forschungsstand, bei welchem wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern Schwerpunkte setzen, entsprechend den oben formulierten Forschungsfragen.
Zur Militärdoktrin und zu den dahinterstehenden politischen Absichten der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags
Auf eine ausführliche Besprechung der westlichen und östlichen Literatur zum Kalten Krieg im Allgemeinen sowie zu einzelnen Ereignissen im Besonderen wird an dieser Stelle verzichtet. Diesbezüglich sei auf Daniel A. Nevals Dissertation «Mit Atombomben bis nach Moskau» verwiesen, welche einen Abriss der einschlägigen Literatur bietet,19 auch wenn darin vielleicht ein Werk der allerjüngsten Zeit nicht erfasst ist. Trotz der imposanten Fülle gilt es noch viel zu tun. Die Geschichte des Warschauer Vertrags ist nicht mehr eine Blackbox. Herausragend ist die umfangreiche Studie von Frank Umbach «Das rote Bündnis».20 Eine eindrückliche Gesamtschau bieten die von Vojtech Mastny im Jahr 2006 unter dem Titel «War Plans and Alliances in the Cold War. Threat Perceptions in the East and West» publizierten zwölf Aufsätze verschiedener Autoren.21 Vom gleichen Autor ist unter anderem 2003 in deutscher Sprache ein längerer Überblicksartikel über die ersten zehn Nachkriegsjahre erschienen.22
Zur Entwicklung der sowjetischen Militärdoktrin entstand während und nach dem Kalten Krieg eine ganze Reihe von Darstellungen westlicher Autoren.23 Zu erwähnen sind auch die Zeitzeugenbefragungen von Jan Hoffenaar vom Niederländischen Institut für Militärgeschichte mit Unterstützung des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Demgegenüber wurde von östlicher Seite zu diesem Thema bis zum Erscheinen von Sokolovskijs «Militär-Strategie»24 im Jahr 1962 keinerlei Literatur herausgegeben beziehungsweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vertiefte Einblicke in den Inhalt der sowjetischen