Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer


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der Frühjahrstagung der Militärischen Führungsschule 1999 in der Aula der ETH Zürich gehaltenes Referat zusammengefasst und teilweise wörtlich zitiert wiedergegeben werden.2 Das Referat ist von einzigartiger Aussagekraft, was legitimiert, ihm relativ viel Platz einzuräumen. Es war das erste und mit grösster Wahrscheinlichkeit das letzte Mal, dass ein Marschall der Sowjetunion in Uniform an einer schweizerischen Hochschule gesprochen hat. Das Tragen der Uniform im Ausland und die frühere Funktion des Referenten lassen den Schluss zu, dass er weitestgehend die Auffassung der militärischen Führungsschicht der Sowjetunion und nicht nur seine persönliche Meinung wiedergegeben hat.

      Die Hauptfaktoren des Kalten Kriegs

      Nach Marschall Kulikovs Ansicht wurde der Kalte Krieg (1945–1989) durch drei Hauptfaktoren bestimmt: Zum ersten sei der Kalte Krieg eine totale ideologische Konfrontation zweier globaler Machtblöcke gewesen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen und politischen Lebens aller Völker betroffen habe. Zum zweiten sei er gekennzeichnet gewesen durch das Aufkommen der Atomwaffen als politischer Faktor. Und zum dritten seien beide Blöcke vom Willen erfüllt gewesen, das im Zweiten Weltkrieg Erkämpfte zu halten. Wegen dieser drei Faktoren habe von 1945 bis 1989 ein stetiger Kampf um strategische Einflussgebiete stattgefunden.

      Faktor 1: die ideologische Konfrontation

      Zum ideologischen Aspekt äusserte sich Kulikov wie folgt: Nach dem Krieg seien die grundsätzlichen Unterschiede in der sozialen und politischen Gesellschaftsordnung, in den Wertsystemen und Ideologien der damaligen Sowjetunion auf der einen Seite und des Westens, in erster Linie der USA, auf der anderen Seite zu wichtigen Faktoren für die Spaltung der verbündeten Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs und für den Übergang zur Ost-West-Konfrontation geworden. Das Streben der UdSSR, die Staaten Osteuropas zu dominieren und dort die sozialistischen Regimes zu festigen, habe zwei Gründe gehabt; zum einen einen ideologischen Grund, die Verbreitung des Weltkommunismus, und zum anderen einen geopolitischen Grund, die Schaffung eines Sicherheitsgürtels für die im 20. Jahrhundert zweimal überfallene Sowjetunion.

      Die Ideologisierung des «Kalten Kriegs» habe für die UdSSR äusserst negative Folgen gehabt. Sie habe vor allem die Wahrnehmung der jeweiligen Regierungsschicht in Moskau getrübt, «was natürlich die Ausarbeitung eines realistischen aussenpolitischen Kurses erschwerte».3 Ende der 1950er-Jahre habe der «kommunistische Weg» auf den westlichen Menschen keine Anziehungskraft mehr ausgeübt. Ohne die dafür verantwortlichen Umstände explizit zu nennen, machte Kulikov mit dieser Aussage die für die Überzeugungskraft beziehungsweise Glaubwürdigkeit des Kommunismus verheerende Wirkung der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 deutlich.

Abb. 1: Viktor G. Kulikov, geb. 1921, Oberkommandierender der sowjetischen Truppen in Deutschland 1967–1969, Generalstabschef und erster stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR, Marschall der Sowjetunion, Oberkommandierender des Warschauer Vertrages 1977–1989. («Aargauer Zeitung», 29. 3. 1999, AZ-Archiv)

      Abb. 1: Viktor G. Kulikov, geb. 1921, Oberkommandierender der sowjetischen Truppen in Deutschland 1967–1969, Generalstabschef und erster stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR, Marschall der Sowjetunion, Oberkommandierender des Warschauer Vertrages 1977–1989. («Aargauer Zeitung», 29. 3. 1999, AZ-Archiv)

      Faktor 2: das Aufkommen der Atomwaffen als neuer politischer Faktor

      Bezüglich des atomaren Aspekts sagte Marschall Kulikov, man könne den Beginn des «Kalten Kriegs» mit dem Entscheid des US-Präsidenten Harry S. Truman, japanische Städte zu bombardieren, ansetzen. Die USA seien im August 1945 mit ihrem Einsatz nuklearer Mittel nicht so sehr einer militärischen Notwendigkeit gefolgt, als vielmehr dem Wunsch, der UdSSR die eigene Stärke zu demonstrieren. In der Folge hätten die Atomwaffen als neuer Kräftefaktor in vielerlei Hinsicht den Beginn, den Verlauf und die Beendigung des Kalten Kriegs bestimmt.

      Kulikov führte dazu aus: «Das Erreichen der militärisch-strategischen Parität zwischen der UdSSR und den USA zu Beginn der Siebzigerjahre hatte weitreichende Folgen. Auf der einen Seite sicherte dieses Gleichgewicht der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Vertrages ein genügend hohes Niveau an Sicherheit und trug zu einer allgemeinen Entspannung und zur Verbesserung der internationalen Lage in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre bei. Aber auf der anderen Seite zeichnete sich deutlich die Unmöglichkeit einer Anwendung von Atomwaffen ab. Die militärische Stärke begann als Machtfaktor eines Staates an Wert zu verlieren.»4 Während der Westen diese Entwicklung rechtzeitig erkannt und verstärkt auf die zivilen Bereiche gesetzt habe, sei in der UdSSR weiterhin ein riesiger Anteil ihres Bruttosozialprodukts zur ständigen Steigerung des militärischen Potentials verbraucht worden. Die übersteigerten Ausgaben für die Verteidigung hätten sich im tieferen Lebensniveau der sowjetischen Völker widerspiegelt.

      Atomwaffen, so Kulikov, «waren, sind und werden immer» nur ein Mittel der Abschreckung, das heisst ein politisches Mittel, sein, denn: «Die Anwendung von Atomwaffen bedeutet die gegenseitige Vernichtung aller Zivilisationen in der Welt. Es wird niemanden geben, dem ein solcher Sieg dienen wird. Ich war bei den Versuchen mit thermonuklearen Bomben anwesend. Wir alle waren Zeugen des Freisetzens einer sehr kleinen Menge an Radioaktivität während des Vorfalls im Reaktor von Tschernobyl. Seither kommen wir nicht mehr los vom schlimmen Gefühl und den Hässlichkeiten, die dieses Ereignis mit sich gebracht hat. Wie soll man sich erst die Wirkung von Hunderten, Tausenden von Atombomben mit unendlich grösserer Wirkungskraft auf Städte vorstellen?»5

      Faktor 3: das Behaupten des im Zweiten Weltkrieg Erkämpften

      Zum dritten Aspekt der globalen Auseinandersetzung des Kalten Kriegs führte Kulikov Folgendes aus: Nach dem Kriegsende 1945 seien zwischen den zwei nun wichtigsten Weltmächten – den USA und der UdSSR – nicht nur ideologische Differenzen aufgetreten, sondern es hätten sich auch unvereinbare geopolitische und wirtschaftliche Interessen gezeigt. Die machtpolitische Rivalität der beiden Grossmächte sei derart gross gewesen, dass es auch dann zum Kalten Krieg gekommen wäre, wenn sich die Sowjetunion nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs vom Kommunismus losgesagt hätte. Diese Aussage präzisierend, erklärte Kulikov: «Als Resultat des Krieges war die vorher scheinbar für immer unterbrochene Kontinuität der russischen Geschichte wiederhergestellt. Die Sowjetunion begann den Westen als geopolitische Fortsetzung des russischen Imperiums mit seinen weitreichenden geopolitischen Interessen wahrzunehmen. Die totale Niederlage Deutschlands schuf ein Vakuum, welches die Sowjetunion aktiv auszufüllen begann. Der Westen seinerseits war in keinerlei Hinsicht gewillt, seine Position aufzugeben und sich mit einem wachsenden russischen Einfluss abzufinden. Dies musste unvermeidlich zu einer Nachkriegsnebenbuhlerschaft zwischen den Siegern führen.»6

      Der Westen habe versucht, die Resultate des Zweiten Weltkriegs zu seinen Gunsten zu verändern, während der Osten an der Bewahrung der Resultate interessiert gewesen sei.

      Der Kampf um strategische Einflussgebiete

      Marschall Kulikovs Auffassung, der Westen habe in der Nachkriegszeit versucht, seine Macht auf Kosten der Sowjetunion zu vergrössern, widerspiegelt sich in seinen Ausführungen zum Verlauf des Kalten Kriegs. So sagte er: «Ein wichtiger Meilenstein des ‹Kalten Krieges› stellte die Annahme der Truman-Doktrin durch die USA am 12. März 1947 dar. Diese bestimmte faktisch während der darauffolgenden 40 Jahre die Aussenpolitik Washingtons. Dieses Dokument postulierte die Politik der USA zur Unterstützung der freien Völker, welche sich den Versuchen der Unterjochung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von aussen widersetzten. Aber, wie viele Forscher heute zeigen, unterstützten die USA in der Praxis öfters nicht freie Völker, sondern auch repressive Regimes […].» Und weiter: «[In den ersten Nachkriegsjahren, d. Vf.] festigten die USA und die westlichen Länder ihren Einfluss in verschiedensten Regionen der Welt. Am 4. April 1949 wurde in Washington der Nordatlantische Vertrag unterschrieben. So wurde die Gründung der Nato – der fundamentalen militärisch-politischen Gruppierung westlicher Staaten – rechtskräftig. In ihrer Tätigkeit richteten sich die zentralen Organe der Nato von Anfang an auf einen Krieg mit der UdSSR in der allernächsten Zukunft aus. Gleichzeitig mit der Ausdehnung und Festigung des Nato-Blockes unternahmen


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