Rückkehr zu Gott. Jörg Gabriel
heilige Schrift ins Provenzalische übersetzen, um sich aus eigener Kenntnis heraus von ihr leiten und führen zu lassen. Mit gleichgesinnten Frauen und Männern begann er in apostolischer Armut als Wanderprediger gegen die Sünden in der Welt zu predigen. Allerdings lebten sie nun genauso wie viele verurteilte Ketzer. Als ihnen schließlich der Erzbischof von Lyon das Predigen verbieten wollte, gehorchten sie nicht, da dies der Weisung des Evangeliums nicht entspräche, allen Geschöpfen die frohe Botschaft zu verkünden (vgl. Mk 16,15). Sie argumentierten: Man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen (gemäß Apg 5,29). Doch keinesfalls wollten sie sich von der Kirche trennen. Deshalb gingen sie nach Rom, wo gerade das 3. Laterankonzil stattfand, um von Papst Alexander III. (1159-1181) die Anerkennung ihrer Lebensweise und die Erlaubnis zur apostolischen Wanderpredigt zu erhalten. Zudem reichte Waldes auch seine Bibelübersetzung zur Prüfung ein. Durch Waldes wurde die Kirche offiziell zu einer Stellungnahme zu freiwilliger apostolischer Armut und Wanderpredigt gezwungen, da man Waldes und seinen Gefährten keinesfalls zur Last legen konnte, wie die Ketzer gegen die Lehren und Sakramente der Kirche zu sein. Im Gegenteil: Waldes wollte sich in die Ordnung der Kirche einfügen. Doch der Papst und das Konzil versagten völlig. In einer theologischen Prüfung wurde das Anliegen der Waldenser in keiner Weise ernst genommen. Der Leiter dieser Kommission, Walter Map, ein Gesandter des englischen Königs, machte sich über Waldes und seine Gefährten lustig und hielt die ganze Prüfung für lächerlich. Am Ende lobte der Papst zwar die freiwillige Armut des Petrus Waldes, doch die Predigt wurde ihnen verboten; nur wenn sie von ihren Bischöfen oder Priestern dazu aufgefordert würden, sei dies möglich. Da die Waldenser jedoch gerade von ihren Bischöfen und Priestern beargwöhnt wurden, bestand faktisch ein generelles Verbot. Aber nicht nur das Versagen Einzelner führte zur Abweisung der Waldenser, sondern auch die Vorstellung vom hierarchischen Ordo gemäß der gregorianischen Reform, nämlich dass ausschließlich den von Gott dazu berufenen Bischöfen und Priestern das Recht zu Predigt und Seelsorge vorbehalten sei: „Von Gott dazu berufen sind aber nur die 12 Apostel und ihre Nachfolger, die Bischöfe, und die 72 Schüler des Herrn und ihre Nachfolger, die Priester, dazu noch deren Stellvertreter, die Archidiakone und Vikare, sonst aber niemand, weder Mönche noch Laien; und niemand, selbst der Papst nicht, kann irgend jemanden zur Predigt und zur Seelsorge berechtigen außer diejenigen, die nach dieser unveränderlichen Ordnung von Gott dazu berufen sind, - es sei denn, diese von Gott Berufenen selbst forderten jemanden zur Predigt in ihrem Amtsbezirk auf. Aber gerade davor hatte man andererseits die Bischöfe und Priester immer wieder gewarnt, fremde Prediger zuzulassen.“191 Die Waldenser hielten sich indes nicht an die Anordnungen des Konzils. Sie predigten weiter und entfernten sich immer mehr von der Kirche. Sie begannen auch gegen die Sünden des Klerus zu predigen. 1184 wurden sie auf der Synode von Verona mit dem Kirchenbann belegt und gemeinsam mit den Katharern als Ketzer bezeichnet. Begründet wurde dies – an erster Stelle – mit der unbefugten Predigt. Die unbefugte Predigt, selbst wenn sie den Lehren der Kirche entsprach, galt somit als ein wesentliches Merkmal für Ketzerei. Nach ihrer Verurteilung 1184 gerieten die Waldenser immer mehr unter den Einfluss der Katharer und deren manichäischen Gedankenguts. Anfangs hatten die Waldenser diese Sekte noch heftig bekämpft. Jetzt erst, unter dem Einfluss der Katharer, wurden sie zu einer teilweise gefährlichen Sekten. Sie lehnten jegliche kirchliche Autorität und Lehre ab. Katholische Traditionen wie die Sakramente, die Heiligen-, Bilder- und Reliquienverehrung verwarfen sie. Sie waren gegen den Ablass, den Eid, den Zehnt, den Kriegsdienst und die Todesstrafe. Je nachdem, wie intensiv sie dem Katharismus verfallen waren, leugneten sie die Sünde und die Hölle. Durch ein Consolamentum (Handauflegung) auf dem Sterbebett versprachen sie den einfachen Gläubigen eine leichte Erlösung. Doch ihr strenges Leben nach dem Evangelium führte ihnen viele Anhänger zu. Die Waldenser gliederten sich – wie die Katharer – in zwei Klassen: die Vollkommenen (Prediger, Vorsteher, Seelsorger) und die einfachen Gläubigen (Freunde, Förderer, Sympathisanten, gewöhnliche Anhänger). Waldes weihte auch eigenmächtig Bischöfe und Priester. Noch im 12. Jahrhundert verbanden sich die Waldenser in Oberitalien mit den „Armen der Lombarden“. Dort wurden sie in ihrer antikirchlichen Haltung noch radikaler als anderswo. In Metz und in Straßburg tauchten sie ebenfalls auf. Im 13. Jahrhundert breiteten sie sich in Flandern, im Rheintal, entlang der Donau, in der Gascogne, in Burgund und in der Champagne aus. Die Bevölkerung im Rheinland und in Nordfrankreich setzte sich jedoch, im Gegensatz zum französischen Süden, teilweise mit Gewalt zur Wehr. Ab 1199 erfolgte unter Papst Innozenz III. (1198 – 1216) eine Versöhnung mit den Teilen der Waldenser, die nicht völlig von der Lehre des Manichäismus erfüllt waren.192
II. Die Katharer 193
Wie viele Waldenser verstanden sich auch die Katharer als die „echten Nachfolger der Apostel.“194 Katharer (wörtlich: die „Reinen“) werden die Anhänger einer über Kreuzfahrer und Tuchhändler vom Balkan nach Europa eingedrungenen gnostisch-christlichen Bewegung genannt, die in Anlehnung an die bulgarischen Bogomilen eine manichäisch-dualistische Lehre entwickelte.195 „Ihr Name stand Pate für das deutsche Wort Ketzer.“196 „Als Lehre vertraten die Katharer (der Name kommt seit 1163 auf) einen manichäisch getönten Dualismus in der zweifachen Richtung einer absoluten und einer gemäßigten Form. Der gute Gott als Schöpfer der Geister, der böse Gott als Schöpfer der sichtbaren Welt vertreten Ordnungen, die durch das Wirken Satans ineinander verschlungen werden. Das Wirken St. Michaels und Christi, welche den Dämon besiegen und dadurch die Geister aus der Herrschaft des Satans erlösen, wird die alte (dualistische, in der Trennung existierende) Ordnung wiederhergestellt. So lehrt der absolute Katharismus. Der gemäßigte kennt einen Schöpfergott, dessen Ordnung durch die Revolte Satans, der die Engel verführt und sie als Seelen den Leibern der Menschen einfügt, gestört wird. Erlöst aus diesem Gefängnis des Fleisches werden sie durch Christus, der nicht Sohn Gottes ist, sondern ein Engel, der in Maria scheinbar Mensch wird. In einem Scheinleib lebt, leidet, stirbt dieser Christus. Der Geist nimmt bei der Taufe im Jordan in ihm Wohnung und bleibt dort bis zur Verherrlichung Christi, kommt dann auf die Apostel herab, teilt sich den Gläubigen durch die Taufe mit, die bei den Katharern keine Wassertaufe ist, sondern ein Exorzismus, Berührung mit den Evangelientext und eine Handauflegung: das Consolamentum. Den Vollkommenen (der führenden Elite) verleiht das Consolamentum Unsündlichkeit, während die einfachen Gläubigen von ihren Sünden jeweils durch das Apparellamentum, eine Art Buße, befreit werden können. Der Tod befreit die Engel für das Paradies, doch scheint auch eine Art Seelenwanderung nicht ausgeschlossen. Dämonen und Verdammte werden beim Weltende vernichtet, eine leibliche Auferstehung gibt es nicht. Gottes Sieg erscheint damit allumfassend. Die Trinität wird geleugnet, eine gottmenschliche Inkarnation nicht angenommen, viele altchristliche Häresien (Gnosis, Monarchianismus, Doketismus, Manichäismus u.a.) scheinen erneuert.“197 Der hohe Anspruch, in wirklicher Armut Christus nachzufolgen, so wie die Apostel dies taten, machte großen Eindruck auf die Menschen.198 Doch glaubten die Anhänger der Ketzerbewegung die einzig „wahren Apostel“, die einzig „guten Christen“ oder die „guten Menschen“ schlechthin zu sein. Dieser Absolutheitsanspruch aber führte zwangsläufig zum Bruch mit der Kirche.199 Aus drei Gründen ging die Kirche mit aller Härte gegen derartige Gruppen vor: „Erstens entwickelte sich aus der Idee, dass die Weisungen der Evangelien und der Apostelschriften der einzige für die Kirche und für Christen gleichmäßig verbindliche Maßstab des religiösen Lebens sei, eine entschiedene Kritik an den Lehren und Bräuchen der Kirche, die zur Ablehnung der meisten Sakramente in ihrer katholischen Form, ebenso der Heiligenverehrung, der Fürbitte, der Fegefeuerlehre usw. führte. Zweitens erkannten die Ketzer, die in der Armut das Leben der Apostel zu führen behaupteten, den Ordo der hierarchischen Kirche nicht an, sondern stellten die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Ordinierung in Frage und bildeten auf Grund ihres Bewusstseins, zur wahren Vollstreckung des Evangeliums berufen zu sein, geradezu eine Konkurrenz-Kirche der ‚guten Christen‘, die in genauer Analogie zur katholischen Kirche in den ‚Vollkommenen‘ oder ‚Erwählten‘ ihren Klerus, in den ‚Gläubigen‘ ihre Gemeinden hatten und sich sogar in einer Art Bistumsverfassung ausgestaltete. Drittens endlich hat sich die Armutsidee und die apostolische Wanderpredigt im Laufe des 12. Jahrhunderts in manchen Kreisen, besonders in Südfrankreich und in der Lombardei, mit dualistischen Weltlehren verbunden und ist, ohne Zweifel vom griechischen Osten her, immer mehr von spekulativen