Rückkehr zu Gott. Jörg Gabriel
stellen sich die freien Geister, genauer besehen, als einen Zustand der Vollkommenheit vor, wie die Seele ihn vor ihrem Eintritt in einen Leib besaß, als im ‚Abgrund der Gottheit selbst‘ ... . Diese Gotteinung ist den freien Geistern eine Vorwegnahme dessen, was den Seligen im ewigen Leben zuteil wird.“271
Der Mensch ist, um mit Seuses freigeistigem „Wildem“ zu sprechen272, „im ewigen Nicht (d.h. Gott) zunichte geworden“.273 Da der „freie Geist“ nun „von jedem Geschöpf abgesondert ist, geht er unmittelbar darauf in die göttliche Erhabenheit über, so dass er der göttlichen Natur gleich wird.“274 Hat der „Anfänger“ auf seinem Weg zum freien Geist seine äußere, menschliche Natur nach Christi Vorbild eingeschränkt, d.h. völlig in „Christi Dienst verzehrt“275, so soll der „freie Geist“ seine irdische Natur nun wieder herstellen, er könne dabei seinen Trieben nun freien Lauf lassen, um jenen Dienst zu vollziehen, „der innerlich im Geiste geschieht“276: „Wenn du dein Leben nach der Form von Christi Leben ´ausgegeben´ hast, so wie ich es tat, dann bist du frei von deinem Leben.“277 Der„freie Geist“ ist frei, zu tun und zu lassen, was er will, da er frei wie Gott ist. Er braucht auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen:
„Ich bin frei in meiner (sinnlichen) Natur. Allem, was meine Natur begehrt, gebe ich nach und erfülle es ... . Denn mein Geist ist frei geworden, und da ich mit Geist und Natur Mensch bin, ist es nur billig, ihr Genüge zu tun. Denn dies ist vollkommene Freiheit, dass die Hand alles das ergreift, was das Auge sieht und begehrt. Stellt sich ihm (dem ‚freien Geist‘) dabei etwas in den Weg, so darf er es vernichten.“278
Aus ihrer Vergottung leiten die Anhänger des „freien Geistes“ ab, so Seuse, dass ihnen eine „ledige“, d.h. eine „ungebundene Freiheit“ geschenkt worden sei, die Freiheit, die Gott selbst ist, und die den Menschen über alle rechte irdische Ordnung „hinwegsehen“ und sie zu „verachten“ erlaube.279 Alle Strömungen des freigeistigen Denkens lassen sich unter dem Ruf nach „ungebändigter Freiheit“280 zusammenfassen:
„Dass der Mensch ganz nach seinem Antrieb lebe, ohne Gott und die Welt zu unterscheiden, ohne nach vorwärts oder rückwärts zu schauen.“281
Dabei kann sich die Beziehung zum Sohn, zu Jesus Christus, grundlegend verändern: Christi Menschsein, sein Leiden, seine Armut und sein Kreuz, gerade für die Armutsbewegung im Mittelalter so bedeutungsvoll, und Jesu Gottsein können für einen Freigeistigen ohne Belang sein.282 Denn der freie Geist „wird Gott gleich und übertrifft den Sohn oder steht ihm wenigstens gleich.“283 Das „namenlose Wilde“ bei Seuse erklärt, „ein solcher Mensch wirke alles wie Christus selbst“284 und „alles, was Christus gegeben ward, sei auch mir gegeben.“285 Solche Aussagen haben bei manchen freien Geistern auch dazu geführt, dass sie die kirchlichen Sakramente als nicht mehr notwendig für ihr Seelenheil ansahen und offen ablehnten.286 Das ging sogar so weit, wie aus dem Gutachten Alberts des Großen hervorgeht, dass sie glaubten, nicht mehr sündigen zu können. Als freier Geist sei er jetzt kein Sünder mehr.287 Die „Vergottung“ des Menschen könne sogar soweit gehen, dass der Mensch:
„ ‚Gottes nicht mehr bedarf‘; den höchsten Grad religiöser Vollkommenheit erreicht der Mensch erst dann, wenn er ‚Gott um Gottes willen lässt‘, wenn er über Gott hinaufsteigt auf den ‚Gipfel der Gottheit‘.“288
Aus diesem Grund hätten moralische und ethische Normen für Freigeistige keine Geltung mehr.289 Weil der Mensch „gottgleich“ sei, könne dieser nun tun, was immer er wolle.290 Gerade diese Überzeugungen öffneten wilden Spekulationen Tür und Tor, wie z.B. dem Verdacht einer schrankenlosen Amoralität.291
Zusammenfassend kann man sagen: Der Lebensmittelpunkt der „freien Geister“ war zuallerst ein beschauliches Dasein, die Meditation. Ein tätiges Berufsleben, Werke der Nächstenliebe oder der Tugenden konnten dabei als störend empfunden werden.292 Erstrebenswert war einzig und allein die „beschauliche Ruhe“ in der Einheit mit Gott.293 Weil das freigeistige Denken die vollkommene Vereinigung mit Gott versprach, in welcher der Mensch mit Gott sogar identisch ist, wirkte es anziehend auf viele, die ein intensives religiöses Leben führen wollten.294
Bei Tauler – und das gilt ebenso für Eckhart und Seuse – richtet sich die Kritik gegen Freigeistige vornehmlich gegen die Sucht nach außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen. Er sieht die Gefahr einer wahnhaften religiösen Übersteigerung, die dazu führt, dass sich jemand all jenen gegenüber überlegen fühlt, die keinerlei „Erfahrungen“ machen, und diese deshalb verachtet. Vor allem aber kritisiert er die Tendenz, sich von Werken der Nächstenliebe befreit zu glauben. Bei den Freigeistigen, wie sie Tauler kritisiert, steht an erster Stelle immer die religöse „Erfahrung“.295
Die Aufgabe der Bettelorden (Dominikaner und Franziskaner) war es zunächst, die religiösen Bewegungen „in kirchliche Bahnen zu lenken und in geordnete Formen zu fassen.“296 In einem weiteren Stadium mussten die Bettelorden dann das erwachte mystische Leben „in die Gleise der kirchlichen Rechtgläubigkeit“297 leiten und von dem Einfluss freigeistigen Denkens befreien. Die Mittel dazu konnten entgegengesetzter nicht sein: Auf der einen Seite beteiligten sich Dominikaner und Franziskaner an der menschenverachtenden Verfolgung von Häresieverdächtigen durch die Inquisition. Als Inquisitoren waren sie verantwortlich für unzähliges, unbeschreibliches Leid.298 Doch auf der anderen Seite gab es auch Prediger wie Meister Eckhart, Heinrich Seuse oder Johannes Tauler, die durch ihre Verkündigung und Seelsorge das geistliche Leben der Menschen vor Übersteigerungen und antikirchlichen Häresien bewahren wollten. Dabei gerieten sie jedoch selbst in eine gefährliche Nähe zu der von ihnen abgelehnten freigeistigen Lehre, ja sie wurden sogar von ihren eigenen Mitbrüdern, wie Meister Eckhart und Heinrich Seuse, der freigeistigen Häresie bezichtigt299, denn „was die freien Geister predigten, glich aber auch – und das ist nachdrücklich festzuhalten – in zentralen Punkten der gleichzeitigen deutschen Mystik, ja war in mancher Hinsicht schlichtweg identisch.“300 In der päpstlichen Bulle „In agro dominico“ (vom 27. März 1329) werden deshalb 28 Sätze aus dem Werk Meister Eckharts verurteilt, davon 17 als häretisch, 11 als häresieverdächtig.301
181 Die Fragen, die wir hier nicht beantworten, sind, was eigentlich eine Sekte ist, und in wiefern sich hinter manchem als häretisch verurteiltem Gedankengut tatsächlich eine Sekte verbirgt. Deshalb haben wir in der Überschrift den Begriff Sektenbildung in Anführungszeichen gesetzt. Siehe hierzu auch: Utz Tremp 2008. Die Autorin zeigt sehr eindrücklich, dass man zwischen tatsächlichen und imaginären Sekten unterscheiden muss. Besonders wichtig ist diese Feststellung für die sog. Freien Geister. Siehe den ersten Teil, viertes Kapitel, III. Vgl. weiterhin Grundmann 1977, 18-38. 355-438. 476-524; Ders., 1976, 38-92. 313-327. 364-416; Utz Tremp 2008; Borst 2007, 199 – 286; Ders. 2004, 618ff. 596 – 673; Hauschild I 1995, 311 – 314. 445 – 450. Zum Begriff Sekte vgl. v. Brockhusen 1998, 445 – 448.
182 Grundmann 1977, 483.
183 Vgl. Grundmann 1977, 495.
184 Grundmann 1977, 482f.
185 Vgl. Grundmann 1977, 28.
186 Vgl. Grundmann 1977, 50 – 69.
187 Vgl. Grundmann 1977, 5188.
188 Grundmann 1977, 56.
189 Vgl. Grundmann 1977, 57.
190 Vgl. Utz Tremp 2008, 119 – 310; Angenendt 2005, 59; Borst 2004, 106 – 113; de Lange 2004, 53 – 67; Wolter 1999, 127ff.; Grundmann 1977, 57-72. Zu den Waldensern: Siehe Audisio 1996; Lambert 1977; Selge 1967.
191 Grundmann 1977, 63f.
192 Vgl. Grundmann 1977, 91-127.
193 Zu den Katharern: Siehe Utz Tremp 2008, 48 – 92; Lambert