Rückkehr zu Gott. Jörg Gabriel
Mensch steht im Brennpunkt aller Aussagen der im Ries verurteilten Ketzer.
Der Gedanke von der Vergottung des Menschen ist jedoch nicht neu242, allerdings meinten wohl einige Irrlehrer, der Mensch könne naturaliter, d.h. aus eigener Kraft, Gott werden und er sei mit Gott identisch. Die rechtgläubige katholische Mystik vertrat dagegen die Meinung, der Mensch könne nur aus Gnade vergottet werden.243 Die Irrlehren im Ries haben die dogmatische Scheidung von Natur und Gnade nicht eindeutig formuliert.244 Diese in den der Ketzerei verurteilten Kreisen nicht gelöste Frage war jedoch an sich nichts Ungewöhnliches. Auch in der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts ist die Unterscheidung zwischen Gnade und Natur auf den ersten Blick nicht immer so eindeutig feststellbar.245 Mechthild von Magdeburg spricht beispielsweise davon, dass die Seele des Menschen „mit Gott ein Gott“246 werden kann, „ein menschlicher Gott mit Christus“247 und „ein geistlicher Gott mit dem Heiligen Geist“248 – kurz: „eine ganze Person mit der Heiligen Dreifaltigkeit“249. Das geht so weit, dass Mechthild den Eindruck vermittelt, zwischen Gott und Mensch gäbe es eine vollkommene Identität in der Natur: „Ich muss von allen Dingen weg zu Gott hingehen, der mein Vater ist von Natur.“250 Und den Bräutigam ihrer Seele, Christus, lässt sie schließlich antworten: „Frau Seele, ihr seid so sehr in mich hineingestaltet, dass zwischen Euch und mir nichts sein kann.“251 Ein der Irrlehre Verdächtiger hätte das genauso sagen können. Möglichen Vorwürfen, sie verstoße gegen die katholische Gnadenlehre, antwortet Mechthild:
„Ich sprach in diesem Buche an einer Stelle darüber, dass Gott von Natur mein Vater ist. Dies hast du nicht verstanden und sagst: ‚Alles, was Gott mit uns getan hat, ist von Gnaden und nicht von Natur.‘ Du hast Recht, und ich habe auch Recht. Nun höre ein Gleichnis: Wie gute Augen ein Mensch auch hat, er kann über eine Meile Weges nicht hinaussehen. Wie scharfe Verstandessinne der Mensch auch hat, er kann unsinnliche Dinge nur mit dem Glauben verstehen, (sonst) tappt er wie ein Blinder in der Finsternis. Die liebende Seele, die alles liebt, was Gott liebt, und alles hasst, was Gott hasst, besitzt ein Auge, das Gott erleuchtet hat. Damit sieht sie in die ewige Gottheit, wie die Gottheit mit ihrer Natur in der Seele gewirkt hat. Er hat sie nach sich selbst gebildet, er hat sie in sich selbst eingepflanzt, er hat sich ihr unter allen Geschöpfen am allermeisten vereint; er hat sie in sich geschlossen und hat von seiner göttlichen Natur so viel in sie gegossen, dass sie nichts anderes sagen kann, als dass er in aller Vereinigung mehr als ihr Vater ist.“252
Von einer Identität zwischen Gott und Mensch, so Mechthild, kann nur im Sinne einer Identität des Willens gesprochen werden, „so dass das, was er [Gott] will, (auch) sie [die Seele] will, und anders können sie nicht in ganzer Einung vereint sein.“253
Im Unterschied zu den Ketzern im schwäbischen Ries ließen sich Mechthild und andere Beginen oder Klosterfrauen aber auf geistliche Begleitung ein, um nicht im Gegensatz zur Kirchenlehre zu stehen.254 Gerade dieser Dialog zwischen neuer Frauen- bzw. Laienspiritualität und kirchlicher Lehr- und Ordenstradition befruchtete das geistliche Leben der Kirche.255
Die Rieser Irrlehren wurden, wie das Gutachten Alberts weiter zeigt, von verschiedenen Seiten aus beeinflusst. Sie sind nicht einfach aus den Erfahrungen von ekstatischen Frauenerlebnissen zu erklären.256 Es finden sich Einflüsse der Amalrikaner; es gibt Übereineinstimmungen mit Katharern:
„Wie die Katharer haben die Ketzer im Ries gesagt, Christus habe bei seiner Passion nicht gelitten und sei nicht verletzt worden; auch über den Fall der Engel haben sie ähnliche, wenn auch unter sich nicht widerspruchslose Ansichten geäußert wie die Katharer, die mit den Gedanken der Frauenmystik und mit dem Vergottungserlebnis nicht das geringste zu tun haben. Andere Anschauungen haben die Rieser Ketzer ebenso mit den Katharern wie mit den Amalrikanern gemeinsam, teilweise sogar auch mit den Waldensern: sie glauben nicht an die Hölle und Fegefeuer, halten Engel und Dämonen nur für moralische Personifikationen menschlicher Tugenden und Laster, glauben nicht an die Auferstehung, auch nicht an die Auferstehung Christi.“257
Die im Ries als Ketzer Verurteilten vertraten, entgegen katharischer Lehre, keinen Dualismus von Gut und Böse, von Gott und Materie und einer daraus gefolgerten Läuterungsethik, sondern einen Pantheismus und teilweise wohl einen moralischen Indifferentismus258, welcher der Rechtfertigung einer bloßen Willkür dienen konnte.259
IV. Das freigeistige Denken im 14. Jahrhundert260
Im 13. wie im 14. Jahrhundert stand im Mittelpunkt des freigeistigen Denkens das „Erlebnis der Einigung des vollkommenen Menschen, des ‚guten Menschen‘ mit Gott, seine Gott-Werdung.“261 Durch die Gottwerdung werde der Mensch vollkommen und erlange einen freien Geist, die vollkommene Freiheit.262 Die freigeistige Lehre unterschied, wie in der rechtgläubigen christlichen Tradition, zwischen dem Anfänger und dem Vollkommenen. Der Vollkommene war der „freie Geist“. Für den Anfänger galt zunächst das Leben Christi als „Rahmen und Maßstab der ‚Verminderung‘ und ‚Vernichtung‘ des Eigenlebens“263: Wer die Freiheit des Geistes erlangen will, muss zunächst das eigene Selbst besiegen. Die oberen, geistigen Lebenskräfte sollen die niederen, sinnlichen Kräfte beherrschen.
Über das Leben der Freigeistigen im 14. Jahrhundert berichtet Johann von Brünn 1335. Er lebte zwanzig Jahre in einer freigeistigen Begardengemeinschaft („die willigen Armen“) in Köln, davon acht Jahre als „Vollkommener“. Später distanzierte er sich von seinem freigeistigen Leben, versöhnte sich mit der Kirche und trat in den Dominikanerorden ein.264 In Protokollen der Inquisition265 vermittelt er aus der Perspektive eines ehemaligen Eingeweihten einen Blick in das Leben einer vom freien Geiste beeinflussten Begardengemeinschaft.266 Über seinen Weg in die Begardengemeinschaft und sein Leben als „Anfänger“ berichtet er:
„Als ich in Brünn lebte und dort gesetzlich verheiratet war, hatte ich einen vertrauten Bekannten, den ich fragte, wie ich zu einem vollkommenen Leben gelangen könne. Er belehrte mich, dass das Leben der Begarden, die in der Armut lebten, vollkommener sei als jeder Stand auf der Welt. Denn sie lebten der Wahrheit des Evangeliums vollkommener nach als alle anderen Menschen, seien es Priester, Mönche oder Laien.“267
Der Bekannte rät Johann, alles Hab und Gut zu verkaufen, sich von seiner Frau zu trennen und den „willigen Armen“ beizutreten. Gegen den Willen seiner Frau verkauft Johann seinen ganzen Besitz, entlässt seine Frau und gibt ihr die Hälfte vom Erlös des Verkaufs. Mit der anderen Hälfte reist er nach Köln zum „Haus der Armen“. Dort bittet Johann um Aufnahme in die Gemeinschaft:
„Am Morgen aber fragte mich der Vorsteher, was ich bei den Armen und Verachteten mache, ob ich die freiwillige Armut befolgen und von allen verachtet werden wolle. Demütig antwortete ich ihm: ‚Gewiss, Bruder, ich wünsche bei euch zu bleiben, bis mich Gott zur Stufe der Vollkommenheit führt.‘ (Da sagte der Vorsteher:) ‚Bruder, wenn du bei uns bleiben willst, musst du alles in unsere Hände geben, das Geld und alles, was du hast. Wenn du vor die Brüder trittst, sollst du alles vor ihnen auf den Tisch legen, und wenn sie dir dann gebieten zurückzutreten, darfst du nicht stehen bleiben und noch irgendetwas von dem Geld zurücknehmen.‘ Als das geschehen war, nahmen sie mich in ihrem vollkommenen Leben auf. Darauf erklärte mir der Vorsteher folgendes über die Strenge des Ordens: ‚Der wahre Befolger der Armut hat nichts Eigenes, sondern ist ebenso entblößt von allen zeitlichen Dingen wie Christus am Kreuz.‘ “268
Daraufhin zieht sich Johann nackt aus und übergibt alles, was er besitzt, der Gemeinschaft. Mit einem aus hundert Flicken bestehenden Hemd bekleidet, wird er zusammen mit einem anderen Bruder zum Betteln in die Stadt geschickt. Um Christi willen sollen beide Verachtung und Spott der Menschen ertragen.
Wie bei den Irrlehren im Ries glauben die „freien Geister“ im Gegensatz zur kirchlichen Lehre, dass die „Gotteinung nicht aus Gnade, sondern aus eigener Fähigkeit“269 erfolge. Aus eigener natürlicher Kraft, ohne Gottes Hilfe, sei es dem Menschen möglich, seine Seele