Die Kraft des Weiblichen. Kristina Marita Rumpel
Sexualität. Bei der Geburt wirkt die universelle Schöpfungskraft unmittelbar im weiblichen Körper und ist keine transzendente Größe, die außerhalb des Körpers oder in tiefer Meditation erfahrbar ist, sondern für Frauen mit jeder Faser ihres Körpers spürbar. Sie durchströmt die Frau bei der Geburt in ihrer Ganzheit auf allen Ebenen.
Wenn in vielen Kulturen stattdessen die Gebärmutter oder Vulva als der Ort angesehen wurde und noch immer wird, durch den der Teufel in die Welt komme und über den die Erbsünde weitergegeben werde, so zeigt das auf drastische Weise, wie weit wir uns vom Ursprung entfernt haben. Wie das Christentum so konnten auch die anderen monotheistischen Weltreligionen nur durch die systematische Abwertung der Frau ihre Ansicht über die Welt und damit ihre Glaubensrichtung und Macht durchsetzen. Die Ausgrenzung von Frauen aus führenden Positionen in den Weltreligionen ist aus Sicht der geistlichen Klasse eindeutig damit zu begründen, dass ihnen der Platz in der Nähe der Göttlichkeit verwehrt werden musste, da sie sich sonst an die natürliche Nähe des Weiblichen zum Göttlichen erinnern würden. In der Folge kam viel Leid über die Frauen und dauert noch immer an. Aber nicht nur über sie, denn wenn der weibliche Körper und die weibliche Kraft das Tor zum Göttlichen und Paradies auf Erden sind, sind wir durch die Verkehrung der Zusammenhänge in einer lebensfeindlich gewordenen Welt alle von einem Leben in Freude, Frieden und Verbundenheit abgeschnitten.
Die weibliche Schöpfungsgeschichte
Die universelle Schöpfungskraft ist also eine durch und durch weibliche Kraft. Andrea Dechant (*1957), Malerin und Forscherin über den alten Göttinnenkult, schreibt dazu: »In nahezu allen Mythen, Religionen und Kulten wird der Schöpfungsakt, dieses Ur-Gebären entweder einer weiblichen Gottheit zugeschrieben oder einem Götterpaar. Auch unter dem uns bekannten ›Heiligen Geist‹ verstand man seit jeher eine göttliche Kraft mit eindeutig weiblichen Zügen. Personifiziert und verehrt als Sophia, die große Muttergöttin des Juden- und Christentums, welche der Welt das Licht brachte und von Ewigkeit her eingesetzt war. Sophia ist die verkörperte Frau Weisheit. Alles ist möglich in diesem Urzustand. Sophia tanzt – leicht wie die Zeit – ihren kosmischen Tanz. Ihre Schwingung ist der wilde Urknall, dem Wirbel, Bewegungen, Töne entsprangen, Räume, Zukünfte, erste Vergangenheiten. Sie erstreckt sich über das sich freudig ausdehnende All. Sie manifestierte sich aus dem Absoluten, dem Urklang und ist als dynamische Energie während des gesamten Schöpfungsaktes die treibende, die weise, die kreative Kraft. Was für ein anderes Bild der biblischen Schöpfungsgeschichte. Was für eine Lebensfreude, die daraus spricht.« (Quelle: www.flowbirthing.de, Blogbeitrag Weibliche Schöpfungskraft vom 24. Mai 2015).
Der weibliche Urgrund führt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Er öffnet Raum und Zeit für das Leben.
Dieser Schatz der Menschheit schien verloren, seit wir vergessen haben, an Pfingsten Sophias zu gedenken. Pfingsten ist die Feier der weiblichen Schöpfungskraft mit ihrem ganzen Ideenreichtum, der Weisheit, die von Beginn an da war. Dass wir uns dennoch daran erinnern, liegt daran, dass bei der Umschreibung die alten Symbole verwendet werden mussten, um die Menschen in ihrem alten Glauben mitzunehmen. Und da an Pfingsten symbolisch noch immer die Taube im Mittelpunkt steht, können wir nachvollziehen, dass hier eigentlich die Urmutter gefeiert wird. Die Taube ist seit jeher ein Symbol der Urmütter.
Im Volksglauben überlebt
In Europa hat sich der Glaube an die Große Göttin in der Verehrung der Mutter Maria erhalten. Mutter Maria wird meist im blauen Gewand dargestellt, eine Farbe, die ursprünglich für das Weibliche galt, bis es zur Farbe für Jungen wurde. Dass Maria in einer Linie mit der Großen Göttin steht, verrät schon die Bibel: Marias Mutter heißt Anna. Anna oder Hannah leitet sich vom iranischen Wort hana, Großmutter und Stammmutter, ab. Die Große Göttin wurde im gesamten mittleren Osten unter diesem Namen als Königin und Schöpferin verehrt. Sie ist es, die die Menschen seit Urzeiten liebevoll verehren und die Wunder wirkt. Auch im Islam wird die Große Göttin in Gestalt Fatimas als fiktive Tochter Mohammeds oder auch Mutter ihres Vaters verehrt. Auch ihr Name bedeutet Schöpferin; ist sozusagen das östliche Gegenstück zur Mutter Maria. Beide haben gemeinsam, dass sie zu sterblichen Menschen herabgestuft wurden, im Volksglauben aber bis heute ihre Kräfte beibehalten haben.
In der christlichen Welt beten Hilfe suchende Menschen vorrangig noch immer zur barmherzigen Mutter Maria. Die katholischen Wallfahrtsorte sind überwiegend der heiligen Maria gewidmet. Ob Lourdes oder Altötting – durch einen Buchstabenverdreher ist in Altötting (= Alt-Göttin) die Alte Göttin sogar noch im Namen präsent –, all diese Orte stehen auf alten heiligen Plätzen der Großen Göttin, an denen die Menschen Zuflucht im Schoß der Urmutter suchten. Die Schwarze Madonna von Altötting symbolisiert darüber hinaus in plastischer Weise die Große Göttin in ihrer dreifachen Gestalt. Auch diese Eigenschaft der Großen Göttin, die auch Dreifache Göttin genannt wird, ging im Konzept der Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist auf. Die Dreieinigkeit steht ursprünglich für den Lebenszyklus aus Geburt, Leben und Tod und drückt sich auch in den Urfarben des Lebens Weiß, Rot und Schwarz aus. Die drei Farben drücken zudem den Reifungsprozess einer jeden Frau von der jungen Frau über die Mutter bis hin zur weisen Frau aus.
In Lourdes erschien dem Mädchen eine weiße Frau: eine Beschreibung der Großen Göttin.
Die weibliche Kraft ist das verbindende Element zwischen den Kulturen, Nationen und Geschlechtern. Wir alle sind die Töchter und Söhne der einen Großen Mutter.
Die Dreiteilung des Lebens und die drei Gestalten der einen Göttin finden sich in allen Kulturkreisen der Welt wieder und strukturiert das Labyrinth als Ursymbol des Lebens.
Trotz großer Verschiedenheiten der Kulturen und vermeintlich unüberbrückbaren Differenzen speist sich aus der Allgegenwärtigkeit der Urmutter allen Seins auch heute noch ihre Faszination – und darin liegt für die Zukunft ihre Integrationskraft für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen. Außer den Grundemotionen, die bei allen Menschen weltweit gleich sind, gibt es wohl kaum noch andere Beispiele, die mit so großer Übereinstimmung über den ganzen Erdball hinweg geteilt werden. Weltweit erinnern sich dieser Tage Frauen wieder an ihre gemeinsame Kultur.
Die Beschäftigung mit dem weiblichen Urgrund allen Seins ist für viele Menschen schwer verdauliche Kost. Zu groß ist die Angst vor einer notwendigen Veränderung der eigenen Weltsicht. Es ist ein äußerst schmerzlicher Vorgang, sich eingestehen zu müssen, dass unsere kulturelle Identität, alles, was wir über das Leben zu wissen glaubten und für selbstverständlich hielten, von Menschen erdacht wurde und keinen tieferen Wahrheitsanspruch hat. Doch durch dieses Nadelöhr müssen wir gehen! Denn wie wollen wir eine Veränderung der zerstörerischen Weltordnung erreichen, wenn wir nicht ganz grundlegend zu akzeptieren lernen, woher wir kommen und wer wir sind? Voraussetzung für ein selbstzufriedenes Leben ist die Kenntnis der eigenen Wurzeln. Verweigern wir dem Kind die Wahrheit über die Vaterschaft, halten wir dies zu Recht für eine Menschenrechtsverletzung. Dasselbe gilt in größerem Maßstab für die Wurzeln der Menschheit. Es geht nicht darum festzulegen, ob Gott nun männlich oder weiblich ist, das werden wir auf Erden wohl nie klären können. Doch geht es darum anzuerkennen, dass das Leben, das uns umgibt, weiblichen Ursprungs ist. Unser Mut für diese Sichtweise wird belohnt mit einer ungeahnten Freude und Leichtigkeit. Die Freiheit, einfach zu sein, geht Hand in Hand mit dem Vertrauen auf die weibliche Kraft.
Wer das Leben verstehen will und in Harmonie mit allem, was uns umgibt, leben will, braucht Verständnis für die weiblichen Qualitäten, die noch heute das Geheimnis des Lebens ins sich tragen. Die Deutung mag ungewohnt sein, die Sachlage erdrückend. Akzeptanz ist unbestritten die Vorbedingung für jede Veränderung im Leben. Nur daraus erwachsen die Stärke und das Vertrauen, welche für den Wandel notwendig sind. Im Übrigen ist Akzeptanz eine positive männliche Kraft, wie wir noch erfahren werden, und Wandel das Urprinzip des Weiblichen. Gemeinsam kann es uns also gelingen, das Rad der Geschichte in eine positive Richtung weiterzudrehen. Beim kollektiven Aspekt der weiblichen Kraft geht es genau darum: das Rad weiterzudrehen, um das Urweibliche als lebensfördernde Kraft aufsteigen