Spessartblues. Günter Huth

Spessartblues - Günter Huth


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Sie hat keine Nachricht hinterlassen, nichts! Hast du vielleicht eine Telefonnummer von Moritz? Ich muss unbedingt mal bei ihm anrufen.«

      Die Antwort kam etwas zögerlich. »Ich habe Ronja nur gelegentlich gesehen. Es waren ungefähr zwanzig Leute auf der Party. Die haben sich auf die Räume in der Wohnung verteilt. Mir ist wirklich nichts aufgefallen. Die Mobilfunknummer von Moritz kann ich Ihnen geben.« Sie diktierte die Nummer und Frau Schönbrunn schrieb hastig mit.

      »Emma, kannst du Ronja bitte in der Schule entschuldigen? Sag der Klassleiterin, dass sie unpässlich ist und ich die Entschuldigung nachreichen werde. Unser Gespräch erwähne besser nicht.«

      Emma sagte das zu, dann war das Telefonat beendet. Theresa Schönbrunn war sich nicht sicher, ob Emma ihr die volle Wahrheit gesagt hatte. Mädchen in diesem Alter hatten ihre Geheimnisse, die sie nur mit der besten Freundin teilten. Es war gut möglich, dass Emma ihr aus falsch verstandener Solidarität etwas verschwieg. Sie dachte im Augenblick nicht weiter darüber nach. Der Anruf bei diesem Moritz Adler hatte jetzt absolute Priorität.

      »Ja!«, kam kurz und knapp eine männliche Stimme aus dem Telefon. Frau Schönbrunn nannte ihren Namen und erläuterte kurz den Grund ihres Anrufs. Aus dem Hörer kam ziemlich laute Rockmusik.

      »Einen Moment bitte«, erklärte Adler mit erhobener Stimme, »ich mach’ die Musik mal leiser.« Einen Moment später wurde das Nebengeräusch deutlich erträglicher. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Schönbrunn, wollen Sie wissen, wann Ronja von meiner Party nach Hause gegangen ist. Wieso? Ist irgendetwas?« Aus seiner Stimme glaubte sie eine gewisse Vorsicht herauszuhören.

      Frau Schönbrunn wiederholte den Grund ihres Anrufs.

      »Haben Sie vielleicht bemerkt, dass meine Tochter sich irgendwie auffällig benommen hat? Hatte sie vielleicht etwas getrunken?«

      »Ich hatte natürlich nicht jeden meiner Gäste ständig im Auge, aber ich habe nichts bemerkt, was mir als auffällig in Erinnerung geblieben wäre. Was den Alkohol betrifft, hatte ich für die Kids alkoholfreie Cocktails im Angebot. Es gab aber auch welche mit Stoff … für die Älteren. Wer was getrunken hat, habe ich natürlich nicht kontrolliert. – Was ist denn passiert?«

      Frau Schönbrunn schilderte ihm nochmals ihre Sorge.

      »Tut mir leid«, erklärte Moritz Adler, »aber ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Offenbar war Ronja pünktlich zu Hause. Warum sie sich wieder davongeschlichen hat, weiß ich nicht. Auf meine Party ist sie dann jedenfalls nicht mehr gekommen.«

      Theresa Schönbrunn bedankte sich und beendete das Gespräch. Schließlich fasste sie einen Entschluss. Sie griff erneut zum Telefon und wählte die Nummer ihres Vorgesetzten im Amtsgericht Gemünden. In der Schreibkanzlei des Zivilgerichts hatte sie eine Ganztagsstelle. Sie erklärte ihm, sie habe sich am Wochenende offenbar eine Magenverstimmung zugezogen und könne deshalb heute nicht zum Dienst erscheinen. Es ging ihr zwar gründlich gegen den Strich, eine derartige Ausrede gebrauchen zu müssen, aber es blieb ihr jetzt keine Zeit für aufwändige Erklärungen. Nach dem Gespräch legte sie das Telefon beiseite und eilte ins Bad. Zehn Minuten später schnappte sie sich ihren Schlüsselbund und hastete aus dem Haus. Auf dem Küchentisch hinterließ sie sicherheitshalber eine Nachricht für Ronja mit der Bitte, sie umgehend anzurufen, wenn sie nach Hause käme. Ihr VW-Golf parkte direkt vor dem Haus. Sie musste etwas unternehmen, sonst würde sie vor Sorge durchdrehen. Sie fand einen Parkplatz am Main. Eilig durchschritt sie ein kleines Tor in der Stadtmauer und erreichte kurz danach die Polizeidienststelle an der Hauptstraße.

      Hinter dem Tresen im Eingangsbereich saß ein älterer Beamter in Uniform vor einem Computerbildschirm. Als Theresa Schönbrunn eintrat, hob er den Kopf und fragte: »Was kann ich für Sie tun?« Er besaß reichlich berufliche Erfahrung und erkannte sofort die Erregung der Frau. Der Polizist erhob sich und kam nach vorne an den Empfangstresen.

      »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, erklärte Frau Schönbrunn mit mühsam beherrschter Stimme.

      »Wen vermissen Sie denn?«, fragte er in einem väterlichen Tonfall, der der Frau etwas die Erregung nehmen sollte.

      Hastig sprudelte Theresa ihr Anliegen heraus. Der Polizeibeamte hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach sie nicht. Irgendwann ging ihr die Luft aus und sie atmete durch.

      »Frau Schönbrunn, wenn ich das richtig verstanden habe, vermissen Sie Ihre Tochter erst seit heute Morgen?«

      »Ganz so stimmt das nicht, ich habe lediglich erst heute früh ihre Abwesenheit bemerkt. Wahrscheinlich ist sie schon gestern Nacht aus der Wohnung verschwunden.«

      Der Polizist wiegte den Kopf. »Gute Frau, Sie sagen, Ihre Tochter ist fünfzehn Jahre alt. Wahrscheinlich mitten in der Pubertät. Ich will Ihnen mal sagen, welche Erfahrungen wir hier in Karlstadt mit derartigen Vermisstenfällen haben. Ich bin bereits seit mehr als zehn Jahren in dieser Polizeidienststelle tätig. Bis jetzt hatten wir vor ungefähr acht Jahren einen Fall, in dem ein Mädchen tatsächlich verschwunden war. Alle anderen Anzeigen erledigen sich von selbst, weil die betreffenden Teenager innerhalb von achtundvierzig Stunden reumütig wieder zu Hause auftauchen.

      Ich habe selbst eine Tochter und ich weiß, welche Sorgen man sich macht, wenn das Mädchen einmal ausbleibt. Sie haben gesagt, Ronja war auf einer Party. Ich denke mir, sie ist pünktlich nach Hause gekommen, damit sie zufrieden waren, und dann ist sie ganz einfach wieder abgehauen. Wahrscheinlich hat ihr auf der Feier irgendein Junge den Kopf verdreht und sie wollte nicht als spießig dastehen, weil sie pünktlich nach Hause musste.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Gehen Sie heim und warten Sie ab. Vielleicht ist sie jetzt schon dort und wartet darauf, dass Sie Ihr den Kopf waschen.« Er lächelte verbindlich, dann fuhr er fort: »Sollte wider Erwarten das Mädchen nach zwei Tagen tatsächlich noch nicht aufgetaucht sein, dann kommen Sie bitte wieder her und ich nehme Ihre Anzeige auf. Mehr kann ich im Augenblick leider nicht für Sie tun.«

      »Aber …!« Theresa Schönbrunn wollte aufbegehren, weil der Beamte ihrer Meinung nach die Sache zu leichtnahm. Sie riss sich dann aber zusammen, weil ihr klar war, dass der Polizist im Augenblick nichts unternehmen würde. Aus ihrer gerichtlichen Praxis wusste sie, es waren Fristen zu beachten, ehe der Polizeiapparat in Gang gesetzt wurde, um eine vermisste Person zu suchen. Sie bedankte sich knapp und verließ das Gebäude. Draußen stand sie für einen Augenblick verloren auf der Straße herum und blickte sich ratlos um. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass sie im Augenblick mit ihrem Latein am Ende war. Alles in ihr schrie danach, etwas zu unternehmen. Aber was? Als sie vor sechzehn Jahren schwanger wurde, war sie gerade mal neunzehn Jahre alt gewesen. Nur vier Jahre älter als Ronja heute. Für Theresas alleinerziehende Mutter, die sich und ihre Tochter mit mehreren Jobs durchbrachte, brach damals eine Welt zusammen. Für Theresa war von Anfang an klar, dass sie dieses Kind behalten wollte. Gegen die Widerstände ihrer Mutter. Der Vater war eine Partybekanntschaft gewesen. Ein Austauschstudent aus Colorado, der vor Ronjas Geburt schon wieder in die Staaten zurückgekehrt war. Mit Hilfe ihrer Mutter, die ihre Enkelin dann abgöttisch liebte, kam sie einigermaßen über die Runden. Eine deutliche Besserung trat ein, als sie eine Halbtagsstelle beim Amtsgericht in Gemünden angeboten bekam und Ronja eine Kita besuchen konnte. Mittlerweile war Ronja sehr selbständig, so dass sie selbst ganztags arbeiten konnte. Obwohl sie mit vierunddreißig Jahren noch eine recht junge Mutter war, spielten Männer in ihrem Leben keine Rolle mehr. Ronja war ihr Leben!

      Sie riss sich aus ihren Gedanken und hastete zu ihrem Auto. Vielleicht hatte der Polizeibeamte recht und Ronja war zwischenzeitlich tatsächlich wieder da. Nur mühsam konnte sie sich auf den Verkehr konzentrieren. Zuhause angekommen, schloss sie hoffnungsfroh die Tür auf, fand jedoch nur eine menschenleere Wohnung vor. Völlig verzweifelt überlegte sie, wen sie um Hilfe bitten könnte.

      5

      Simon Kerner verließ mit den beiden Schöffen im Gefolge seinen Sitzungssaal. Draußen verabschiedete er sich von ihnen und dem Staatsanwalt, dann eilte er in sein Dienstzimmer zurück, das er durch den separaten Eingang betrat. Das Klopfen


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