Spessartblues. Günter Huth
den dritten Bocksbeutel öffnen wollte, läutete Brunners Mobiltelefon. Der Kriminalkommissar verdrehte wegen der späten Störung die Augen, nahm das Gespräch aber an. Nachdem er einige Zeit wortlos gelauscht hatte, erklärte er: »Ich bin gerade bei einem Freund und habe einige Gläser Wein getrunken. Bin also nicht mehr fahrtüchtig. Veranlassen Sie bitte, dass die Polizeiinspektion Karlstadt mir eine Streife vorbeischickt, die mich hier abholt und nach Würzburg fährt.« Er gab noch Kerners Adresse durch, dann legte er auf.
»Ärger?«, fragte Kerner und stellte die noch nicht geöffnete Flasche auf den Tisch zurück.
»Simon, es tut mir sehr leid, aber ich muss sofort nach Würzburg zurückfahren.«
Simon Kerner sah Brunner fragend an.
»Der Verletzte, von dem ich dir vorhin erzählt habe, hat sich anscheinend vom Balkon seines Krankenzimmers hinabgestürzt. Wie es aussieht, Selbstmord. Aber nach den Gesamtumständen des Falles muss man das genauer ermitteln. Es wäre ja auch denkbar, dass der Täter sein Werk vollenden wollte.«
Zwanzig Minuten später hörten sie das schnell näherkommende Signal einer Polizeisirene. Kerner begleitete seinen Freund bis vor das Haus, wo Brunner sich auf die Rückbank eines Streifenwagens gleiten ließ, der sofort lospreschte, auf dem Wendehammer vor Kerners Haus mit quietschenden Reifen wendete und sich mit hoher Geschwindigkeit auf den Weg nach Würzburg machte.
Kerner ging zurück ins Haus. Sofort verspürte er wieder dieses bedrückende Gefühl der Einsamkeit. Er schaltete den Fernseher ein, setzte sich auf die Couch und öffnete die dritte Weinflasche. Vielleicht trug der betäubende Alkohol dazu bei, dass er in dieser Nacht von bedrückenden Albträumen verschont blieb.
Der Wecker neben Theresas Bett klingelte pünktlich um sechs Uhr dreißig. Mit seiner elektronischen Dreistigkeit schaffte er es, Theresa Schönbrunn aus einem angenehmen Traum zu reißen. Im Halbschlaf schlug sie heftig auf die Schlummertaste, worauf das Gerät prompt verstummte. Sie wusste, bis zum nächsten Weckintervall würde eine Gnadenfrist von drei Minuten vergehen, ehe das lästige Geräusch erneut in ihr schlaftrunkenes Gehirn eindringen würde. Sie gähnte herzhaft und vernehmlich, dann schlug sie entschlossen die Bettdecke zurück und setzte die Füße auf den Bettvorleger. Es half ja alles nichts, ein neuer Tag verlangte sein Recht. Mit einem Blick zum Fenster erkannte sie durch die Schlitze der herabgelassenen Jalousien einen sonnigen Lichtschimmer, Zeichen für einen regenfreien, sonnigen Tag. Sie erhob sich, schlüpfte in ihre Pantoffel, zog das nach oben gerutschte Longshirt zurecht, das sie als Nachthemd trug, und schlurfte in Richtung Bad. Gewohnheitsmäßig kämmte sie sich mit den Fingern ihre halblangen, zerwühlten brünetten Haare aus dem ovalen Gesicht. Die härteste Aufgabe dieses Montagmorgens stand ihr noch bevor: Sie musste ihre 15-jährige Tochter Ronja wecken, mit der sie als alleinerziehende Mutter eine Dreizimmerwohnung in Karlstadt bewohnte. Ronja war es am Wochenende durch massives, Nerv tötendes Quengeln gelungen, sie zu bewegen, ihr am Sonntagabend den Besuch der Geburtstagsparty von Moritz, ihrem Trainer aus dem Judo-Club, zu erlauben. Theresa kannte den jungen Burschen persönlich. Er war ganz in Ordnung. Ronja versicherte ihr hoch und heilig, spätestens um 23:00 Uhr zu Hause zu sein. Da ihre Tochter eine gute Schülerin und für Montag keine Klassenarbeit angesetzt war, ließ sich Theresa breitschlagen. Tatsächlich betrat Ronja wenige Minuten nach der vereinbarten Zeit die Wohnung und hatte sich gleich in ihr Zimmer verabschiedet.
Theresa öffnete leise die Tür zu Ronjas Zimmer. In der Ecke, behütet von großflächigen Plakaten mit diversen Teenie-Stars der Musikbranche, stand das Bett. Der Weckruf blieb ihr allerdings im Halse stecken. Völlig verwirrt stand sie vor den leeren Kissen. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, das Laken zerwühlt, von ihrer Tochter jedoch weit und breit nichts zu sehn. Was sie zusätzlich stutzig machte, war Ronjas Pyjama, zusammengelegt auf einem Stuhl neben dem Bett. Auf dem Schreibtisch lagen die Schulsachen, so wie sie Ronja ihrer Erinnerung nach gestern zurückgelassen hatte. Sie trat in den Flur zurück.
»Ronja!?« Laut rief sie den Namen ihrer Tochter in die Wohnung. In der Küche konnte sie nicht sein, denn die Tür war angelehnt und durch den Spalt kam kein Licht. Sie öffnete die Wohnzimmertür und blickte hinein. Auch hier keine Spur von dem Mädchen. Mit einem unguten Gefühl, das von Minute zu Minute stärker wurde, kontrollierte sie das Schlüsselbrett in der Nähe der Eingangstür. Ronjas Schlüssel fehlte! Hastig eilte sie in die Küche, knipste das Licht an und warf einen Blick auf den Küchentisch. Die Tischplatte war leer. Keine Nachricht, wie das sonst üblich war, wenn Ronja einmal unangemeldet die Wohnung verließ. Theresa wurde es ganz schlecht. Wo war ihr Kind? Da hatte sie eine Idee. Sie eilte in das Schlafzimmer und griff sich ihr Smartphone, das sie, wie üblich, vor dem Zubettgehen auf Lautlos gestellt hatte. Wahrscheinlich hatte ihr Ronja eine Kurznachricht geschickt. Aber auch hier wurde sie enttäuscht. Mit einem Anflug von Ratlosigkeit setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte ihre Gedanken in den Griff zu bekommen. Sie musste telefonieren! Theresa eilte in den Flur und griff sich das schnurlose Telefon. Wie lautete Moritz’ Nummer? Wie hieß der Junge wieder mit Familiennamen? Adler, ja, Moritz Adler! Ein Blick in die Kontaktliste des Mobilteils zeigte ihr, dass der Name nicht verzeichnet war. Auch unter Moritz fand sie nichts. Wie auch? Die Kids kommunizierten doch nur noch über WhatsApp oder, wenn sie telefonierten, dann nur mit dem Smartphone. Ein Festnetzanschluss war etwas für die Alten. Facebook! Natürlich, das war’s! Sie eilte ins Wohnzimmer und klappte ihren Laptop auf. Selbstverständlich war Ronja in Facebook aktiv. Vor einem Dreivierteljahr hatte sie sich ebenfalls einen Account eingerichtet. Sie hatte das Gefühl gehabt, sie müsste hin und wieder nachsehen, was Ronja im Netz so trieb. Sie loggte sich ein und rief die Seite ihrer Tochter auf. Ronja hatte 237 Freunde. Auch so ein Phänomen dieses Mediums, mit derart vielen Menschen befreundet zu sein, die man aber nur zum geringen Teil persönlich kannte. Hastig suchte sie nach einem Moritz. Wie sie sah, war Ronja gestern Abend, bevor sie zu der Party ging, letztmals online gewesen. Mittlerweile waren eine ganze Anzahl Posts eingegangen, die sich mit dieser gestrigen Feier beschäftigten. Kein Moritz dabei. Sie betrachtete angespannt die Bilder, die einige online gestellt hatten. Auf einem der Fotos erkannte sie Ronja. Ihre rote Kurzhaarfrisur war unübersehbar. Mit einer Bierflasche in der Hand lehnte sie, auf einer Couch sitzend, an der Brust eines jungen Mannes, der, seinerseits mit einem Getränk in der Hand, in die Kamera grinste. Bedauerlicherweise fand sich aber kein näherer Hinweis darauf, wer dies war. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Seit sie Ronjas Abwesenheit festgestellt hatte, war bereits eine halbe Stunde vergangen. Sie musste sich fertigmachen und ins Büro! Ohne Ronjas Abwesenheit aufgeklärt zu haben, ging das aber nicht. Sie suchte in Facebook nach dem Jungen, aber er hatte seinen Account so abgeschottet, dass nur Freunde darauf zugreifen konnten. Sie griff erneut zum Telefon und wählte die Nummer von Ronjas Freundin Emma. Die beiden Mädchen gingen in dieselbe Klasse. Sie war sicher, dass auch Emma bei dieser Party gewesen war.
»Köhler«, meldete sich nach dem zweiten Läuten eine Frauenstimme.
»Guten Morgen, Frau Köhler, entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber ich habe da ein Problem. Meine Ronja war gestern auf der Party von diesem Moritz. Sie ist auch zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause gekommen. Als ich sie heute Morgen wecken wollte, war sie allerdings nicht da. Sie muss heimlich noch einmal weggegangen sein, ohne mir etwas zu sagen. Ich bin total beunruhigt! Emma war doch sicher auch dort? Vielleicht hat sie was mitbekommen, weshalb Ronja sich nochmals davongestohlen haben könnte.«
»Guten Morgen, Frau Schönbrunn«, erwiderte Frau Köhler, »das ist ja wirklich komisch. Es stimmt, Emma war auch auf der Party. Warten Sie mal, ich frage sie.«
Theresa Schönbrunn hörte, dass die Frau ihre Tochter rief. Nach kurzem Hintergrundgemurmel ging das Mädchen ans Telefon.
»Hallo, Frau Schönbrunn, Mama sagt, Ronja ist nicht nach Hause gekommen? Das verstehe ich nicht, weil sie praktisch gleichzeitig mit mir gegangen ist.«
»Sie ist ja auch nachhause gekommen. Aber dann heimlich wieder weg. Hat sie irgendetwas zu dir gesagt? Hat sie sich mit jemandem auf der Party intensiver beschäftigt? Einem Jungen vielleicht?«
Die Leitung blieb einen