Medizin als Heilsversprechen. Herbert Meyer

Medizin als Heilsversprechen - Herbert Meyer


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Entwicklung eine Gefahr verbunden ist, bleibt dabei offen: ob die Institutionen des Gesundheitssystems dadurch überfordert werden, ob eine religiöse Aufladung das medizinische Handeln selbst verfälscht und in diesem Sinne ein ethisches Problem darstellt oder ob der Verlust der eigentlich religiösen Erfahrung für ein Leben in Menschlichkeit bedrohlich ist. Ausgedrückt wird lediglich eben die Sorge, dass der Ersatz moralische Folgen hätte, die von Gewicht sind.

      Im Sinne dieser ersten, an der gegenwärtigen Lebenswelt erhobenen Beschreibung der vorsichtig charakterisierten quantitativen und qualitativen Konvergenz zwischen Erwartungen an Medizin und religiösem Glauben wird das Forschungsprojekt der vorliegenden Untersuchung in seiner Zielrichtung klar. Das Ziel dieser Studie ist es, auf dem Hintergrund der konkreten Strukturen heutiger Erwartungen an Medizin und Glaube die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung theologischethisch zu reflektieren. Es geht dabei – das ist im Sinne einer deutlichen Abgrenzung der Möglichkeiten und der limitierten Zielrichtung der Untersuchung zu verstehen! – nicht um Qualitätsmanagement für das medizinische Handeln, für das moderne Gesundheitswesen, für das heutige Arzt- oder Patientenethos oder gar für medizinische Produkte, und geht es geht auch nicht um Rechtgläubigkeit im Sinne theologischer Unterscheidung und lehramtlicher Autorität innerhalb postmoderner pluraler und oft subjektivistischer Sinnsuche. Die Reflexion auf die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung, religiöser Erwartung und medizinischer Option, die in der Analyse dieser Arbeit versucht wird, dient einem allerersten Ansatz, um auch im modernen Kontext Glaube und Medizin ethisch verantworten zu können. Die wissenschaftlich vorgenommene Differenzierung in den gegenwärtigen Tendenzen der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube soll helfen, Sachgerechtigkeit und Komplexität als Basis von Ethik zu sichern.

      Dabei bewegt sich die Studie in einem vierfachen Schritt, um ihre Ergebnisse begründen zu können.

      Im ersten Teil werden die vielfältigen intuitiven und normierten Definitionen von Gesundheit und Heil im Sinne der gesellschaftlichen Vorstellungen und der wissenschaftlichen, also medizinischen bzw. theologischen Standards der Gegenwart zum Ausgangspunkt genommen. Dabei zeigt sich in den Definitionen die osmotische Offenheit dieser Begriffe füreinander im Sinne der schon angedeuteten Kaskade der Sehnsucht: der Wunsch nach alltäglichem Leben in Gesundheit und Freude und die darin irgendwie präsente Hoffnung auf eine noch größere, umfassende Integrität.

      Genau diese sich steigernde Erwartung wird im Sinne der religionssoziologischen Definition religiöser Erfahrung in ihrer Funktion als Kontingenzbewältigung (Niklas Luhmann) mithilfe von „kleinen“ und „großen Transzendenzen“ (Thomas Luckmann) zu deuten versucht: Lässt sich der These folgen, dass der Einsatz für ein Leben in Gesundheit heute gegenüber der „großen Transzendenz“, der Hoffnung auf Gottes Heil, konkret und erfahrbar in den Vordergrund gerückt ist, die „kleine Transzendenz“ der Gesundheitswünsche also der großen gewissermaßen den Rang abgelaufen hat? Als Ausdruck der Diesseitsreligion, der Verlagerung der Sehnsucht nach Geborgenheit des Lebens in das Hier und Jetzt? In solchen Fragen geht es um die Überprüfung der von der Moraltheologie formulierten Sorge übersteigerter Ansprüche an die Gesundheit als „Ersatzreligion“.

      Im zweiten Teil wird zur Klärung einer solchen Bewertung das Ergebnis einer empirischen Untersuchung zu Erwartungen von Patienten an Medizin und religiösem Glauben vorgestellt. Anhand von Fragestellungen soll dabei das Zueinander zwischen kleinen und großen Transzendenzen im Kontext der Erwartungen an Gesundheit und Heilung/ Heil ergründet werden, und zwar im Spiegel der an das medizinische oder kirchliche Personal herangetragenen Wünsche nach gesundheitlicher Heilung, medizinischer Linderung, aber auch nach Rat, Unterstützung, Orientierung, Führung, ja Hoffnung, innerem Frieden und Trost.

      In einem dritten Teil werden die erfragten Erwartungen in ihrer theologischen Qualität mithilfe einer Analyse neutestamentlicher Heilungserzählungen abgesichert. Die biblischen Heilungsgeschichten zeigen eine Dynamik, welche von konkreten Erwartungen der Hilfesuchenden an Jesus und seine Jünger zur „tieferen“ Ebene gläubiger Hoffnung führt. Diese Dynamik lässt sich – im Sprachgewand heutiger Religionssoziologie – als Erfahrung großer Transzendenz durch die Vermittlung kleiner Transzendenz verstehen: Neben der Hoffnung auf ganz konkrete physische Gesundung steht damit – ja auch noch einmal neben der Frage nach zunächst psychischer Integrität (Unterstützung, Führung, Rat, Orientierung) – eine Ebene ganzheitlicher Erfüllung, Befriedigung, Geborgenheit und Integrität infrage (Trost, Hoffnung, innerer Friede), die über die konkrete diesseitige Erfahrung irgendwie hinausführt und deshalb in die Dimensionen „großer Transzendenz“ verweist.

      Lässt sich in der empirischen Untersuchung der Erwartungen von Menschen an Medizin und religiösem Glauben zeigen, dass diese theologische Zuordnung zwischen dem Verlangen nach Heilung körperlicher und psychischer Gebrochenheit und der Sehnsucht nach einer letzten Geborgenheit und Vollkommenheit bei Gott (dem Heil) als innerem Verweiszusammenhang verloren gegangen ist? Anders gefragt: Ist die große Transzendenz der Hoffnung auf Gott durch das bloße Heilungsbegehren ohne tieferen Blick auf eine letzte Geborgenheit des Lebens verdrängt worden?

      Es wird sich im vierten und fünften Teil dieser Untersuchung zeigen, dass jede vereinfachende und undifferenzierte Behauptung von Ersatzmechanismen der Komplexität des Verhältnisses zwischen Glaube und Medizin heute nicht gerecht werden kann. Die konkreten Ergebnisse der empirischen Untersuchung gegenwärtiger Erwartungsstruktur werden demgegenüber vielmehr ausführlich im Blick auf verschiedene Bedeutungsfelder hin ausgewertet. So soll am Ende die kritische theologisch-ethische Analyse der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube stehen, wie sie für die Gegenwart von Relevanz ist.

      Die vorliegende Untersuchung lässt sich dabei in ihrer theologischen Perspektive von dem beschriebenen Vorverständnis im Sinne der angedeuteten Konturen leiten und versucht sie kritisch zu bewerten. Vereinfacht ausgedrückt: Die unübersehbare Sehnsucht und Suche der Menschen sowohl nach „Heilung und Gesundheit“ als auch nach „Glückseligkeit und Heil“ zeichnen den Menschen als transzendentes Wesen aus, das immer über sich selbst hinaus verweist. Der Mensch will gesund sein und ein heilvolles Leben er-leben. Er sehnt sich zeit seines Lebens immer nach einer umfassenden Absicherung der „Integrität“ seines Lebens. In Zeiten der Krankheit sehnt sich der Mensch nach Heilung und Gesundheit. In Zeiten der Gesundheit sehnt er sich danach, diese zu erhalten und ist auf der Suche, diese Sehnsucht zu stillen. In den noch so glückseligen Momenten seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens möchte er diese festhalten und weiß doch, dass dies unmöglich ist, da sein Leben ständigem Wandel unterworfen ist. Und so ist sein Leben selbst in diesen Momenten von einer Sehnsucht gezeichnet, die er immer wieder neu zu erfüllen sucht.

      Um die Dynamik, die Umschichtungen und „Bewegungen“ in den Erwartungen von heute an Gesundheit und Glaube im Sinne der Beziehung zwischen „kleiner“ (körperliche Gesundheit) und „großer“ (Sehnsucht nach innerem Frieden und Heil) Transzendenz angemessen in den Blick zu bekommen sowie differenziert beschreiben zu können, muss die dahinterstehende Struktur der Erwartung an Medizin und Glaube im Blick auf die Formen und Orte verstanden werden, in denen Gesundheit und Heil zum Gegenstand der Hoffnung wird. Aber darüber hinaus muss verstanden werden, wer der Adressat dieser Erwartungen und ihrer Intentionen eigentlich ist. Ja, in einem letzten Schritt stellt sich auch die Frage danach, auf welche Weise und in welchen Lebensbezügen die Erfüllung der Suche nach Heilung und Heil im Sinne der ganzheitlichen Dimensionen (somatisch und emotional) erfahren wird. Darüber hinaus ist der „Umgang“ mit der Verweigerung dieser Erfüllung zu erheben. Das heißt, es geht um die Erforschung, inwieweit Menschen selbst diese Erfüllung als Möglichkeit oder Unmöglichkeit erleben, welche Instanzen ihnen diese Erfüllung nach ihrer Erfahrung zu erschließen vermögen und welche nicht, worin dieses Erleben eigentlich besteht und ob es in einer unreduzierbaren Pluralität (sinnlich, emotional, spirituell, je nach Präferenz des Einzelnen) oder signifikanten Einzigartigkeit bestimmter ausgezeichneter „universaler“ Konstanz (anthropologischer „Wesensbestimmung“?) erfahren wird.

      Die Richtungen der Analyse lassen sich in diesem Sinne in folgenden Fragen zum Ausdruck bringen:

       Wie


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