Medizin als Heilsversprechen. Herbert Meyer
bringen. Ohne diese Beschreibung schon zu sehr theologisch anspruchsvoll füllen zu wollen, lässt es sich vielleicht im Sinne eines ersten Vorverständnisses dieser Untersuchung so formulieren: Sehnt sich der kranke Mensch zunächst nach Gesundheit, so gibt sich offensichtlich sogar der gesunde Mensch mit seinem Wohlbefinden nicht zufrieden. Wer kann schon von sich selbst sagen, er fühle sich vollkommen wohl? Und selbst der, der darum zu beneiden ist, wird eine Sehnsucht nach mehr verspüren, ganz gleich wie unterschiedlich er dieses „Mehr“ beschreibt oder auch gerade nicht beschreiben kann.
Man könnte in diesem Sinne noch einmal eine Beobachtung aus der gegenwärtigen Alltagswelt herausstreichen: „Heilfasten“ wird von immer mehr Menschen praktiziert, die als Voraussetzung für dieses (oft gemeinsame) Unternehmen gesund sein müssen. Drückt sich schon in dieser Voraussetzung eine Sehnsucht nach mehr als nur Gesundheit aus? Über unterschiedlich lange Zeitabschnitte begibt man sich ja gemeinsam auf einen Weg, der – wie der Name sagt – nicht nur Gesundheit, sondern Heil verspricht. Und auch hier steht noch einmal diese Beobachtung der Konvergenz zwischen körperlichen und spirituellen Anliegen in Frage: Anziehend und verheißungsvoll klingen in jedem Fall für die meisten Menschen Worte wie „ganzheitlich“ oder „Selbstheilungskräfte“. Körperliches und seelisches Wohlergehen sollen zusammengeführt werden. Fasten in Verbindung mit Meditation und Reflexion versprechen ganz offensichtlich mehr als nur (körperliche) Gesundheit.
Auf der Ebene anthropologischer Grundannahmen formuliert könnte dies heißen: Diese Sehnsucht nach mehr (als nur Gesundheit) scheint den Menschen auszuzeichnen, wobei er sicher den Inhalt seiner Sehnsucht nicht immer in Worte fassen kann. Heilfasten scheint ein Weg zu sein, dieser nur schwer fassbaren Sehnsucht auf die Spur zu kommen.
Hier aber kommt die einzigartige Beziehung zwischen den Begrifflichkeiten „Gesundheit“ und „Heil“ – sie wird die vorliegende Untersuchung signifikant beschäftigen! – in einer ersten Wahrnehmung in den Blick. Der Ausspruch: „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen!“ wird meist nur auf den kranken Menschen bezogen, der sich (als einzigem Wunsch) nach Gesundheit sehnt. So verständlich das (vielleicht) ist, so zielt dieser Ausspruch doch auch auf die vielen Wünsche und Sehnsüchte, die der gesunde (aber letztlich wohl jeder, auch der kranke) Mensch hat. Was in der Krankheit zum einzigen Ziel wird, die „Gesundheit“, das scheint in der Gesundheit zum Inbegriff einer irgendwie ebenso unbedingt erhofften Integrität zu werden, welche diese zugleich unbestimmt überschreitet – zum „Heil“.
Auf diesem Hintergrund lässt sich vielleicht vorläufig festhalten: „Heil“ ist sicher eine Umschreibung dessen, was weit über den Zustand der Gesundheit hinausgeht und wonach sich sowohl der kranke als auch der gesunde Mensch sehnen kann. Gewiss scheint dabei zu sein, dass „Heil“ nicht mit „Gesundheit“ gleichgesetzt werden darf, was möglicherweise, aber eben missverständlicherweise der Begriff „Heilung“ als der Weg von der Krankheit zur Gesundheit nahelegen könnte.
Oder in einer Art unmittelbaren, negativen Heuristik ausgedrückt: Würde man Heil mit Gesundheit identifizieren, dann hätte der vermeintlich gesunde Mensch keine Sehnsucht mehr nach Heil und bliebe zudem vor jeder „Unheilserfahrung“ bewahrt; nur der kranke Mensch „wüsste“ dann noch, was Sehnsucht nach Heil bedeutet.
Auch hier kann, wenn man so will, noch einmal die Analyse der Alltagssprache behilflich sein, um ein erstes Problembewusstsein, ja Vorverständnis abzusichern: Wenn die Sprache den Menschen verrät, dann gilt: „Heilfroh“ kann sowohl ein gesunder als auch ein kranker Mensch sein, genauso wie der Mensch in beiden gesundheitlichen Situationen „Heilserlebnisse“ und „Heilserfahrungen“, aber auch „Unheilserlebnisse“ und „Unheilserfahrungen“ haben kann.
Die Sehnsucht des Menschen nach Heil als etwas, das weit mehr als Gesundheit ist, kommt in diesem Sinne offensichtlich in unzähligen und vielfältigen Werken in Literatur, Musik, Theater, Malerei etc. zum Ausdruck. Etwas pointiert gesagt: Der Traum von einer „heilen Welt“ scheint „in dieser Welt“ nie ausgeträumt werden zu können.
1.1.4. Die gegenwärtige (theologisch-)ethische Bewertung: Die These von der Gesundheit als Ersatzreligion
Die Fülle der Aspekte, die mit dieser Beziehung zwischen Gesundheit und Sehnsucht nach Heil verbunden sind, lässt sich hier im einleitenden Blick auf das alltägliche Lebensgefühl nur andeuten. In Bezug auf die moraltheologischen Fragestellungen aber bleibt ein letzter Hinweis: Auch wenn die Unterscheidung zwischen Heilung und Heil im allgemeinen Bewusstsein der Gegenwart in diesem Sinne präsent ist, wertet eine (theologisch-)ethische Analyse die gegenwärtigen Tendenzen schließlich sogar als eine Entwicklung, in der die Wünsche an die Gesundheit die Rolle einer „Ersatzreligion“10 einnehmen würden.
Ludger Honnefelder setzt etwa in diesem Sinne beim Sprachgebrauch des Wortes Gesundheit an und geht sodann der Frage nach, als welches Gut denn eigentlich Gesundheit zu verstehen ist. Dabei verweist er zunächst auf Nietzsche, der die Gesundheit für undefinierbar hält, aber auch auf Aristoteles, bei dem das Wort „gesund“ ein Paradebeispiel für ein Wort mit vielfacher Bedeutung ist, das auf einen ursprünglichen Sinn verweist. Und er rekurriert auf Platon, bei dem „Gesundheit“ als „Harmonie“ von Leib und Seele verstanden wird, weswegen jener auch die sittliche Tugend als „Gesundheit der Seele“ bestimmen kann.11
Gesundheit in diesem Sinne als Vollständigkeit und Harmonie zu verstehen, scheint nach Honnefelder der Definition der WHO Recht zu geben, die Gesundheit als „Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur der Abwesenheit von Krankheit und Schwäche“ definiert. Eine solche umfassende Bestimmung aber geht nach Honnefelder viel zu weit und lässt ihn deshalb noch einmal zurückfragen, ob nicht doch die von der WHO abgelehnte Alternative richtig sei, dass Gesundheit nur die Abwesenheit von Krankheit und Schwäche darstellt. Aber hier ist es wieder die schlichte Eindimensionalität, welche im Blick auf eine solche Vereinfachung zögern lässt.12
Und so findet Honnefelder schließlich einen Schlüssel zum rechten Verständnis von Gesundheit noch einmal bei Aristoteles,
„wenn er zwischen ‚Leben‘ (ζην) und ‚Gutleben‘ (ευ-ζην) unterscheidet. Mit dem bloßen Leben, so will Aristoteles mit dieser Unterscheidung sagen, hat der Mensch noch nicht sein ihm eigentliches Ziel erreicht. Dies ist erst das gute, gelungene Leben, das sich in derjenigen Praxis einstellt, in der der Mensch seine Anlagen entfaltet und gemäß dem ihm eigenen Lebensplan zur Verwirklichung bringt. Eudaimonia, Glück, nennt er diese Form tätigen Lebens. Gesundheit ist also ein Gut, das zum gelungenen Leben gehört, aber nicht schon mit ihm identisch ist. Denn gelungenes Leben umfasst den ganzen Menschen und sein tätiges Werk. Es stellt sich ein auf dem Rücken der Praxis, in der wir die uns sinnvoll erscheinenden Ziele verfolgen. Und es ist gar nicht unmittelbar als solches zu erstreben, sondern das in allen Zielen verfolgte Ziel, das inklusive Ziel.“13
Es sei, so Honnefelder weiter, genau diese Vorstellung vom gelungenen Leben, welche Augustinus in das christliche Verständnis integriert habe. Dieser betone allerdings, dass der Mensch das gelungene Leben nicht vollständig und nicht endgültig zu erreichen vermöge, sondern in Endlichkeit, Sterblichkeit und Versagen seine Grenzen erfahre und deshalb das definitiv gelungene Leben nur als Gegenstand seiner Hoffnung, als geschenktes Heil erwarten könne.14
Und: Steht Augustinus nach Honnefelder dabei in der Gefahr, das gelungene Leben so zu spiritualisieren, dass die Gesundheit als dessen integrales Gut verzichtbar zu werden scheint, so zeigt sich für Honnefelder im „Gesundheitskult“ der Gegenwart aber offenkundig das Gegenteil – eine Tendenz, in deren Zusammenhang schließlich die Befürchtung von der Ersatzreligion auftaucht:
„Immer stärker nimmt die Gesundheit die Rolle des Endziels ein und wird in Form eines Kults der Körperlichkeit zum aktuellen Kandidaten für das gelungene Leben. Die Ziele der Medizin drohen sich in Richtung Optimierung, Enhancement, von der Bedarfs- auf die Wunschmedizin zu verschieben. Fitness und Wellness werden zum Selbstzweck. Gesundheit droht die Stelle des Heils einzunehmen und zum Gegenstand einer neuen Religion zu werden.“15
Das heißt: Theologische Ethik sieht in solchen Tendenzen offensichtlich