Volk Gottes. Georg Bergner
der Ämter bedient. In der eschatologischen Perspektive werde das „Volk Gottes“ als Realität bleiben, während das hierarchische Amt vergehe. Daher gehe dieser Begriff zur Beschreibung der Kirche auch den anderen voran.314 Kardinal Döpfner (München-Freising) spricht am 3. Dezember von der Notwendigkeit einer „idea fundamentalis“ für die Kirchenkonstitution und nennt die „ecclesiologia populi Dei“ als eine solche Grundlage für die späteren Ausführungen zum Episkopat.315 In Bezug auf den „Volk Gottes“-Begriff sind die in der Debatte in 162 Beiträgen316 geäußerten Argumente damit bereits im Wesentlichen beschrieben: 1. Das vorgelegte Konzilsschema bedarf einer Überarbeitung hinsichtlich des mystischen (heilsgeschichtlichen) Charakters der Kirche.317 Dabei ist eine Ergänzung zum Begriff „Leib Christi“ durch andere biblische Bilder, u.a. „Volk Gottes“ nötig.318 2. Durch „Volk Gottes“ soll die gemeinsame Sendung und Würde aller Glieder der Kirche zum Ausdruck kommen, bevor Differenzierungen hinsichtlich des geistlichen Amtes, des Ordensstandes und der Laien erfolgen.319 Zudem äußert eine größere Zahl der Konzilsväter den Wunsch nach einer positiven Beschreibung und Aufwertung der Rolle der Laien in der Kirche.320
Auf zwei Beiträge aus der Konzilsdiskussion soll noch kurz hingewiesen werden. Bischof André Marie Charue fügt seiner Stellungnahme bereits einen Vorschlag für eine Neugliederung des Schemas in vier Kapitel bei, die mit der Gliederung des Philips-Entwurfes übereinstimmt. Er bezieht damit Position für eine Neufassung von „De ecclesia“.321 Weihbischof Léon Elchinger beschreibt in seiner Rede vom 1. Dezember ein sich neu anbahnendes Kirchenbild. Habe man früher von der Kirche als Institution gesprochen, so spreche man heute von „communio“, haben gestern der Papst und der einzelne Bischof im Mittelpunkt gestanden so heute die Bischöfe und ihr Kollegium, handelte man gestern von der Hierarchie, so heute vom christlichen Volk.322 Die Parallele von „communio“, Kollegium und „Volk Gottes“ ist auffallend und verdeutlicht eine für die spätere Rezeption des Konzils wichtigen Richtungswechsel. „Volk Gottes“ und „communio“ werden in dieser Sichtweise Ausdrücke eines veränderten Kirchenverständnisses.323
Die erste Sitzungsperiode des Konzils wird am 8. Dezember abgeschlossen, die Debatte um „De ecclesia“ unterbrochen. In der Folge kommt es zu verschiedenen Initiativen, die eine Bearbeitung oder Neufassung des Kirchenschemas zum Ziel haben. Im Januar kommen ostfranzösische Bischöfe und Theologen zu einer Klausurtagung zur Beratung über „De ecclesia“ zusammen. Anthropologische und soteriologische Aspekte sollen, so Congar in einer Diskussion auf dem Treffen, im neuen Kirchenschema den Vorrang vor einer rein soziologischen Betrachtung der Kirche erhalten. Daher, so der Vorschlag der Gruppe, sind der heilsgeschichtliche Zusammenhang, die geschichtliche Dimension der Kirche und ihre Sakramentalität von besonderer Bedeutung. Der Begriff „Volk Gottes“ soll im Sinne einer geschichtlichen Dynamisierung dem „Leib Christi“-Begriff zur Seite gestellt werden.324 Während die Franzosen für eine Überarbeitung des vorhandenen Schemas plädieren, nehmen deutschsprachige Bischöfe und Theologen unter der Leitung Kardinal Döpfners die Arbeit an einem Alternativentwurf auf. Dieser wird bei einer Versammlung der deutschsprachigen Bischöfe am 5. und 6. Februar 1963 diskutiert, überarbeitet und am 21. Februar in Rom übergeben.325
Das sog. „Deutsche Schema“ folgt einer theologischen Grundlinie. Es präsentiert in seinem Prolog die Kirche als „universales Sakrament“ (Nr. I,2). „Sakrament“ wird im Sinne des griechischen „μυστήριον“ auch als geschichtliche Entfaltung des göttlichen Heilsplanes verstanden.326 Der Begriff verbindet die unsichtbare, gnadenhafte Dimension der Kirche mit ihrer sichtbaren, geschichtlichen Gestalt. Diese sakramentale Ekklesiologie wird auf der Basis der verschiedenen biblischen Kirchenbilder entwickelt. So beginnt das 1. Kapitel „De Mysterio Ecclesiae“ mit einer Darstellung des Erlösungshandelns Christi, aus dem das im Heiligen Geist geeinte „neue Israel“ hervorgeht, das für seine irdische Pilgerschaft mit den nötigen geistlichen und gesellschaftlichen Mitteln ausgestattet ist (Nr. I,3):
„Dieser Zusammenschluss der Gläubigen ist nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift Kirche Gottes, Israel Gottes, Herde Gottes, erwähltes Volk, königliche Priesterschaft, Volk, das er sich erworben hat, […] jetzt also Volk Gottes. Die christliche Gemeinschaft ist Gottes Pflanzung, sein Weinstock, in den Ölbaum des alten Israel eingesetzt […], neuer Bund, der von Christus begründet ist […], Erbe des Volkes der zwölf Stämme […].“ (Nr. I,4)
„Volk Gottes“ ist hier eingereiht in die Vielzahl der biblischen Metaphern327, denen in den Nr. I,5–6 die Bilder des „Tempels des Heiligen Geistes“ und „Leibes Christi“ hinzugefügt werden: „Diese Kirche, die Volk Gottes und Tempel des Heiligen Geistes ist, ist Leib und wirklich Leib Christi“ (Nr. I,6). Die Kirche ist durch die Anfechtungen ihrer Zeit auf dem Weg der Pilgerschaft in ihre himmlische Heimat (Nr. I,7). Alle diese biblischen Beschreibungen, die als einzelne den theologischen Sinngehalt der Kirche nie ganz ausloten können328, weisen auf die generellen Aspekte des Wesens der Kirche hin. Sie ist mit dem dreieinen Gott untrennbar verbunden und verweist in ihrem irdischen Wirken auf ihn. Die Verbindung zwischen geistlicher Wirklichkeit und äußerer Form ist sakramental zu verstehen. Die Kirche ist sowohl selbst Heilsfrucht, als auch Werkzeug zur Mitteilung des Heils in der Welt. Sie ist zugleich Zeichen des göttlichen Handelns. Das Deutsche Schema weist auf die Begründung der Kirche durch die Taufe hin, auf ihre Einheit und ihre Lehrvollmacht. (Nr. I,8). Zudem enthält es im Kapitel über die kirchlichen Ämter einen langen Abschnitt über die gemeinsame Würde aller Christen im einen „Volk Gottes“ sowie einen über das gemeinsame Priestertum (Nr. III,1). Der „Volk Gottes“-Begriff wird im deutschen Schema zu einer von drei biblischen Leitmetaphern329, die in eine theologische Gesamtsicht der Kirche als „universales Sakrament“ einmünden.330
Als das deutsche Schema die Vorbereitungskommission in Rom erreicht, ist wahrscheinlich bereits eine Vorentscheidung zugunsten des Philips-Schemas als neuer Textgrundlage für die Kirchenkonstitution gefallen.331 In einer Unterkommission unter der Leitung von Bischof Charue erarbeitet eine Redaktionsgruppe, die aus Philips, Rahner, Gangnebet, Lafortune, Balić, Thils (später Moeller) und Congar (für den ursprünglich benannten Daniélou332) besteht, ab dem 26. Februar 1963 das neue Schema. Innerhalb der Gruppe stehen nun also zwei traditionelle Theologen fünf eher fortschrittlich gesinnten gegenüber.333 Damit ist der Weg zu einer neuen Vorlage offen. Philips bittet zunächst jeden der Theologen, einen eigenen Entwurf anzufertigen, so dass in der Diskussion ein neuer gemeinsamer Text entstehen kann.334 In ihn werden dann Anregungen aus den verschiedenen eingereichten Alternativschemata335 aufgenommen.336
Das neue Schema337, das bereits mit den Einleitungsworten „Lumen gentium“ beginnt, stellt in seinem einleitenden Artikel die Kirche als „Zeichen und Instrument, oder auch Sakrament der innersten Vereinigung der ganzen Menschheit mit Gott“ (Nr. 1) vor. Im ersten Kapitel zum „Mysterium“ wird sie als Ereignis der Heilsgeschichte beschrieben. Die Kirche entsteht, indem Christus die Gläubigen zum „Volk Gottes“ versammelt, sie zum „neuen erwählten Volk, zur königlichen Priesterschaft und heiligem Volk macht“ (Nr. 2). Die Kirche ist im alten Bund durch die Erwählung des Bundesvolkes vorgezeichnet und in der heutigen Zeit verwirklicht (Nr. 2). Christus stiftet den neuen Bund und ruft die Kirche aus Heiden und Juden zusammen (Nr. 3) Nach einer Darstellung des Wirkens des Heiligen Geistes in der Kirche (Nr. 4) beschreibt das Schema das Bild der Kirche als „Leib Christi“ (Nr. 5). Der sechste Artikel spricht dann von den anderen biblischen Bildern (Herde, Familie, Pflanzung, Tempel des Hl. Geistes, Heilige Stadt) (Nr. 6). Anschließend wird die zeitliche Pilgerschaft der Kirche beschrieben (Nr. 7). Dem zweiten Kapitel über die Hierarchie, besonders das Bischofsamt geht ein Proömium voraus, das auf die gemeinsame Würde aller Christen im „Volk Gottes“ verweist. Im Kapitel über „Das Volk Gottes, besonders die Laien“ wird das „Volk Gottes“ als „von Ihm [Gott] zum Werkzeug der Erlösung und in die ganze Welt gesandt“ (Nr. 22) eingeführt. Klerus und Laien wirken gemeinsam am Aufbau des „Leibes Christi“ (Nr. 22). Allen Gliedern ist durch das gemeinsame Priestertum die gleiche Würde gegeben (Nr. 23). Artikel 24 entfaltet die Lehre vom gemeinsamen Priestertum und handelt von den charismatischen Gaben des Volkes. Im Folgenden werden dann noch das Apostolat der Laien