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die Diskussion in der Konzilsaula den deutlichen Wunsch nach einem eigenen Kapitel über die Ordensleute.376 Die Theologische Kommission entscheidet sich Mitte März 1964 für eine Teilung des bisherigen Kapitels IV (zweites Schema) in ein allgemeines Kapitel über die Heiligkeit in der Kirche und eines über die Ordensleute (später in LG Kapitel V und VI).377 Die Auseinandersetzungen um diese Kapitel haben einen ähnlichen Ausgangspunkt wie die um das spätere Kapitel II. Der ursprüngliche, von der Religiosenkommission erarbeitete Text, verteidigt aus Sicht der Theologischen Kommission eine zu einseitige, isolierte und standesverhaftete Darstellung der Ordensleute, die nicht in den Duktus der neuen Konstitution passt. Daher erarbeitet die Unterkommission von „De ecclesia“ mit Kapitel IV des zweiten Schemas einen Text, der zunächst von der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit ausgeht und das Ordensleben als einen besonderen Ausdruck dieser allgemeinen Berufung sieht. Der Nachteil dieser Sichtweise ist, dass hier der Ordensstand in seiner Besonderheit eher nivelliert wird. Die Teilung des Kapitels und der Ort des Kapitels V stellen somit eine Kompromisslösung dar.378 Mit der Verortung des neuen Kapitels V kommt man dem Wunsch vieler Konzilsväter nicht nach, die Abschnitte über die Heiligkeit in die Kapitel I und II zu übernehmen. Dieses habe man, so die Unterkommission, aus Zeitgründen nicht mehr geschafft.379
Der Theologischen Kommission wird Anfang März durch Papst Paul VI. ein auf Initiative Kardinal Arcadio Larraonas erarbeitetes Kapitel über die eschatologischen Aspekte der Kirche mit der Bitte um Einarbeitung in das Schema zugestellt. Es entspricht einem Wunsch Johannes XXIII., in die neue Konstitution einen Abschnitt über die Einheit von irdischer und himmlischer Kirche einzufügen.380 Nach gründlicher Überarbeitung, insbesondere bezüglich des heilsgeschichtlich orientierten Duktus der Konstitution, erhält das ursprünglich eher heilsindividualistisch argumentierende Kapitel zugleich einen kommunitären Bezug zur Gemeinschaft der Kirche.381 Mit diesem späteren Kapitel VII und dem neuen Kapitel VIII „Über die selige Jungfrau Maria“382 ist der Textkorpus der Kirchenkonstitution vollständig. Die Koordinierungskommission beschließt den Versand des Schemas am 26. Juni 1964.383 In der dritten Sitzungsperiode des Konzils werden im Wesentlichen nur noch kleinere Veränderungen an der Textvorlage vorgenommen.384 Die feierliche Schlussabstimmung, die sich durch den zwischenzeitlich eskalierenden Streit um das Kapitel III (Bischofsamt) verzögert, ergibt am 21. November 1964 ein fast einstimmiges Ergebnis.385 Die neue Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ wird promulgiert.
2.2 Beobachtungen zum „Volk Gottes“-Begriff in „Lumen gentium“
Die bewegte Geschichte der dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ lässt bereits erahnen, dass dieses Dokument zu einer ebenso bewegten Rezeptionsgeschichte Anlass geben würde. Die Bemühungen des Redaktors Gerard Philips und der mit ihm verbundenen Theologen, einen neuen Text auf der stark kritisierten Grundlage des Ausgangsschemas von „De ecclesia“ zu entwickeln, erfordert, wie gesehen, eine Kompromissbereitschaft bei der Berücksichtigung verschiedener ekklesiologischer Ansätze und Vorstellungen. Das Ergebnis ermöglicht es, einerseits eine lehramtliche Kontinuität in der Behandlung der Ekklesiologie sicherzustellen, andererseits eine gleichzeitige Öffnung gegenüber den neuen theologischen Strömungen zu erwirken.386 Zugleich kann für „Lumen gentium“ auf diese Weise eine fast einmütige Zustimmung der Konzilsversammlung erreicht werden. Nachteil des Vorgehens ist, dass die Konstitution die Lehre von der Kirche nicht so eindeutig darlegt wie es sowohl von traditionellen als auch von progressiven Kreisen auf ihre je eigene Weise gewünscht worden wäre. Mit Blick auf das Thema der Grundlagen einer Ekklesiologie, der Bestimmung von Wesen und Auftrag der Kirche, ergibt sich ein Diskussionsfeld in der Auslotung des Verhältnisses der Grundbegriffe „Sakrament“, „Leib Christi“ und „Volk Gottes“. In Bezug auf den letztgenannten Begriff etablieren sich in frühen Kommentaren zu „Lumen gentium“ zwei Grundthesen.
Die erste These betrifft die theologischen Hauptaspekte, die sich mit „Volk Gottes“ verbinden. Zum einen kommt in ihm die geschichtliche Dimension der Kirche zum Ausdruck, die sich u.a. in der heilsgeschichtlichen Kontinuität zwischen dem alttestamentlichen Volk Israel und der Kirche387 zeigt, aber auch in ihrer eschatologischen Dimension im Bild der Pilgerschaft.388 Hierbei wird die besondere Erwählung und geschichtliche Verantwortung des Volkes betont.389 Zum anderen wird der Begriff eingesetzt, um die gemeinschaftliche und verfasste Struktur der Kirche zum Ausdruck zu bringen. Die gemeinsame Sendung aller Glieder der Kirche ist hierbei als Ausgangspunkt für die innerkirchliche Gliederung und die verschiedenen Grade der Zugehörigkeit zur Kirche.390 Philips schreibt dazu:
„Die Einfügung eines besonderen Kapitels II über das Volk Gottes entsprach dem Bemühen, die Verwirklichung des Geheimnisses der Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte und die Entfaltung ihrer eigentümlichen Katholizität zu zeigen. Es war ein allgemeiner Überblick über den von Christus gestifteten Organismus, eine Gesamtschau, mit Hilfe derer der Ort der einzelnen Teile und die Bedeutung der differenzierten Funktionen genauer bestimmt werden konnten. So wurden die Geschichte des auserwählten Volkes und die des Neuen Bundes miteinander verbunden. „Volk“ bezeichnet hier also nicht die Laien, sondern alle Gläubigen von den Bischöfen bis zum einfachsten Christen, die alle zur Teilhabe an den Ereignissen der Heilsgeschichte berufen sind.“391
Die zweite These betrifft die Zusammengehörigkeit der ersten beiden Kapitel der Konstitution. Bereits der Bericht der Unterkommission, die die redaktionelle Arbeit vor der dritten Sitzungsperiode des Konzils vorgenommen hatte, betont, dass Kapitel I und II eigentlich auch ein einziges Kapitel bilden könnten.392 Philips, der mutmaßliche Verfasser des Berichts393, verdeutlicht dies, indem er ausführt, die ersten beiden Kapitel brächten das Geheimnis der Kirche einmal in seiner transzendenten Dimension (Kap. I) und in seiner geschichtlichen Verwirklichung (Kap. II) zum Ausdruck.394 Beiden Thesen soll im Folgenden anhand von zwei Leitfragen nachgegangen werden: 1. Wie wird der Begriff „Volk Gottes“ in „Lumen gentium“ verwendet? 2. In welchem Verhältnis stehen in Kapitel I und II die Leitbegriffe „Sakrament“ und „Volk Gottes“ zueinander? In einem dritten Schritt folgen dann noch einige Anmerkungen zur Struktur der Kirchenkonstitution.
2.2.1 Die Bedeutung von „Volk Gottes“ in „Lumen gentium“
Das Kapitel I „De mysterio“ bietet nach der Grundbestimmung der Kirche als „Sakrament“ (LG 1) eine Betrachtung der Kirche als Teil des göttlichen Heilsplans in trinitarischer Perspektive (LG 2–4). Von der ehemals umfangreicheren Darstellung des „Volkes Gottes“ an dieser Stelle ist nur ein Verweis auf das Volk Israel als Vorausbild der Kirche geblieben (LG 2). In LG 4 wird das Wirken des Heiligen Geistes und damit die auch die gemeinschaftliche, durch hierarchische und charismatische Gaben beschenkte Struktur der Kirche dargestellt. Der Abschnitt schließt zusammenfassend: „So erscheint die ganze Kirche als ‚das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk‘“ (LG 4). Diese Bestimmung nimmt das zweite Kapitel „De populo Dei“ in LG 9 wieder auf und entfaltet die heilsgeschichtliche Sendung der Kirche als „Volk Gottes“. Der aus den ehemaligen Nr. 2, 3 und 22 des zweiten Schemas zusammengestellte Absatz beginnt beim Entschluss Gottes, die Menschen nicht einzeln, sondern gemeinschaftlich als Volk zu retten und somit das Volk Israel zum Vorausbild der Kirche zu machen. Aus dem neuen und vollkommenen Bund, den Christus durch seinen Tod stiftet, entsteht das neue Gottesvolk aus Juden und Heiden, das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft (1 Petr. 2,9f.). Das messianische Gottesvolk wir durch den Heiligen Geist belebt und nimmt das neue Gebot der Liebe an. Es wird seine Vollendung im Reich Gottes finden und ist als „Keimzelle der Einheit für das ganze Menschengeschlecht“ (LG 9) Werkzeug („instrumentum“), dessen sich Gott zur Erlösung der Menschheit bedient. Das „Volk Gottes“ ist in der Zeit auf dem Weg zur Vollendung und wird in dieser Zwischenzeit „Kirche Christi“ genannt. Auf diesen heilsgeschichtlich ausgerichteten Artikel folgt der Abschnitt, der die Gemeinschaft der sichtbaren Kirche als „Volk Gottes“ besonders kennzeichnet. Artikel 10 beschreibt das gemeinsame Priestertum der Gläubigen. Mit Verweis auf den zweiten Petrusbrief geht es um das Volk, das durch Christus „zum Königreich und zu Priestern für Gott und seinen Vater“ (LG 10) gemacht wurde (Offb 1,6). Auch wenn gemeinsames und amtliches Priestertum sich voneinander