Volk Gottes. Georg Bergner
Erfordernissen der Dienste zum Nutzen der Kirche austeilt (vgl. 1 Kor 12,1–11). Unter diesen Gaben ragt die Gnade der Apostel heraus, deren Autorität der Geist selbst auch die Charismatiker unterstellt (vgl. 1 Kor 14). Derselbe Geist eint durch sich und durch seine Kraft wie durch die innere Verbindung der Glieder den Leib; er bringt die Liebe der Gläubigen untereinander hervor und treibt sie an. […]Damit wir aber in ihm unablässig erneuert werden (vgl. Eph 4,23), gab er uns von seinem Geist, der als der eine und gleiche im Haupt und in den Gliedern wohnt und den ganzen Leib so lebendig macht, eint und bewegt, dass die heiligen Väter sein Wirken vergleichen konnten mit der Aufgabe, die das Lebensprinzip – die Seele – im menschlichen Leibe erfüllt.“ (LG 7)
Die Übersicht macht deutlich, dass sich auch bei der gegebenen Abschwächung des Begriffs „Sakrament“ grundsätzlich das im „Deutschen Schema“ gegebene Verhältnis der einen theologische Leitkategorie gegenüber der Vielzahl beschreibender und illustrierender biblischer Metaphern inhaltlich erhalten hat. „Volk Gottes“ wie auch „Leib Christi“ und andere biblische Bilder bleiben dem ekklesiologischen Leseschlüssel „Die Kirche ist gleichsam Sakrament“ untergeordnet.427 Allerdings wirkt „Sakrament“ durch die erwähnten Einschränkungen428 nicht so tonangebend wie dieser Begriff im „Deutschen Schema“ angelegt war. Zugleich erfährt der Begriff „Volk Gottes“ durch seine herausgehobene Stellung429 durchaus optisch wie inhaltlich eine Führungsrolle. Er verhält sich, um es vielleicht mit einem Vergleich auszudrücken, in der Art eines starken Regierungschefs mit umfangreichen Kompetenzen gegenüber einem zurückhaltend auftretenden, bzw. mit wenigen Kompetenzen ausgestatteten Staatsoberhaupt.
2.2.3 Anmerkungen zur Struktur von „Lumen gentium“
Für die spätere Rezeption der Kirchenkonstitution ist entscheidend, welche möglichen Lesarten der Text selbst dem Betrachter anbietet. Im vorherigen Kapitel 2.1.3 ist bereits auf mögliche Interpretationsansätze durch die Einführung und Struktur des Kapitels II hingewiesen worden. Hier soll in einem abschließenden Schritt auf die Gesamtkomposition von „Lumen gentium“ und der Rolle des „Volk Gottes“ in ihr geschaut werden.
Für einen Redaktor des Textes hatte das in eine Einheit zu bringende Textmaterial im Oktober 1963 in etwa so ausgesehen:
– Teil 1 [Kap. I (allgemeines Kapitel über Wesen und Auftrag der Kirche)]
– Teil 2 [die verschiedenen Glieder der Kirche: Kap II (allgemeine Grundlegung unter dem Leitwort „Volk Gottes“), Kap. III (Hierarchie), Kap IV (Laien), Kap. V (+VI) (allgemeine Heiligkeit und Ordensleute, evt. in zwei Kapitel zu teilen)]
– Teil 3 [„Sondergut“: Kap VII430 (eschatologische Dimension der Kirche / Heiligenverehrung), Kap VIII (Maria)]
Ergebnis der Überarbeitung ist u.a. ein Abgleich mit den in Kapitel I und II dargelegten theologischen Leitgedanken über die Kirche, so dass sich inhaltliche Verbindungslinien ergeben.431 Der endgültige Text stellt sich in seiner Struktur verändert dar. Gerard Philips deutet die Struktur der Kirchenkonstitution wie folgt432:
– Teil 1 – Lehre vom Geheimnis der Kirche in ihrer „transzendenten Dimension“ und ihrer „geschichtlichen Verwirklichung“ (Kapitel I und II)
– Teil 2 – Die organische Struktur der Kirche (Kapitel III und IV)
– Teil 3 – Finalität der Kirche: Heiligung der Menschen (Kapitel V und VI)
– Teil 4 – Die eschatologische Herrlichkeit (Kapitel VII und VIII)
Die vorgeschlagene Gliederung enthält interessante Aspekte. Vor allem die Zusammenfassung von Kapitel V und VI zu einem eigenen Teil überrascht. Philips nimmt hier das in LG 1 genannte Ziel des Heilswillens Gottes, „die Heiligung der ganzen Menschheit“, zur Überschrift eines eigenen Teils und sieht das Ordensleben nicht als eigenen „Stand“ in der Kirche, sondern als Ableitung bzw. besondere Variante dieser allgemeinen Berufung zur Heiligkeit.433 Diese Sichtweise ist mit Blick auf den Text aber nur teilweise gerechtfertigt. Zum einen verweist Kapitel V gerade nicht auf den allgemeinen Heilswillen Gottes für die Welt, sondern spricht nur von den Mitgliedern der Kirche. Zudem beginnt das Kapitel mit Ausführungen zur Heiligkeit der Kirche (LG 39) und rückt es damit in die Nähe etwa der Aussagen zur Einheit und Katholizität der Kirche in LG 13. Insgesamt ist die Verwandtschaft des Kapitels V zu Kapitel II deutlich, da es Allgemeines über den Auftrag und das Leben der Kirche als solcher und aller ihrer Mitglieder aussagt. Ähnlich wie in LG 10 oder LG 17 wird in LG 41 das Zusammenwirken von geweihten Amtsträgern und Laien beschrieben. Man wird im Sinne einer großen Zahl von Konzilsvätern die enge inhaltliche Zusammengehörigkeit von Kapitel II und V betonen müssen. Kapitel VI handelt somit, wenn auch vielleicht nicht von einem eigenen „Stand“, von einer bestimmten Personengruppe innerhalb der Kirche und ist damit in seinem „sujet“ ähnlich konzipiert wie Kapitel III und IV. Wenn also Kapitel II und V Allgemeines über den Aufbau, das Wesen und den Auftrag der konkreten Kirche und ihrer Mitglieder aussagen, gelten diese Aussagen ebenso für die Ordensleute. Klerus, Laien und Ordensleute sind dann spezifische Ausdrucksformen der einen Würde und Sendung aller Glieder der Kirche.
Kapitel VIII spielt eine Sonderrolle. Es kann den Charakter des vormals eigenständigen Traktates nicht ganz verleugnen. Das Kapitel enthält eine eigene Einleitung, die wie LG 2 zunächst von der Initiative Gottes handelt (LG 52f.).434 LG 55–59 beleuchten das heilsgeschichtliche Wirken des dreieinen Gottes an Maria und ähneln von der Grundidee LG 2–4, bzw. LG 9. Maria ist u.a. als Tochter Zion Bild für das von Gott befreite und erlöste Gottesvolk (LG 55).435 Die besondere Rolle Mariens im Leben der Kirche, die in LG 60–65 dargestellt wird, bestimmt Maria u.a. als Typus der Kirche (LG 63) und als Vorausbild der vollendeten Menschheit (LG 65).436 Zusammen mit dem Abschnitt über die Verehrung Mariens in der Kirche (LG 66 und 67) ergeben sich Zusammenhänge mit Kapitel VII.437 Diese Verbindung wird durch die abschließenden Absätze über das wandernde Gottesvolk (LG 68 und 69) durch den thematischen Zusammenhang mit dem Abschnitt über die pilgernde Kirche (LG 48) noch gestärkt. Somit kann Kapitel VIII sowohl eine enge Zusammengehörigkeit mit Kapitel I und II, als auch Kapitel VII zugeschrieben werden, wobei Kapitel VII eher in Parallele zu Kapitel I sowie Kapitel VIII zu Kapitel II zu sehen ist.
Gerard Philips’ Gliederungsvorschlag kann noch nicht zufriedenstellen. Über die eben genannten Einwände zu den Kapiteln V-VIII hinaus geht sein Vorschlag an der Brückenfunktion von Kapitel II vorbei, das neben seiner inhaltlichen Nähe zu Kapitel I zugleich Einleitung für die folgenden Kapitel III-VI sein möchte. Damit verunklart die vorgeschlagene Gliederung, so der Einwand von Dario Vitali, eine zentrale Errungenschaft der Konstitution, den gemeinsamen Ausgangspunkt in der Würde und Sendung aller Glieder der Kirche. Die inhaltlichen Verbindungslinien der ersten beiden Kapitel zu Kapitel V, VII und VIII werden zudem in der vorgeschlagenen Aufteilung auf vier Teile nicht sichtbar.438 Vitali schlägt daher eine alternative Strukturierung der Konstitution
vor439:
A – Das Mysterium der Kirche (Kapitel I)
B – Das Volk Gottes (Kapitel II)
C1 – Die hierarchische Verfassung der Kirche (Kapitel III)
C2 – Die Laien