Todwald. Günter Huth
»Ja natürlich«, rief er so laut, dass man es auch im Vorzimmer hören konnte, »bitten Sie die Frau Kollegin doch herein.«
Die Sekretärin öffnete die Türe vollends, und die Besucherin trat ein.
»Grüß Gott, Herr Direktor Kerner«, rief die sehr attraktive Mittdreißigerin und streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen. Alles an der rothaarigen, sehr gepflegt wirkenden Frau strahlte Dynamik und Energie aus. Entsprechend war auch ihr Händedruck. Ein figurbetontes Kostüm vermittelte dezente Eleganz.
»Bitte keine Förmlichkeiten«, bat Kerner. »Sie trinken eine Tasse Kaffee mit mir?«
»Sehr gerne«, erwiderte Helsing-Wiesmann und setzte sich auf den angebotenen Stuhl am Besprechungstisch. Elegant schlug sie ihre langen Beine übereinander, wobei der Rocksaum ein Paar wohlproportionierte Oberschenkel erahnen ließ. Sie musterte Kerner unverhohlen von Kopf bis Fuß. Kerners Sekretärin verdrehte die Augen, dann verließ sie das Büro. Kerner setzte sich der Anwältin gegenüber und warf ihr dabei einen scannenden Blick zu, der ihr keineswegs entging. Sie war sich ihrer Attraktivität durchaus bewusst und unterstrich diese durch ein gekonntes Make-up. Als sie sich bewegte, entströmte ihrem großzügigen Dekolleté ein dezent anregender Duft, dem sich Kerner nicht ganz entziehen konnte. Er kannte allerdings ihren Ruf. In Kollegenkreisen wurde sie nur das Fallbeil genannt. Wehe dem Gesprächspartner, der sich von ihrem Auftritt betören ließ und unkonzentriert wurde. Kerner wappnete sich entsprechend.
Helsing-Wiesmann war Fachanwältin für Familienrecht mit einer gut gehenden Kanzlei in Aschaffenburg. In dieser Eigenschaft war sie der Schrecken aller betuchten Ehemänner. Sie vertrat fast ausschließlich scheidungswillige Ehefrauen. Jeden Prozess machte sie zu einem Kreuzzug um Unterhalt und Vermögensübertragung zu Gunsten ihrer Mandantinnen. Helsing-Wiesmann handelte getreu dem Motto »Wenn ich mit einem Ehemann fertig bin, dann ist er wirklich fertig«. Das hatte sich unter den scheidungsfreudigen Ehefrauen herumgesprochen und entsprechend war ihr Zulauf.
Helsing-Wiesmann hatte aber noch eine Berufung. Sie war die gewählte Vorsitzende des Rechtsanwaltsvereins im Bezirk. Diese Institution war so etwas wie die Standesvertretung der Rechtsanwälte. Kerner vermutete, dass sie ihn in dieser Eigenschaft sprechen wollte. Er sah diskret auf seine Armbanduhr. Ihm war bekannt, dass seiner Gesprächspartnerin der Ruf einer begnadeten Kommunikatorin vorauseilte. Höflich ausgedrückt. Wenn er Pech hatte, konnte er den Nachmittag abhaken.
»Lieber Herr Kerner, ich freue mich, Sie wieder einmal zu sehen. Wie geht es Ihnen?« Ohne ihm die Möglichkeit einer Antwort zu geben, fuhr sie fort: »Ich nehme an, über mangelnde Beschäftigung können Sie nicht klagen. Wie mir meine Kollegen aus Ihrem Gerichtsbezirk berichten, greifen Sie ja unter den bösen Buben in Main-Spessart ordentlich durch. Recht so, kann ich da nur sagen, recht so.« Während sie sprach, flogen ihre Augen durch das Büro und musterten jeden einzelnen Einrichtungsgegenstand.
Kerner nutzte die Chance einer Atempause. »Freut mich auch, Frau Helsing-Wiesmann, Sie wieder einmal zu sehen. Sie werden von Jahr zu Jahr jünger!«
»Sie Schmeichler«, gab sie mit einem koketten Augenaufschlag zurück.
In diesem Augenblick klopfte es und die Sekretärin kam mit einem Tablett herein. Kerner bedankte sich bei seiner Mitarbeiterin und übernahm es selbst, seinem Gast den Kaffee zu servieren. Seine Sekretärin warf der Rechtsanwältin einen schrägen Seitenblick zu, dann verließ sie das Büro. »Was kann ich denn für Sie tun?«, kam Kerner langsam auf den Punkt, während er seinen Kaffee umrührte.
»Die Leiterin der Kanzlei des Kollegen Werner Schnitter hat sich an mich gewandt. Er ist offenbar seit mehreren Tagen nicht mehr im Büro erschienen und man ist dort ziemlich ratlos. Wie man mir sagte, ist auch bei Ihnen ein Strafprozess wegen der Abwesenheit des Kollegen geplatzt?«
»Das ist richtig«, gab Kerner zurück. »Ich habe den Prozess vertagt und mich dann nicht weiter um die Angelegenheit gekümmert. Werner Schnitter und ich sind ganz gut bekannt. Wir besuchen beide denselben Fitnessclub. Übermorgen hätten wir wieder Training.«
Helsing-Wiesmann stellte ihre Tasse ab. »Der Kollege Schnitter ist ein sehr zuverlässiger Mann und ein unentschuldigtes Fernbleiben von einem Gerichtstermin ist in der Tat befremdlich und bei ihm eigentlich nicht vorstellbar. Ich wollte Sie nur davon in Kenntnis setzen, dass der Rechtsanwaltsverein bei der Polizei eine Vermisstenanzeige einreichen wird, nachdem der Kollege offenbar allein stehend ist und auch keine Angehörigen bekannt sind. Wir werden einen Kollegen aus Lohr bitten, bis zur Klärung der Angelegenheit die Vertretung des Kollegen Schnitter zu übernehmen. Seine Mandanten müssen ja weiterhin betreut werden.« Sie trank ihre Kaffeetasse leer und lehnte dankend ab, als ihr Kerner nachschenken wollte. »Ich habe noch in der Familienabteilung Ihres Hauses zu tun«, erklärte sie und erhob sich. »Dort wartet noch ein untreuer Ehemann mit seinem Anwalt, der denkt, er könne für wenig Unterhalt seine lästige Ehefrau gegen ein jüngeres Modell eintauschen. Da werde ich noch ein wenig die Daumenschrauben anziehen müssen … und in der Causa Schnitter bleiben wir in Verbindung. Sollte es etwas Neues geben, lassen Sie es mich wissen. Ich fand unser Gespräch ausgesprochen anregend.« Sie lächelte Kerner mit einem kaum merklichen Augenzwinkern zu und verließ energischen Schrittes das Dienstzimmer.
Wieder alleine, stieß er vernehmlich die Luft aus. Diese Frau hatte eine bemerkenswerte Präsenz. Seine Gedanken wandten sich Schnitter zu. Hoffentlich steckte nichts Ernstes hinter seinem Verschwinden. Als Strafverteidiger hatte er beruflich immer wieder mit Mandanten zu tun, die mit einer überdurchschnittlichen Gewaltbereitschaft ausgestattet waren. Kerner hoffte zwar, dass seine Überlegungen überzogen waren, aber als ehemaliger Oberstaatsanwalt war er es gewohnt, keine Option von vornherein auszuschließen. Kerner setzte sich an seinen Schreibtisch und griff zum Diktiergerät. Er würde die Angelegenheit zum Anlass nehmen, wieder einmal mit Eberhard Brunner zu telefonieren. Seit ihrem letzten Kontakt waren bestimmt zwei Wochen vergangen. Als Leiter der Mordkommission würde der Freund als Erster davon erfahren, falls Schnitter einer Gewalttat zum Opfer gefallen war.
Kurz nach dreiundzwanzig Uhr verließ Kerner mit Steffi die Hohe Kemenate, den historischen Lesesaal der Stadtbücherei Karlstadt. Beide hatten die Lesung eines bekannten unterfränkischen Mundartautors besucht. Diese Veranstaltung, die mit einer Weinprobe verknüpft war, hatte ihnen viel Spaß bereitet und sie konnten wieder einmal herzhaft lachen.
»Wir gehen viel zu selten zu solchen kulturellen Veranstaltungen«, stellt Steffi fest und hakte sich bei Kerner unter. »Herzhaftes Lachen ist gut fürs Gemüt.«
Kerner gab ihr Recht. So konnte man wenigstens für ein paar Stunden abschalten. Wenig später saßen sie in einem Taxi, da Kerner seinen Defender heute wegen der Weinprobe in der Garage gelassen hatte.
Wenig später näherten sie sich auf der B 26 der Abzweigung nach Gambach.
»Was ist denn das?«, wunderte sich Kerner, als sie sich einem schnell heller werdenden Lichtschein näherten.
»Da brennt was«, stellte der Taxifahrer fest und wurde langsamer. Tatsächlich stand direkt neben dem Bahndamm ein heftig brennender Kastenwagen.
»Fahren Sie dran vorbei und dann halten Sie bitte dort vorne rechts, da ist eine Parkbucht«, bat Kerner.
»Um Gottes willen, ich glaube, da sitzt noch jemand drin«, rief Steffi entsetzt, als sie das Fahrzeug passierten.
»Scheiße! Sieht wirklich so aus!«, stellte der Fahrer erschrocken fest.
Kerner hatte mittlerweile schon sein Handy gezückt, rief die Notrufzentrale in Würzburg an und meldete das Feuer.
Der zuständige Koordinator alarmierte sofort die freiwillige Feuerwehr von Gemünden am Main sowie Polizei, Notarzt und Rettungswagen.
Als das Taxi hielt, wandte sich Kerner dem Taxifahrer zu, der wie gelähmt hinter dem Steuer sitzen