Todwald. Günter Huth

Todwald - Günter Huth


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»Sie hat den gleichen Stoff bekommen wie die anderen, die das Zeug brauchen. Sie will allerdings zwischenzeitlich immer öfter etwas. Sie kann sich den Spaß kaum noch leisten.«

      Komarow taxierte die Frau wie ein Händler seine Ware.

      Janine wurde unter dem Blick immer kleiner. »Boss, bitte, bitte«, bettelte sie, »es tut mir leid, das wird nicht wieder vorkommen. Bitte …«

      Schließlich hatte Komarow eine Entscheidung getroffen. »Sergej, gib ihr einen Schuss, damit sie wieder arbeiten kann. Janine, du wirst die nächsten beiden Gäste kostenlos bedienen. Wenn das noch einmal vorkommt, schicke ich dich zurück. Jetzt geh ins Bad und richte dich wieder her.«

      »Danke, Boss … danke«, stammelte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

      »Ich komme gleich wieder«, sagte Sergej und verließ mit Komarow das Zimmer. Janine erhob sich und verschwand im angrenzenden Bad.

      Wortlos winkte Dimitrij Komarow Sergej zu sich ins Büro. Nachdem der Kaukasier die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah ihn sein Boss durchdringend an.

      »Janine ist fertig?«, fragte er knapp. »Es gab jetzt schon zum dritten Mal Ärger mit ihr.«

      Sergej zuckte mit den Schultern. »Lange geht es sicher nicht mehr.«

      Komarow ließ sich in seinen Sessel fallen. »Solche Vorfälle wie eben können wir uns nicht leisten. Das spricht sich schnell herum und schadet dem Geschäft.« Er öffnete seine Schreibtischschublade, holte einen Pass heraus und reichte ihn dem Kaukasier. »Sie ist noch jung. Sieh zu, dass du einen ordentlichen Preis herausholst.«

      Sergej nahm das Dokument und steckte es in die Brusttasche seines Jacketts. »Wann?«

      »Sofort! Ich werde mit Suganow sprechen. Morgen haben wir Ersatz.«

      »Wird erledigt.«

      Der Kaukasier verließ das Büro seines Chefs und betrat einen Raum am Ende des Flures, in dem er schlief, wenn er einmal hier übernachten musste. Er öffnete die Tür zum angrenzenden Bad, trat an die Toilette und drehte mit einer Münze die Schraube, die den Deckel des Spülkastens für die Toilettenspülung zuhielt. In dem Deckel befand sich eine wasserdichte Dose, die er herausnahm. Sie enthielt kleine Briefchen in zwei verschiedenen Farben. Er entnahm ein hellblaues und steckte es ein. Dann räumte er das Behältnis wieder weg und verschloss das Versteck. Danach öffnete er einen schmalen Schrank und entnahm ihm eine Rolle dicker Plastikfolie. Er entrollte die Folie auf dem Bett, bis es der Länge nach bedeckt war. Wenig später kehrte er in den Aufenthaltsraum zurück, in dem Janine wartete. Sie hatte sich wieder ordentlich geschminkt und sah gut aus. Lediglich ihre offensichtliche Unruhe zeugte davon, dass sie dringend eine Nase voll benötigte.

      Sergej legte das blaue Briefchen wortlos auf den Tisch, dann ging er hinaus.

      Janine bildete mit dem Inhalt des Briefchens auf einem kleinen Handspiegel hastig zwei Lines und zog sie mit einem gerollten Geldschein in die Nase. Danach ließ sie sich auf die Couch zurückfallen, schloss die Augen und erwartete die schnell eintretende Wirkung.

      Wenig später betrat Sergej erneut den Raum. Er hatte der Frau kaum verschnittenen Spitzenstoff gegeben, der sie für einige Zeit außer Gefecht setzen würde. Als er sie mit geschlossenen Augen daliegen sah, nickte er zufrieden. Er hob sie auf die Arme und trug sie in sein Zimmer. Dort legte er sie auf die Plastikfolie auf seinem Bett. Janine lallte leise Worte, die nicht zu verstehen waren.

      Sergej holte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte eine Nummer.

      »Ich habe eine Lieferung«, sagte er ohne Einleitung. »Sehr gute Qualität. Kostet das Doppelte.«

      Er lauschte der Antwort. Schließlich erklärte er: »Abholung in zwei Stunden, um vier Uhr? Dann ist der Laden leer.«

      Nachdem die Uhrzeit bestätigt worden war, legte er auf. Er warf Janine einen langen Blick zu. Eigentlich schade. Aber was konnte man machen? Geschäft war Geschäft.

      Kurz nach vier waren die beiden Abholer da. Der Ältere musterte die im Kokainrausch schwebende Frau.

      »Warum ist sie so zugedröhnt?«, knurrte er. Sein schwäbischer Akzent war unüberhörbar.

      »Wir mussten sie ruhigstellen«, gab Sergej zurück.

      Der Mann in Schwarz zog eine Spritze aus der Tasche. »Sie ist ein gottverdammter Junkie. Von wegen gute Qualität. Dafür zahlen wir nur den normalen Preis. Sollte sie nicht zu gebrauchen sein, gibt es gar nichts.« Er trat an Janine heran, packte ihren Arm und drückte ihr die Nadel in die Vene. Die junge Frau lallte einige unverständliche Worte. Als die Spritze zur Hälfte geleert war, hörte er auf.

      »Das genügt«, stellte er fest, »sonst geht sie uns noch über den Jordan.« Er gab seinem Kumpel einen Wink. Sie hoben die mittlerweile völlig betäubte Janine mitsamt der Plastikfolie auf die mitgebrachte Trage, schnallten sie fest und transportierten sie aus dem Haus. Sergej sah zu. Nachdem sie in den wartenden Transporter geschoben war, fragte der Kaukasier: »… und die Kohle?«

      Der Schwabe sah den Russen durchdringend an. »Erst wenn wir geprüft haben, ob die Ware verwendbar ist, bekommst du dein Geld.«

      Sergej wollte erst etwas erwidern, ließ es dann aber sein. Ihm war bekannt, wie gefährlich die beiden Männer waren. Er sah dem Transporter hinterher. Sergej wusste nicht genau, was die beiden mit der jungen Frau vorhatten. Sie hatten ihm nur versichert, dass sie spurlos verschwinden würde. Obwohl Sergej ein kalter, abgebrühter Mensch war, lief ihm bei dem Gedanken ein Schauer den Rücken hinunter. Langsam ging er zurück ins Haus.

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      Wie lange hast du den Professor nicht mehr gesehen?« Johanna Siedler lehnte lässig an der Wand eines Bankgebäudes in der Eichhornstraße, die Hände in den Taschen ihrer weiten Militärjacke vergraben. Eine Basecap gab ihr ein burschikoses Aussehen. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen und sie machte mit ihrem Kollegen ihre alltägliche Runde.

      Der alte Christoph, der hier seinen Stammplatz hatte, packte gerade sein Strickzeug zusammen und verräumte alles in seinen Rucksack. Wie viele ihrer Probanden duzte sie ihn und umgekehrt die Obdachlosen sie.

      Johanna Siedler, zweiunddreißig Jahre alt, schwarzhaarig, schlank, sportlich, war vor zwei Jahren von der Stadt im Rahmen eines Pilotprojekts als Sozialpädagogin eingestellt worden. Zusammen mit ihrem Kollegen Robert Felgler sollten sie als Streetworkergespann die Obdachlosen und Junkies in Würzburg betreuen. Felgler war zwölf Jahre älter als sie, mit schütterem, grau meliertem Haar, hager und einem Vollbart. Er war, entgegen seiner dynamischen Kollegin, ziemlich desillusioniert, was die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit betraf. Johanna steckte dagegen voller Tatkraft und Pläne. Sie war der Meinung, dass man die Lebensumstände einiger Probanden durchaus verbessern konnte. Dazu gehörte auch der alte Christoph, dem wegen seines Alters ihr besonderes Augenmerk galt.

      »Ist schon ein paar Tage her«, gab Christoph zurück. Sein Gesicht war fast völlig hinter einem dichten weißen Vollbart verborgen. Während er sprach, konnte sie seine schlechten Zähne sehen. Auf seiner Stirn trug er eine fast zehn Zentimeter lange, wulstige Narbe, die von einem Unfall stammte. Er trug einen weiten olivfarbenen Parka mit Kapuze, unter dem ein Pullover sichtbar war.

      Die junge Frau war sicher, er hatte die Siebzig lange überschritten. Der alte Stadtstreicher hatte sie auf den Professor angesprochen. Schon seit längerer Zeit verbreiteten die Streetworker in der Szene die Botschaft, dass man sie verständigen möge, wenn einer der Obdachlosen plötzlich verschwand.

      »Und warum glaubst du, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte?«

      »Wir haben uns unterhalten. Er wollte wieder mal in der Heimkehr übernachten. Ihm war nach einer Dusche und einer ordentlichen Mahlzeit. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Das war vor zwei Tagen. Ich schlafe ja regelmäßig


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