3:2 - Deutschland ist Weltmeister. Fritz Walter
ausprobiert worden. Wenn Turek verletzt wird, soll Ottmar für ihn ins Tor gehen. Aber nur für den Fall, dass wir im Vorteil sind und auf einen Stürmer verzichten können. Umgekehrt, wenn es darum geht, unter allen Umständen einen gegnerischen Vorsprung aufzuholen, soll Kohlmeyer die Torhüterrolle übernehmen.
Ich glaube nicht, dass Herberger in dieser gründlichen Spielersitzung etwas vergessen hat. Voll guter Vorsätze für das Spiel gehen wir in den Speisesaal zum Mittagessen.
»Poulet« steht auf der Karte, unser vor Länderspielen schon zur lieben Gewohnheit gewordenes Hähnchen; ein leichtes, aber kräftiges Essen.
Nach Tisch ist wie jeden Tag Bettruhe. Wer nicht schlafen kann, liest oder hört wie ich Kofferradio. Geruht werden muss auf jeden Fall. Deuser geht von einem Zimmer zum anderen und macht bei den elf, die zum Spiel aufgestellt sind, eine leichte Auflockerungsmassage.
Langsam wandert der Uhrzeiger! Endlich können wir dann aber doch unsere Siebensachen zusammenpacken und in den Omnibus klettern, der uns nach Bern bringt.
»Singen oder laufen!« heißt es beim Einsteigen, und ich kann versichern, dass noch niemand gelaufen ist.
Von Spiez nach Bern sind es nur etwa dreißig Kilometer. Als wir vor dem Stadion eintreffen und den Bus verlassen, nehmen uns begeisterte deutsche Schlachtenbummler in Empfang. Fähnchenschwenkend wünschen sie uns alles Gute.
Zum ersten Mal im Verlauf der Weltmeisterschaft gehen wir in unsere Kabine. Jeder sucht einen Platz und beginnt sich umzuziehen. Wir spielen in schwarzen Hosen und weißen Trikots!
Das ist heute nicht so selbstverständlich, wie es klingt, denn die Türken haben ebenfalls weiße Trikots (mit rotem Brustring). Damit der Schiedsrichter nicht irritiert werden kann und Verwechslungen zwischen den Spielern selbst ausgeschlossen sind, muss eine Mannschaft andere Trikots tragen. Es wird gelost, wer in seinem gewohnten Dress auf den Rasen darf. Eine Viertelstunde vor Spielbeginn kommt Dr. Bauwens freudestrahlend in die Kabine und verkündet.
»Das richtige Los hab’ ich schon mal erwischt! 1:0 für uns! Alles andere liegt jetzt bei euch!« Wir dürfen unsere gewohnten Trikots tragen, die Türken nehmen rote mit weißem Bruststreifen.
Herberger prüft den Rasen, Dassler sorgt dafür, dass die richtigen Stollen auf die Schuhe geschraubt werden, Arzt, Masseur – sie alle sind auf ihrem Posten. Auch ein paar von den elf Mann, die nicht spielen, müssen in der Kabine bleiben. Es könnte in letzter Minute noch etwas passieren. Erst wenn alle Spieler draußen sind, dürfen die Ersatzleute zu den anderen auf die Zuschauerbänke. Alle, die heute nicht eingesetzt werden, geben uns vor dem Spiel die Hand und wünschen »Hals- und Beinbruch«!
Jeder von uns elf sucht noch einmal das ganz stille Örtchen auf. Aufgeregtere laufen auch zwei- oder dreimal.
Herberger erinnert schnell an seine wichtigsten Anweisungen. Als draußen auf dem Gang der Pfiff des Schiedsrichters zum Fertigmachen ertönt, drückt er mir, dem Spielführer, kräftig die Hand.
»Alles klar?« frage ich die Kameraden.
»Alles klar! Jeder seinen Mann!«
Wir verlassen unsere Kabine. Mit den Türken betreten wir den Platz, umbraust vom Jubel der deutschen Landsleute, die von den rund 30.000 Zuschauern glatt die Hälfte ausmachen. Die Mannschaften stellen sich in einer Reihe auf, in der Mitte Schiedsrichter da Costa, Portugal, flankiert von beiden Linienrichtern.
Zum ersten Mal während der Weltmeisterschaft hören wir die deutsche Nationalhymne. Für uns ein feierlicher Augenblick.
Nachdem sich die Spielführer – Turgay und ich – dem Schiedsrichter vorgestellt haben und von ihm mit den Linienrichtern bekannt gemacht worden sind, tausche ich mit dem türkischen Mannschaftskapitän die Wimpel aus.
»Alles Gute!« wünsche ich ihm dabei und »Hals- und Beinbruch!«
Ob er mich versteht? Den Sinn meiner Worte bestimmt; er entgegnet mit festem Händedruck auf französisch:
»Bonne chance!« – »Viel Glück!«
Endlich, endlich ist es soweit!
Der Schiedsrichter pfeift nach der Platzwahl – ich gewinne sie – unser erstes Spiel um die Weltmeisterschaft an.
Schreckschuss ohne Wirkung
Die Türken haben Anstoß. Kohli fängt ihren Angriff ab. Dann greifen wir an und sind sofort gut in Form. Aber schon nach drei Minuten tritt das ein, was wir unter allen Umständen vermeiden wollten. Der gefährliche türkische Halbrechte Suat wird bei einem überraschenden Vorstoß nicht am Schuss gehindert. Unsere Hintermannschaft ist nicht gleich im Bilde. Der an und für sich harmlose Ball geht unter Toni Turek, der sich zu spät danach wirft, ins Tor.
Wir erstarren zu Salzsäulen. Die Türken springen vor Freude in die Luft, sie stürzen aufeinander zu und fliegen sich um den Hals. Wir haben nur einen Gedanken: ihnen genügt ein Unentschieden! Und jetzt liegen sie schon 1:0 im Vorteil!
Der Schock wirkt zum Glück nur kurze Sekunden. Wir schauen einander an, und Max Morlock schreit:
»Macht nix! Jetzt erst recht!«
Ottmar und ich stehen in seiner Nähe. Mit Händen und Füßen redend geben wir den anderen zu verstehen: Lasst jetzt bloß die Köpfe nicht hängen! Im Nu haben wir uns wieder in der Gewalt; mit verstärktem Elan stürmen wir los.
Die Taktik der Türken ist für uns eine große Überraschung. Sie verlegen sich durchaus nicht so ausschließlich auf die Verteidigung, wie wir es erwartet haben. Immer wieder brechen sie durch, spielen wirklich gescheit ihren Mittelstürmer an, und der setzt geschickt die Flügelstürmer ein. Ihr Kombinationsspiel klappt vorzüglich. Diese Türkenmannschaft, die ja – und das war die erste Sensation – das »gesetzte« Spanien ausgeschaltet hat, ist weit stärker als in Berlin, wo sie (auf den Tag genau vor drei Jahren) gegen eine schwach spielende deutsche Mannschaft 2:1 gewonnen hat. Sie ist auch weit stärker als beim Rückspiel in Istanbul, wo wir uns am 21. November 1951 sehr, sehr schwer taten, einen 2:0-Sieg zu erringen.
Da kommt von der Läuferreihe, von Eckel, ein Pass zu mir. Bevor ich den Ball am Fuße habe, weiß ich schon, was er will. Steil lege ich ihn Max Morlock vor, der sofort in Stellung läuft. Er reagiert genau so prompt, erkennt blitzschnell, dass sich Hans Schäfer von seinem Posten als linker Flügelstürmer löst und in die Mitte startet. Haargenau spielt Max in den freien Raum. Schäfer bekommt den Ball direkt auf den Fuß, nimmt ihn mit und stürmt – stürmt zwischen zwei Verteidigern in der Mitte durch und schießt an dem herauslaufenden Torwart Turgay vorbei in der 13. Minute den Ausgleich.
Nun liegen wir uns in den Armen.
»So, jetzt kann’s losgehen!«
»Aufpassen!«
»Nur nicht nachgeben!«
Aufgemuntert forcieren wir das Tempo und unser ganzes Spiel. Keine Spur mehr von Nervosität bei uns im Sturm, immer häufiger gehen wir zum Angriff über. Aber die türkische Hintermannschaft gibt sich keine Blöße. Die beiden Verteidiger sind eisenhart, und Turgay hat einen guten Tag. Mit aller Kraft setzen sich unsere Gegner zur Wehr, dabei sind harte Zweikämpfe unvermeidlich. Sie sehen von außen her jedoch meist viel schlimmer aus, als sie wirklich sind. Man geht auch gleich aufeinander zu, entschuldigt sich, klopft sich gegenseitig auf die Schulter und beteuert, dass es nicht so gemeint war. Wir können es den Türken nicht einmal verdenken, dass sie hart spielen und außerdem die Bälle immer wieder weit nach vorn schlagen, nur um Luft zu bekommen. Ihnen genügt ein Unentschieden! Sie versuchen durch verzögernde Tricks das 1:1 zu halten. Kurz vor der Halbzeit gehen wir, nein, wären wir beinahe durch Ottmar in Führung gegangen: Er schießt ein Tor, leider aus einwandfreier Abseitsstellung. Auch eine Ecke gibt es noch für uns, aber sie bringt nichts ein. Kurz darauf pfeift Schiedsrichter da Costa zur Pause.
In der Kabine holen wir zwei, drei Minuten lang zuerst einmal ruhig Luft, schnaufen so tief, wie wir nur können. Masseur Deuser sieht nach, was wir an Prellungen abbekommen haben. Mit einer Tinktur reibt er dem einen die Oberschenkel, dem anderen den Rücken oder die Brust ein. Er schuftet