3:2 - Deutschland ist Weltmeister. Fritz Walter
können wir das gegnerische Tor nicht oft in Gefahr bringen. Alfred Pfaff hat es dieses Mal geschafft, aber Torwart Grosics ist schneller am Ball. Rechts im Bild: Linksaußen Herrmann.
»Freundchen, Freundchen!« droht der ungarische Mittelläufer Lorant mit erhobenem Zeigefinger dem temperamentvollen Boss. Torwart Grosics sitzt, den Ball im Arm, am Boden und schaut verdutzt zu Rahn auf. Der englische Schiedsrichter Ling mahnt ungeduldig, doch weiterzuspielen.
An der Grenze gibt es keine Schwierigkeiten. Die Schweizer Zöllner sind für die Dauer der Fußball-Weltmeisterschaft mit besonderer Liebenswürdigkeit gerüstet.
»Was wollt denn ihr in der Schweiz?« verulken sie uns gutmütig, »ihr habt doch nicht etwa vor, die Ungarn, Brasilianer oder Urus zu schlagen?«
Offensichtlich trauen sie uns nicht allzu viel zu, aber um Autogramme bitten sie uns doch. Man kann ja nie wissen …
In Basel heißt uns Präsident Dr. Thommen vom Schweizerischen Fußballbund willkommen.
Wir essen eine Kleinigkeit und fahren dann im Omnibus weiter. Ein großes Ulmer Werk hat ihn mit Chauffeur für die Dauer unseres Aufenthaltes in der Schweiz kostenlos zur Verfügung gestellt. Albert Sing, unser Verbindungsmann zum Organisationskomitee der FIFA, sorgt dafür, dass wir auf dem Weg nach Spiez das Berner Stadion besichtigen können. Hier werden wir am nächsten Donnerstag gegen die Türken spielen. Hier findet am 4. Juli auch das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft statt. Keiner denkt im Ernst daran, dass wir da noch etwas mitzureden haben. Aber wir werden von den Tribünen dort oben aus zusehen, wenn die Weltbesten unten auf dem Rasen um den Coupe Rimet kämpfen. Ein großartiges Spiel muss das werden! Wir möchten es um keinen Preis verpassen!
Hotel direkt am See
Es ist schon neun Uhr abends vorbei, als unser Bus vor dem Belvédère in Spiez hält. Zimmerverteilung! Kofferschleppen! Herberger hat für alles gesorgt: der dritte Stock im Hotel ist für uns reserviert. In jedem Zimmer wohnen zwei Mann. Der Chef sucht sie nach Möglichkeit so aus, dass sie sich bis in die letzten Träume hinein fachlich unterhalten können. So hausen zwei Verteidiger zusammen, Kohlmeyer und Laband; die zwei Torwächter Kwiatkowski und Kubsch; der rechte Flügel, Morlock und Klodt; Mai und Posipal von der Hintermannschaft; Außenläufer mit Außenstürmer wie Eckel und Schäfer, oder wie die Gespanne alle heißen. Mein Zimmergefährte ist schon seit einigen Länderspielen Helmut Rahn, unsere Stimmungskanone.
Die Paare sind zum Teil unzertrennlich. Eckel weicht auch dann nicht von Schäfers Seite, als dessen Frau in die Schweiz kommt. Sie nennt ihn aus diesem Grund nur noch den »Schatten«.
Herberger hat ein Zimmer für sich, Dr. Loogen und Deuser beziehen zusammen eines. Unsere Offiziellen – Dr. Bauwens, Huber, Körfer, Deckert – wohnen eine Etage tiefer.
Wir sind im dritten Stock ganz unter uns und halten fröhlichen Einzug. Jedes Zimmer hat einen kleinen Balkon mit herrlichem Ausblick auf den See und die Berge. Ich glaube nicht, dass irgendeine Nationalmannschaft ein landschaftlich schöner gelegenes Quartier hat. Die Ungarn zum Beispiel wohnen in Solothurn, direkt an einer verkehrsreichen Straße. Zu unserem Hotel dringt kein Lärm, es ist wohltuend ruhig. Mit den anderen Gästen haben wir wenig Kontakt. Zu den Mahlzeiten treffen wir uns in einem kleinen, reservierten Raum.
Gleich bei der Ankunft wird mir ein Eilbrief meiner Frau überreicht.
»Ich bin fest davon überzeugt«, schreibt sie, »Ihr werdet der ganzen Welt zeigen, was Ihr könnt. Du wirst die Spiele Deines Lebens spielen, damit ich auch weiß, warum ich Dich so oft und so lange hab’ hergeben müssen.«
Am anderen Morgen beginnt gleich nach dem Frühstück der Ernst des Lebens. Für uns heißt das: Training! Zehn Kilometer von Spiez entfernt steht uns in Thun ein gepflegter, wunderschön gelegener Sportplatz zur Verfügung. Zufällig trainieren hier auch die Uruguayer, die über dem See in Hilterfingen wohnen. Es ergibt sich, dass sie den Platz von neun bis halb elf Uhr benutzen, und wir anschließend bis zwölf. Als wir das erstemal auftauchen, werden wir stürmisch begrüßt. Das Hallo gilt vor allem Helmut Rahn, der mit seinem Verein Rot-Weiß Essen wochenlang in Südamerika war und auch gegen die Nationalelf der Urus gespielt hat. Zweimal konnte Rot-Weiß-Essen in Uruguay gewinnen, gegen die Nationalmannschaft allerdings hat es 1:5 verloren. Der Boss bekam Bombenkritiken und auch zahlreiche Angebote. Jetzt fallen ihm die Urus um den Hals, schlagen ihm temperamentvoll auf die rechte und auf die linke Schulter. Der Helmut in seiner burschikosen Art steht ihnen nicht nach. Auch er: rechte Schulter, linke Schulter. Es ist ein unbeschreibliches Palaver!
Am nächsten Tag treffen wir in Thun die Urus wieder. Ich täusche mich bestimmt nicht: bei aller Liebenswürdigkeit mustern sie uns ziemlich mitleidig. Ganz offensichtlich denken sie: »Ja, was wollen denn die?« In den Zeitungen liest man, dass die Urus, die 1950 bei der IV. Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien den Coupe du Monde zum zweiten Mal gewonnen haben, den Pokal erst gar nicht mit in die Schweiz bringen wollten. So fest sind sie davon überzeugt, dass sie ihn ein drittes Mal erringen – in diesem Fall würde er ihr Eigentum.
Die Schweizer schenken uns neben der großen Konkurrenz nur wenig Beachtung. In Scharen kommen sie und schauen den Südamerikanern beim Training zu; sie können sich an ihrer
Ballartistik nicht sattsehen. In unserer mehr nüchternen und sachlichen Art warten wir, bis sich die Zuschauer verlaufen, und nur noch unsere Anhänger auf dem Platz sind. Das Training umfasst ein reichliches Pensum an Laufarbeit. Wir drehen Runden auf der Bahn, erst gemächlich, machen zwischendurch ein paar Starts wie in Grünwald. Dann spielen wieder fünf Mann gegen fünf oder Sturm gegen Hintermannschaft. Jedenfalls ist alles darauf abgestellt, uns zu lockern und gut in Kondition zu halten.
»Ich werde einfach das Gefühl nicht los, wir müssen eines Tages gegen die Urus spielen!«
Davon bin ich fest überzeugt, und die anderen sind es auch. Die Vorstellung hält sich, weiß der Teufel warum, lange Zeit und wird zur fixen Idee für die ganze Mannschaft.
Es ist selbstverständlich, dass uns diese Vorahnung gleich am Samstag, einen Tag nachdem wir in der Schweiz eingetroffen sind, nach Thun treibt, wo die Urus gegen die Thuner Stadtmannschaft antreten. Die Gastgeber, die uns ihr schönes Stadion zum Training überlassen, sind gerade in die I. Schweizer Liga aufgestiegen.
Auch die Ungarn kommen aus Solothurn, um ihre viel gerühmten Rivalen spielen zu sehen. Unser Jupp Posipal, der aus dem Banat stammt und ungarisch spricht, geht gleich auf Rechtsaußen Zoltan Czibor zu. Vor Jahren hat er mit ihm die Schulbank gedrückt, jetzt begrüßt er ihn herzlich. Jupp kennt auch die anderen Ungarn ganz gut, weil er mit Herberger beim Spiel Österreich gegen Ungarn (0:1) in Wien war.
Die Zuschauer des ungleichen Fußballkampfes Uruguay – Thun kommen voll und ganz auf ihre Kosten. Die Südamerikaner sparen nicht mit Tricks und Raffinessen. Ihre spielerische Eleganz, ihre traumwandlerisch sichere Ballbehandlung sind bestechend. In der ersten Halbzeit wehren sich die Thuner noch recht tapfer, sie haben sogar ein paar Torgelegenheiten. Nach der Pause aber gehen sie im Wirbel der Urus unter. Mit einer zweistelligen Packung verlassen sie den Platz.
Wir bestaunen und bewundern die Südamerikaner, erkennen aber auch, dass ihre Deckung nicht reibungslos funktioniert. Taktisch, als Mannschaft gesehen, sind diese Individualisten durchaus verwundbar. Wenn wir in bester Form gegen sie antreten könnten, mit unserem schnellen, direkten Spiel ohne jeden Schnörkel, trauen wir uns durchaus eine Chance gegen den Weltmeister von 1950 zu. Wir sind zwar beeindruckt, aber doch nicht so, dass wir Komplexe mit heimnehmen. Im Gegenteil – unser Selbstvertrauen wächst um ein gutes Stück.
Nur ein Spieler fasziniert mich von der ersten Minute an, Juan Schiaffino, der berühmte Halbstürmer. Auch Herberger ist der Meinung, dass er hoch über alle hinausragt. Es ist ein Genuss, diesem Mann zuzuschauen. So begeistert bin ich, dass ich meiner Frau schreibe:
»Ich wünschte mir nur, zehn Jahre jünger zu sein und mit ihm in einer Mannschaft spielen zu können!«
Wie dir Urus nutzen