Die Psoas-Lösung. Evan Osar
Tanzensembles. Eine Voraussetzung für einen eindringlichen und schönen Tanz ist der volle – und häufig auch übermäßige – Bewegungsumfang in der Hüftstreckung, um typische Positionen wie die Arabesque und das Grand battement ausführen zu können. Wenn ich die Tänzer, die zu mir kamen, fragte, auf welchen Bereich ich mich während der Behandlungssitzung konzentrieren sollte, waren die Hüftbeuger übereinstimmend der häufigste Bereich, in dem sie über Verhärtungen klagten und mehr Flexibilität brauchten.
In der Ausbildung hatte ich etwas über das untere gekreuzte Syndrom gelernt – eine Haltung, die durch eine übermäßige Kippung des Beckens nach vorne und eine erhöhte Lumballordose gekennzeichnet ist. Auf diesen Begriff wurde in praktisch jedem Artikel eingegangen, den ich über Schmerzen im unteren Rücken las sowie in Fortbildungen, an denen ich teilnahm. Ich führte die Befunderhebungen so durch, wie ich sie in der Ausbildung und in den verschiedenen Fortbildungen gelernt hatte, dabei stellte ich bei jedem Tänzer eine Kippung des Beckens nach vorne und eine Hyperlordose fest.
Ich war überzeugt davon, für die Hüftprobleme dieser Tänzer eine Lösung zu haben: eine Dehnung der Hüftbeuger (insbesondere des M. psoas, denn dies war, wie ich gelernt hatte, der Muskel, der am häufigsten für eine Verhärtung im vorderen Hüftbereich verantwortlich ist) und eine Kräftigung der Gesäßmuskeln. Schließlich hatte ich gelernt, dies sei »die Patentlösung« für das untere gekreuzte Syndrom und für die häufigsten Ursachen von Schmerzen im unteren Rücken. Wenn ich den Thomas-Handgriff durchführte (siehe Anhang I: Untersuchung des M. psoas), bekam ich jedoch häufig gemischte Informationen. Beim Thomas-Handgriff würde man erwarten, einen verkürzten M. psoas zu finden, wenn die Person eine Kippung des Beckens nach vorne und eine Hyperlordose in der Lendenwirbelsäule aufweist. Das entsprach jedoch nicht meinen Befunden: Im Gegensatz zu dem, was ich gelernt hatte, wies beinahe jeder Tänzer, den ich untersuchte, einen verlängerten M. psoas auf.
Da ich noch zu wenig klinische Erfahrung hatte, auf die ich mich stützen konnte, und viel zu großes Vertrauen in meine Untersuchung der Haltung und die Selbsteinschätzung der Tänzer, die ihre Hüftbeuger als »wirklich fest« empfanden, nahm ich an, ich würde etwas übersehen und ließ sie weiterhin den Psoas-Muskel und die anderen Hüftbeuger dehnen. Zusätzlich ließ ich sie Übungen für den M. gluteus maximus zur Kräftigung der »schwachen« und »inhibierten« Antagonisten des M. psoas durchführen. Soweit ich es zur damaligen Zeit beurteilen konnte, hatte ich mit diesem Vorgehen gemischte Erfolge. Einige Tänzer fühlten sich anschließend großartig und wollten diese Behandlung fortsetzen, andere jedoch berichteten über vermehrte Verhärtungen im hinteren Hüftbereich und im unteren Rücken. Ich schrieb dies der Tatsache zu, dass wir die Muskeln wahrscheinlich nicht ausreichend gedehnt oder gekräftigt hatten und dass sie wohl noch ein oder zwei weitere Behandlungen brauchten.
Leider wandte ich diese Strategie eines Tages bei einer Tänzerin mit chronischen Verhärtungen in der Hüfte und Missempfindungen im unteren Rücken an, worauf sie nach der Behandlung vermehrte Beschwerden im unteren Rücken hatte. Sie konnte an diesem Abend nicht auf die Bühne, und es dauerte Wochen, bis sie nach der Behandlung wieder tanzen konnte. Überflüssig zu sagen, dass sie in der Folge kein großes Vertrauen in meine Dienste hatte. In meiner Privatpraxis begannen mehr und mehr Patienten, ähnliche Geschichten zu berichten. Ich erinnere mich etwa in dieser Zeit an die Fälle von zwei Patienten, die das Gefühl hatten, nach der Behandlung, bei der ich ihren M. psoas gedehnt hatte und sie die Bauch- und Gesäßmuskeln kräftigen ließ, ihr Rücken sei »ausgerenkt«. Bei all dem, was ich gelernt hatte, hätte so etwas nach dem altbewährten Behandlungsprotokoll nicht geschehen dürfen.
Wenn ich heute zurückblicke, ist mir klar, wo das Problem lag: Ich sah nur das, was ich zu sehen gelernt hatte. Wie Ralph Waldo Emerson einmal sagte: »Die Menschen sehen nur das, worauf sie vorbereitet sind.« Heute kann ich im Rückblick erkennen, dass ich gar keine Kippung des Beckens nach vorne und keine lumbale Hyperlordose gesehen hatte – das also, wonach zu suchen ich gelernt hatte und weswegen ich es zu sehen meinte. (Anmerkung: In diesem Buch werde ich besprechen, was ich bei diesen Tänzern und vielen meiner Patienten tatsächlich gesehen habe und warum so viele Personen mit Beschwerden zu uns kommen, die sich deutlich von dem unterscheiden, was wir einmal gelernt haben.)
Darüber hinaus versuchte ich, jeden individuellen Patienten – und ich betone das Wort individuell – in ein Behandlungsschema zu pressen, anstatt wirklich zu verstehen, was ich bei meinen Tänzern und anderen Patienten vor mir sah (einen verlängerten M. psoas und verlängerte Hüftbeuger), um dies angemessen anzugehen.
Ich hatte also zugelassen, dass meine Ausbildung schwerer wog als meine Erfahrung. Hätte ich dieses Zitat gekannt – und vor allem seine Bedeutung wirklich verstanden – hätte ich bei den Tänzern und Patienten, die ich vor vielen Jahren behandelte, einen anderen Ansatz gewählt. Nichts kann die Bedeutung der klinischen oder praktischen Erfahrung wirklich ersetzen… außer vielleicht die Lektionen, die man aus diesen Erfahrungen lernen muss. Um ehrlich zu sein ist das Konzept einer stärkeren Kippung des Beckens nach vorne und einer Lumballordose als Ursache für Probleme im unteren Rücken und den Hüften sowie eine Fülle anderer Dysfunktionen heute noch ebenso vorherrschend in der Rehabilitation und dem Training wie vor vielen Jahren.
Seit diesen frühen Tagen, in denen ich selbstkritisch überlegte, ob ich jemals gut genug sein und genug wissen würde, um anderen tatsächlich helfen zu können, bin ich sehr viel aufgeschlossener und mit größerer Demut an meine Arbeit herangegangen. Jeder Einzelne, der sich vertrauensvoll von mir behandeln und betreuen lässt, wird von mir fortwährend neu eingeschätzt, behandelt und/oder trainiert. So glücklich ich auch bin, dass ich vielen helfen kann, ihre Gesundheits- und Fitnessziele zu erreichen, interessiere ich mich noch sehr viel mehr für diejenigen, denen ich nicht helfen kann – den Personen, deren Zustand sich eigentlich verbessern sollte und die alles Nötige für eine Besserung tun, aber dennoch weiterhin eine chronische Dysfunktion aufweisen, die sie daran hindert, ihre Gesundheits- und Fitnessziele zu erreichen.
Wir werden für unsere Erfolge anerkannt, aber wir lernen aus unseren Misserfolgen. Jeder einzelne Tag, an dem ich praktiziere, ist ein Tag des Lernens. Jeden Tag erfahre ich Anerkennung … und jeden Tag bieten sich mir Gelegenheiten, weiter zu lernen. Wenn es mir nicht gelingt, einem Patienten zu helfen, lasse ich mich auf einen neuen Weg der Entdeckung und des Lernens ein.
Dieses Buch ist tatsächlich eine »klinische Momentaufnahme« der Lektionen, die ich während der Jahre meiner Berufspraxis gelernt habe, in denen ich mit tausenden von Personen gearbeitet habe, die Dysfunktionen im unteren Rücken, im Becken und in den Hüften aufwiesen. Mangels eines besseren Begriffs ist dieses Buch auch ein Kompendium der Herangehensweisen, die wir in unserer Klinik üblicherweise bei einem Patienten mit Dysfunktionen des Rückens, des Beckens und der Hüften befolgen – nicht nur bei Athleten und Personen, die körperliche Höchstleistungen erbringen müssen.
Wie ist dieses Buch aufgebaut und wie kann es Ihnen helfen? Das Buch soll eine Geschichte über den Psoas-Muskel erzählen, dabei baut jedes Kapitel auf den Inhalten des vorherigen Kapitels auf. Dennoch enthält jedes Kapitel genügend praktische Informationen, sodass Sie sich über das jeweilige Thema informieren können, auch wenn Sie ein Kapitel überspringen wollen. Falls Sie ein Kapitel übersprungen haben und sich nun Fragen zu den Übungen ergeben, sollten Sie jedoch auf jeden Fall die vorherigen Kapitel lesen, insbesondere das Kapitel 1 zur funktionellen Anatomie, um etwaige Lücken zu schließen, die in späteren Kapiteln möglicherweise auftauchen.
Wie erwähnt befasst sich Kapitel 1 mit der funktionellen Anatomie, d.h. mit den Ansätzen des Psoas-Muskels an Knochen und Faszien und auf der Grundlage dieser Architektur mit der wahrscheinlichsten Funktion dieses Muskels bei Haltung und Bewegung. In diesem ersten Kapitel werden auch mehrere verbreitete Ansichten über den Psoas-Muskel angesprochen. Wenn beispielsweise der M. psoas ein reiner Hüftbeuger ist, warum setzt er dann an allen Wirbelkörpern von T11 bis L5 an und warum hat er Faszienverbindungen mit dem Zwerchfell, dem M. transversus abdominis und dem Beckenboden? Wenn der Psoas bei der Beckenbewegung eine Rolle spielt, welchen Hinweis geben dann die Ansätze