Die Psoas-Lösung. Evan Osar
•Suspension
•Sitting Posture
Schematische Darstellung des Skeletts
KAPITEL
1
Funktionelle Anatomie des M. psoas
Themen
•Knöcherne und myofasziale Ansätze des M. psoas
•Terminologie zur Bewegung von Hüften, Wirbelsäule und Becken
•Die funktionelle Rolle des M. psoas bei Stabilisierung und Bewegung der Wirbelsäule, bei Gang und Atmung
•Anatomische Zusammenhänge zwischen M. psoas und M. iliacus, M. gluteus maximus und M. multifidus
Wahrscheinlich wird kein anderer Muskel im Körper, der die Aufmerksamkeit von Studenten, Chiropraktikern, Physiotherapeuten, Ärzten und Fitnessexperten auf sich zieht, mehr missverstanden oder schlechtgemacht als der M. psoas. Häufig wird er dafür verantwortlich gemacht, eine Vielzahl an muskuloskelettalen Problemen zu verursachen wie Schmerzen im unteren Rücken, Verhärtungen in der Hüfte und Hemmung der Gesäßmuskulatur. Außerdem ist er in Verruf, der primäre Muskel zu sein, der für häufige posturale Dysfunktionen wie eine Kippung des Beckens nach vorne und eine übermäßige Lordose im Lumbalbereich mitverantwortlich ist. Der M. psoas wird chirurgisch gelöst, wenn davon ausgegangen wird, dass er zu einem Impingement und zu Problemen mit einer »schnappenden« Hüfte beiträgt (Hwang et al. 2015, Dobbs et al. 2002, Taylor und Clark 1995).
Um zu verstehen und zu würdigen, welche Funktion dem M. psoas tatsächlich bei Haltung und Bewegung zukommt, wird dieses Kapitel die funktionelle Anatomie des Muskels bezüglich seiner Ursprünge und Ansätze sowie seinen Einfluss auf die mit ihm in Verbindung stehenden Gelenke erkunden. Zwar nehmen Interesse und Forschung am M. psoas zu, an Gesamtwissen über seine tatsächliche Funktion fehlt es jedoch verglichen mit anderen Muskeln. Soweit vorhanden, werden jedoch evidenzbasierte Informationen über seine Funktion geliefert. Wo solche Informationen fehlen, wird eine Kombination aus Forschung und klinischer Erfahrung genutzt, um daraus Informationen zu extrapolieren und das weitgehend akzeptierte Wissen über den M. psoas entweder zu erweitern oder kritisch zu hinterfragen.
Ursprünge und Ansätze des M. psoas
Theoretisch hilft der M. psoas bei der Stabilisierung der Wirbelsäule im Thorax-Beckenzylinder (TPC)(Osar 2015). Die faszialen Ursprünge und Ansätze des M. psoas vom Zwerchfell bis zum Beckenboden und in das Becken hinein legen nahe, dass er zusätzlich zu seinem Einfluss auf die Hüfte eine wichtige Rolle für die Stabilität des unteren Anteils des TPC spielt.
Der M. psoas major (PMj) entspringt von den vorderen seitlichen Wirbelkörpern und Querfortsätzen jedes Wirbels von T12 bis L5. Er entspringt auch, abgesehen von L5–S1, an den Zwischenwirbelscheiben der Lendenwirbelsäule. Weiter oben verbindet sich die Faszie des M. psoas mit den Zwerchfellschenkeln und geht in den M. transversus abdominis über (Stecco 2015, Gibbons 2005ab, Gibbons 2007, Myers 2014). Die Faszie, die das hintere Zwerchfell bedeckt, verbindet Zwerchfell, M. quadratus lumborum und M. psoas (Bordoni und Zanier 2013).
Distal wird der PMj dicker, verbindet sich mit dem Beckenboden und bindet sich durch Faszien in die unteren Fasern des M. transversus abdominis und des M. obliquus internus ein (Gibbons 2005ab, Gibbons 2007). Er verbindet sich mit dem Beckenrand und durch seine Faszien mit dem Beckenboden, bevor er weiter nach unten verläuft, um am Trochanter minor des Femur anzusetzen (Gibbons 2005ab, Gibbons 2007). So wirkt der M. psoas als myofasziale Verbindung zwischen Zwerchfell und Beckenboden (Bild oben).
Studien ergaben, dass 40–50 % der Bevölkerung keinen M. psoas minor (PMn) haben (Stecco 2015, Myers 2014, Franklin 2011, FitzGordon 2013), auch wenn er bei 65,6 % der 32 von Neumann und Garceau (2014) sezierten Hüften vorhanden war. Ist der PMn vorhanden, entspringt er von den unteren zwei Brustwirbeln, den benachbarten Rippen und Bandscheiben und setzt am oberen Beckenast an.
Bei Personen ohne PMn verbinden sich Fasern des PMj mit der iliakalen Faszie an der Eminentia iliopubica (Stecco 2015, Myers 2014).
Zum besseren Verständnis der Funktion des M. psoas konzentriert sich der nächste Abschnitt auf die Bewegung in Verbindung mit dem Hüftkomplex.
Gelenkbewegung und -zentrierung
Der M. psoas übt auf mehrere Gelenke des Körpers einen sehr spezifischen Einfluss aus wie auf Hüfte, Wirbelsäule und Becken. Dieses Buch bespricht die Rolle des M. psoas bei der Haltungs- und Bewegungskontrolle in diesen Bereichen. Wo sich zwei Knochen verbinden, entsteht ein Gelenk, um eine Bewegung zu erlauben. Größe und Form des Gelenks sowie die Art der Muskeln, Faszien und Bänder, die es umgeben, bestimmen den möglichen Bewegungsumfang dieses Gelenks.
Ein Synovialgelenk enthält Synovialflüssigkeit und knorpelige Enden, die jeden Knochen des Gelenkes bedecken, und es wird von einer ligamentösen Gelenkkapsel umgeben. Eine optimale Beweglichkeit des Gelenks – erreicht durch die richtige Ausrichtung und Kontrolle – regt die Produktion der Synovialflüssigkeit an, während optimale Ruhe (nicht-gewichtstragende Haltungen) es dem Gelenk erlauben, sich zu entspannen. Die angemessene Belastung und Entlastung von Synovialgelenken sind Schlüsselfaktoren für die Förderung und den Erhalt der Gesundheit und Langlebigkeit des Gelenks. Länger anhaltende Kompression nach myofaszialen Überspannungen (Gripping) ist eine häufige Ursache für degenerative Gelenkerkrankungen.
Bei optimaler Ausrichtung und Kontrolle kann das Hüftgelenk normalen Kräften standhalten, und es findet eine normale Gelenkalterung statt. Bei beeinträchtiger Ausrichtung und Kontrolle und/oder myofaszialer Überspannung als Ergebnis einer zu starken Kompression des Gelenks wird es durch chronischen Verschleiß degenerieren, was zu einer degenerativen Gelenkerkrankung führt. Genau wie die Synovialgelenke enthält auch die Wirbelsäule knorpelige Gelenke, die von zwei Knochen gebildet werden, die durch eine Zwischenwirbelscheibe (Bandscheibe) aus Knorpelgewebe miteinander verbunden sind. In der Wirbelsäule sind zwei benachbarte Wirbel (Knochen) über eine Zwischenwirbelscheibe (knorpeliger Anteil der Bandscheibe) miteinander verbunden. Die Facettengelenke, die bei der Bewegung der Wirbelsäule helfen, werden von zwei benachbarten Wirbeln gebildet und gelten als Synovialgelenke (Abbildung unten).
Gelenkbewegung von Hüften, Wirbelsäule und Becken
Ungeachtet des Gelenktyps wird die Gelenkbewegung im Allgemeinen danach benannt, was der proximale Gelenkknochen (der am nächsten am Körperzentrum ist) in Bezug zum distalen Knochen macht (der am weitesten davon entfernt ist).