Die Psoas-Lösung. Evan Osar
mit zu starker Flexion der Lendenwirbelsäule) und ein falsches Startsignal zu Beginn der Squat-Bewegung) können zu einer Überaktivierung bestimmter Muskeln im Verhältnis zu anderen beitragen, wodurch Gelenkausrichtung und -kontrolle beeinträchtigt werden.
Der Erfolg bei der Ausübung auf einem optimalen Niveau, die Linderung chronischer Steifigkeit oder chronischer Beschwerden und die Minimierung des Verletzungsrisikos – alles wird letztlich von der Fähigkeit zur Gelenkzentrierung beeinflusst. Das Ziel bei jedem Reha- und/oder Trainingsprogramm ist, die geeignetsten Übungsmuster, Anweisungen und Strategien zu wählen, die eine ideale Gelenkzentrierung verbessern und/oder aufrechterhalten. Dieses Thema wird bei der Entwicklung der Übungsmuster im Mittelpunkt stehen, die in den späteren Kapiteln besprochen werden.
Klinische Betrachtung
»Gelenkzentrierung« gilt häufig als esoterischer Begriff, daher wird der Gebrauch als gültiger Untersuchungsbegriff oft kritisiert. Der Großteil der Fehleinschätzung stammt aus der Unfähigkeit vieler Therapeuten, genau zu bestimmen, ob ein Gelenk richtig zentriert ist oder nicht. Da nur Wenige wirklich in dieser Beurteilung geschult sind, wird die Gelenkzentrierung entweder als ungültiges Untersuchungswerkzeug verworfen oder als oberflächlicher Augenscheintest abgehakt (»Ich denke, es tut/tut nicht, was es tun sollte« oder »Es sieht so aus, als würde es sich so bewegen/nicht so bewegen, wie es sollte«).
Während man beobachten kann, was in einer bestimmten Körperregion geschieht, lässt sich durch visuelle Überprüfung nicht genau bestimmten, was auf Gelenkebene tatsächlich geschieht. Die Palpation ist die genaueste und zuverlässigste Methode für die Beurteilung der Gelenkstellung und Gelenkbewegung.
Die Palpation ist wie jede klinische Fähigkeit eine Fertigkeit, die nur vervollkommnet werden kann, indem man mit seinen Händen viele Gelenke abtastet – sowohl solche, die gut ausgerichtet und kontrolliert sind, als auch solche, die nicht gut ausgerichtet und nicht kontrolliert sind. Ein umfassendes Verständnis der strukturellen Anatomie, der Biomechanik (wo ein Gelenk im Idealfall positioniert ist und wie es sich optimal bewegen sollte) und der motorischen Kontrolle (wie das neuromyofasziale System die Gelenkstellung während einer bestimmten Haltung oder Bewegung beeinflusst) ist eine Vorbedingung dafür, bestimmen zu können, ob ein Gelenk ideal zentriert ist oder nicht.
Auch wenn nicht jeder so spezifisch untersucht werden muss, können Ärzte oder Fitnessexperten auch Klienten oder Patienten mit chronischen Problemen im unteren Rücken oder in der Hüfte haben, die mit einer nicht-optimalen Gelenkzentrierung zusammenhängen könnten. Da sich die meisten Personen, die zur Behandlung kommen, mit chronischer Steifigkeit, Schmerzen und/oder Leistungsverlust vorstellen, sollte ihre Gelenkzentrierung und, noch wichtiger, ihre Kontrollstrategie untersucht werden.
Wenn man keiner Berufssparte angehört, die eine Palpation erlaubt, kann es vorteilhaft sein, mit einem Therapeuten zusammenzuarbeiten, der in der Untersuchung der Gelenkzentrierung geschult ist. Kann der Klient/Patient nicht mit eigenen Händen untersucht werden, muss sich der Entscheidungsprozess alleine auf die Information stützen, die der Augenschein und die Erfahrung liefern.
Open- und Closed-Chain-Bewegung
Die Begriffe »Open-« und »Closed-Chain« werden häufig in Zusammenhang mit der Bewegung der unteren kinetischen Kette erwähnt. Die kinetische Kette bezieht sich auf die strukturellen und neuralen Verbindungen zwischen benachbarten Körpersegmenten. Eine Bewegung gilt als Open-Chain, wenn der distale Anteil der kinetischen Kette – im Beispiel der unteren Extremität der Fuß oder ein anderes Segment dieser Extremität – keinen Bodenkontakt hat und daher im Allgemeinen nicht davon ausgegangen wird, dass er die proximale Gelenkbewegung beeinflusst (siehe mehr dazu unter »Klinische Betrachtung«). Hat der distale Anteil der kinetischen Kette Bodenkontakt, sodass er die Bewegung in den proximaleren Gelenken beeinflusst, gilt die Bewegung als Closed Chain.
Open-Chain-Hüftflexion der rechten Hüfte.
Klinische Betrachtung
Open-Chain-Bewegungen gelten als isolierte Gelenkbewegungen, die nicht unbedingt die distalen Körperbereiche beeinflussen können. Sprunggelenk und Fuß etwa schreibt man in der Regel nicht die Fähigkeit zu, die Bewegung der Hüfte zu beeinflussen, wenn der Fuß vom Boden abgehoben ist wie beim Sitzen oder Liegen. Der Sprunggelenk- und Fußkomplex ist neurologisch jedoch mit der gesamten kinetischen Kette verbunden. Klinisch wurden Veränderungen der Hüftbewegung und Hüftkraft nach einer Zentrierung beobachtet – einer Zentrierung von Sprunggelenk und Fuß, sogar in sitzender Position oder in Rückenlage, ohne irgendeinen Kontakt des Fußes mit einer Fläche. Das ist ein wichtiger Grund dafür, warum der Zentrierung möglichst vieler Gelenke während der Rehabilitation oder des Trainings, unabhängig von der Körperposition, so große Bedeutung beigemessen wird.
Closed-Chain-Hüftflexion beim Squat.
Ein Beispiel für eine Open-Chain-Bewegung ist das Bewegungsmuster einer Hüftflexion im Stehen, bei der sich die Hüfte beugt, die Bewegung der unteren Extremität jedoch die Hüftstellung nicht beeinflusst.
Bei der Kniebeuge hingegen hat der Fuß Bodenkontakt und beeinflusst daher durch seine Auswirkung auf Tibia und Femur auch die Bewegung im Hüftgelenk.
Funktionelle Anatomie des M. psoas
Dieser Abschnitt befasst sich mit dem PMj und PMn als den beiden Bestandteilen des Psoas-Komplexes. Da der PMj bei Fehlen des PMn den oberen Schambeinast mit Muskelfasern versorgt (Stecco 2015, Myers 2014), werden in diesem Abschnitt die kombinierten Aktivitäten dieser Muskeln erklärt. Von da an wird auf den M. psoas major und den M. psoas minor gemeinsam einfach als auf den M. psoas oder Psoas Bezug genommen. >Wegen seiner Lokalisierung tief in der Bauchhöhle gibt es nur begrenzte in vivo-Studien (am lebenden Körper) über diesen Muskel. Die meisten allgemein anerkannten Erkenntnisse über die Funktionen des M. psoas wurden aus Studien an Leichen gewonnen, was diese Funktionen folglich darauf beschränkt, was geschieht, wenn das distale Ende des Muskels (Muskelansatz) näher an das proximale Ende des Muskels (Ursprung) gebracht wird oder umgekehrt.
Die meiste Literatur zeigt daher die folgenden, allgemein anerkannten Aufgaben des M. psoas auf:
•Hüftflexion und Rotation nach außen als Open-Chain-Bewegung, d.h. die Bewegung des Femur um das feststehende Becken.
•Wirbelsäulenflexion als Closed-Chain-Bewegung, d.h. die Bewegung des Beckens über die Hüftköpfe bei feststehenden Beinen.
Es wurde auch geäußert, dass der Psoas als Teil des »Iliopsoas-Komplexes« der einzige Muskel sei, der die Hüfte bis ans Ende des Bewegungsumfangs der Hüftflexion beugen kann (Sahrmann 2002).
Gemeinhin wurde gelehrt, dass der Psoas der Muskel ist, der primär zu einer Beckenkippung nach vorne und zu einer erhöhten Lumballordose beiträgt. Der Einfluss des Psoas auf die Stellung des Beckens und der Lendenwirbelsäule wird weiter unten untersucht.
Die Rolle des Psoas bei der Stabilisierung der Wirbelsäule
Die breiten und komplizierten Ursprünge des Psoas legen nahe, dass dieser Muskel eine sehr viel größere und dynamischere Rolle bei Bewegungen spielt als früher festgestellt wurde. Die verschiedenen Ursprünge auf jeder Wirbelhöhe von der unteren Brust- bis zur Lendenwirbelsäule und seine komplizierten Faszienverbindungen mit verschiedenen Muskeln rund um Wirbelsäule und Becken zeigen, dass der Psoas sehr viel mehr als ein Beugemuskel von Hüfte und Wirbelsäule ist. Diese komplizierte Anlage legt nahe, dass der Psoas wahrscheinlich bei der Stabilität von Wirbelsäule,