Dance Anatomie. Jacqui Greene Haas

Dance Anatomie - Jacqui Greene Haas


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die Innenohrsysteme einwandfrei, kann man Drehungen ohne Probleme üben.

      Das zweite wichtige System für Tiefensensibilität und Gleichgewicht – das motorische System – umfasst sensorische Rezeptoren, die zum Halten des Gleichgewichts bestimmte Körperteile stimulieren. Die Rezeptoren sitzen in den Gelenken, Muskeln, Bändern und Sehnen und arbeiten permanent an der räumlichen Orientierung des Körpers. Das Rückenmark überträgt die Informationen der Rezeptoren für die Tiefensensibilität an das Gehirn, damit dieses das Gleichgewicht regulieren kann. Eine schlechte Tiefensensibilität verursacht daher Gleichgewichtsprobleme und somit unkoordinierte und ungenaue Bewegungen. Dies kann zu einer falschen Körperausrichtung und letztlich zu einer Muskelschwäche führen. Folge: Die Verletzungsanfälligkeit ist erhöht.

      Das dritte System ist die visuelle Wahrnehmung, die in Koordination mit der motorischen Funktion für effiziente Bewegungen sorgt. Wo fängt man beispielsweise an, wenn man ein neues Stück einer Choreografie lernen will? Ob Sie es glauben oder nicht, aber man beginnt die Schritte schon beim bloßen Ansehen in Nerven und Muskeln zu fühlen, noch bevor man einen einzigen Schritt davon ausprobiert hat. Diese starke Verbindung kommt von der Präzision unserer visuellen Wahrnehmung. Lehrer und Choreografen müssen also ihren Schülern zeigen, was sie lernen sollen, damit bereits durch das Sehen der Lernprozess in Gang gesetzt wird. Unsere Augen sehen die Choreografie und senden unmittelbar Signale an die Sehrinde im Gehirn, wo sie verarbeitet werden. Das passiert schnell und effizient durch spezielle Nervenzellen, die Körperbewegungen, Gleichgewicht und Kopfbewegungen organisieren.

      Arbeiten all diese Systeme zusammen, gelingen perfekte Drehungen. Sehr effizient ist hier zum Beispiel Spotting, weil Augen und horizontale Kopfbewegung für optimale Kontrolle miteinander kombiniert werden. Beim Spotting, ohne das man das Gleichgewicht nicht halten könnte, muss man den Kopf schneller drehen als den Körper. Die Augen ruhen dann bis zum Beginn der nächsten Rotation auf einem Fokuspunkt. Der Moment, in dem der Kopf innehält, damit die Augen fokussieren können, erlaubt dem Körper, seine Stabilität zurückzugewinnen, bevor er in die nächste Drehung geht. Schüler müssen unbedingt lernen, den Kopf bei Pirouetten im Lot zu halten. Jede Abweichung von der Senkrechten – egal, ob nach oben, unten oder zur Seite – verwirrt die vestibulären und visuellen Systeme, die dann im Versuch, das Gleichgewicht zu halten, überkompensieren. Um dies zu vermeiden, sucht man sich einen Fokuspunkt und fixiert diesen solange wie möglich, auch wenn der Körper sich bereits dreht. Wenn die Sichtverbindung zu diesem Punkt nicht mehr gehalten werden kann, muss sich der Kopf etwas schneller drehen als der Körper. So können die Augen und das visuelle System den Punkt wiederfinden, um erneut Gleichgewicht und Stabilität herzustellen. Effizientes Spotting lässt sich lernen – der Körper gewöhnt sich daran. Es ist unverzichtbar für Mehrfachdrehungen wie Fouettés und Chaînés.

      Alle drei Gleichgewichtssysteme empfangen und senden Botschaften für den Gleichgewichtserhalt vom und an das Gehirn. Sie können Ihr Gleichgewicht verbessern, indem Sie diese Systeme trainieren. Wenn Sie zum Beispiel Balanceübungen auf einem Fuß machen und diese auf einer instabilen Fläche ausführen, regt das die Propriorezeptoren des motorischen Systems dazu an, Botschaften ans Gehirn zu senden, um den Gleichgewichtssinn zu stärken. Führen Sie die Übungen mit geschlossenen Augen aus und schalten damit das visuelle System aus, müssen das vestibuläre und motorische System härter arbeiten. Dieser Effekt lässt sich auch erreichen, indem man mit offenen Augen trainiert, aber ständig von einer Seite zur anderen schaut. Sie können auch Relevé an der Stange mit geschlossenen Augen üben. Achten Sie darauf, in welche Richtung Sie schwanken und wie lang sie das Relevé halten, bevor Sie zur Stange greifen müssen.

      Das Gleichgewicht lässt sich kurz gesagt trainieren und weiterentwickeln, um die neuromuskuläre Koordination zu verbessern. Übungen für das Training des Gleichgewichts finden Sie in Kapitel 11.

       DAS AUSFÜHREN VON BEWEGUNGEN

      Die Ausführung von Bewegungen wird über drei Nervenbahnen gesteuert:

      1.Pyramidales System (Pyramidenbahn/Kortikospinaltrakt)

      2.Kleinhirn

      3.Extrapyramidales System

      Die Pyramidenbahn überträgt motorische Signale für bewusste und präzise Muskelbewegungen. Sie beginnt im Zentrum der Großhirnrinde und verläuft durch den Hirnstamm ins Rückenmark. Über die Pyramidenbahn werden sehr detaillierte Bewegungen gesteuert. Das Kleinhirn hilft bei der Koordination der Muskeln – und das Extrapyramidale System leitet Informationen zu Gleichgewicht und Körperhaltung weiter.

      Sehen wir uns mit diesem Hintergrundwissen an, was bei der Ausführung eines einfachen Tendu passiert: Die koordinierte Bewegung beginnt in der motorischen Rinde und durchläuft rund 20 Millionen Nervenfasern im Rückenmark. Die motorische Rinde ist in einzelne Bereiche aufgeteilt, die jeweils für unterschiedliche Körperteile zuständig sind. Die primär-motorische Rinde im Frontallappen erzeugt auf jeder Seite Nervenimpulse, die jeweils Muskeln auf der Gegenseite des Körpers aktivieren. Heißt: Die rechte Hirnhälfte steuert die linke Seite des Körpers und umgekehrt. Sehen Sie sich einmal in der folgenden Auflistung an, was das Nervensystem beim Erlernen eines Tendu alles leistet:

      1.Die Augen sehen, wie der Lehrer ein Tendu zeigt; sofort werden Nerven und Muskeln aktiviert.

      2.Das visuelle System sendet Signale an die Sehrinde im Okzipitallappen des Großhirns.

      3.In der primär-motorischen Rinde im Frontallappen des Großhirns beginnt die Planung für die Aktivierung eines Tendu.

      4.Die primär-motorische Rinde sendet Signale an die Stammganglien, die über den Thalamus motorische Steuerungs- und Lerninformationen zurück an die motorische Rinde senden.

      5.Die motorische Rinde sendet mithilfe efferenter Nerven Signale durch den Kortikospinaltrakt.

      6.Die Signale werden vom Thalamus weitergegeben.

      7.Der Hippocampus wird stimuliert, um sich das Tendu einzuprägen.

      8.Das Großhirn empfängt Signale zur Stimulierung des Gleichgewichtssystems.

      9.Der Hirnstamm empfängt die Stimulierung und leitet sie an das Rückenmark weiter.

      10.Das Rückenmark sendet Signale an Hüfte, Bein, Fußgelenk und Fuß und stimuliert so die Muskeln, die zur Ausführung des Tendu benötigt werden.

      11.Die Gleichgewichtssysteme übermitteln weiter Informationen zur Tiefensensibilität.

      Kommen wir noch einmal darauf zurück, wie Tanz und Training das Gehirn beeinflussen. Beim Training setzt das Gehirn diverse chemische Stoffe frei, die das Belohnungszentrum stimulieren und Stimmung und Einstellung verändern. Beim aerobischen Tanztraining werden mehr dieser Stoffe freigesetzt als beim anaeroben Tanzen – und die Produktion dieser Stoffe wird durch das Proben längerer Passagen, die für eine höhere Herzfrequenz sorgen, noch gesteigert. Zu den wichtigsten Stoffen in diesem Prozess gehören verschiedene Botenstoffe des Nervensystems (Neurotransmitter), die Impulse über die Synapsen senden. Vier dieser Transmitter – Endorphine, Serotonin, BDNF-Wachstumsfaktoren und Dopamine – stellen wir im Folgenden kurz vor:

      Endorphine werden im Hypothalamus (einem Teil des limbischen Systems) produziert. Sie wirken stressmindernd und sind überdies in der Lage, Schmerzen zu dämpfen und ein Gefühl der Befriedigung oder ein Glücksgefühl zu erzeugen. Endorphine werden im aeroben Training freigesetzt.

      Serotonin, das im Gehirn und im Darm erzeugt wird, sorgt ebenfalls für Wohlbefinden. Serotonin ist – kurz gesagt – für unsere gute Laune zuständig. Zu niedrige Serotoninspiegel werden dagegen in Zusammenhang mit Depressionen und Erkrankungen der Herzkranzgefäße gebracht. Regelmäßiges Training aber regt den Körper zur Produktion von Serotonin an.

      BDNF („brain-derived neurotrophic factor“) ist ein weiterer Botenstoff, der durch regelmäßiges Training angeregt wird. Dieser Wachstumsfaktor beeinflusst maßgeblich den Gedächtnisausbau und unterstützt bei intensivem Training die Konzentrationsfähigkeit.


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