Im Fahr. Susann Bosshard-Kälin
Mit Menschen von ausserhalb des Klosters habe ich wegen meiner Hörbehinderung nicht mehr so viel Kontakt. Das ist so. Früher war ich nahe am Geschehen, hatte viele Nöte kennengelernt, von den Alkoholikern daheim und den Menschen in der Psychiatrie. Heute bin ich indirekt mit der Welt verbunden – über die Verbindung mit dem Herrgott.
Seit 47 Jahren lebe ich im Kloster Fahr, und in meinem Alltag hat sich wenig verändert in diesen Jahren. Auch meine Einstellung nicht. Ich mag Kontinuität, und ich liebe unseren Tagesrhythmus. Dazu haben wir heute mehr Freiheiten, zum Beispiel Ferien.
Das Jetzt ist das Schönste. Die Vergangenheit prägte mich, die kann ich nicht mehr verändern. Aber die Gegenwart, die kann ich gestalten. Die Einsamkeit im Kloster ist keine Verlassenheit. Alleinsein zu können, ist entscheidend. Wer viel Gesellschaft braucht, ist bei uns am falschen Platz. Das Alleinsein ist heilsam und bringt mich näher zu Gott und ins Leben. Jeder Mensch hat einen inneren Raum und eine innere Welt, die sehr reich sind. Wenn man sich dessen bewusst ist und am Morgen nicht schon mit den aktuellsten Nachrichten aufsteht, sondern in eine Ruhe hinein aufwacht – vielleicht in eine Gottesbeziehung –, dann gibt das Kraft. So beginne ich den Tag ganz anders. Gott gibt jedem Menschen die Freiheit. Und ich kann keinen Menschen ändern. Auch wenn ich eine Mitschwester gerne anders hätte. Das bringt nichts. Ich muss es aushalten, das ist die harte Schule!
Ich brauche viel Ruhe. Aber das Gespräch jetzt hat mich sehr entspannt. Es war bereichernd. Dass ich in diesem Buchprojekt überhaupt mitmache, hat verschiedene Gründe. Einerseits legen wir als Klostergemeinschaft Zeugnis ab über unser Leben. Und wir werden viel voneinander erfahren, das wir nicht wussten. Die Leute draussen werden sehen, wie wir leben und denken, dass wir Krisen kennen und Humor haben. Es ranken sich ja unendlich viele Vorurteile um unser Leben. Aber auch ein Klosterleben hat Pfeffer, oder nicht?
Eintritt ins Kloster Fahr: 4. November 1970
Einfache Profess: 14. August 1972
Feierliche Profess: 20. August 1975
Schwester Matthäa
«Keine eigenen Kinder zu haben, wog schwer.»
geboren am 12. Januar 1946 als Rita Maria Wismer aus Aadorf (TG)
Als Töpferin fertigte Schwester Matthäa Krippenfiguren und «Weihnachtstürme». – Die Stoffe für liturgische Textilien werden aus Seide, Wolle und Leinen auf Webstühlen im Atelier der Paramentenwerkstatt gewoben (nächstes Bild).
Im August 2017 unternimmt die ganze Gemeinschaft zum Gedenkjahr von Bruder Klaus eine Pilgerreise nach Flüeli-Ranft. Es ist einer der seltenen Ausflüge der Klosterfrauen.
Viermal im Jahr haben wir Schwestern die Möglichkeit, einen Wüstentag, wie wir sagen, einzuziehen. Letzte Woche war es bei mir so weit. Wir können ihn als persönlichen Einkehrtag gestalten. Es ruft keine Glocke zum gemeinsamen Gebet oder zu den Essenszeiten, und wir arbeiten nicht. Ich erwartete also einen verregneten Tag, an dem ich mich in die Klause zurückziehen und in Stille lesen und beten wollte. Aber die Sonne schien schon in der Früh. Und so zog es mich mit einem belegten Brot, zwei Fläschchen Holunderblütensirup und einem Buch übers Pilgern in die Natur ausserhalb der Klostermauern. Durch den Wald in Richtung Geroldswil kam ich an die Limmat und setzte mich später am Fluss auf einen Findling. Ich liess die Umgebung auf mich wirken, überlegte, wo ich stehe in meinem Leben, hatte Zeit und Musse, zu sein, zu beten und einfach in mich hineinzuhören – einen Tag lang in meinem eigenen Tempo zu leben.
Ich heisse Schwester Matthäa – das ist die weibliche Form von Matthäus. Zur Einfachen Profess, wenn wir uns für drei Jahre im Kloster verpflichten, bekommen wir als Sinnbild für ein neues Leben auch einen neuen Namen. Simone hätte mir gefallen, nicht aber der Priorin. Sie schlug Matthäa vor. Ein völlig fremder Name. Ich trug den Vorschlag mit mir herum, und nach einigen Monaten im Noviziat freundete ich mich mit ihm an. Ja, ich fand den Namen immer klösterlicher – zudem konnte man ihn nicht verunstalten. Trotzdem, etwas irritierte mich, und ich besprach es mit unserem → Spiritual: Die Redensart «Heute ist Matthäi am Letzten!» ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass die Bedeutung der Wendung gar nicht pessimistisch und hoffnungslos, sondern positiv in die Zukunft gerichtet ist. Sie stammt vom allerletzten Vers im Matthäus-Evangelium, der heisst: «Ich bin bei euch, alle Tage, bis zum Ende der Welt.» Tröstlich. Warum sollte ich also nicht Matthäa heissen?
Ich denke, unser Leben gleicht einer Wendeltreppe. Es geht aufwärts oder auch runter, aber immer weiter und weiter. Das Leben ist für mich kein Kreis, Leben fliesst hin zu Gott, schlussendlich.
Das Symbol der Wendeltreppe habe ich in einem «Weihnachtsturm» in Ton interpretiert. Fünfzig Figürchen stehen auf dem Treppenweg hinauf; sie versinnbildlichen die Heilsgeschichte von der Erschaffung des Menschen über die Verkündigung an Maria, die Geburt im Stall, die Flucht nach Ägypten bis zu Tod und Auferstehung Jesu. Es gehören auch Zwischenböden dazu. Zwischen Hoch und Tief ist das Mittendurch, der Alltag. Das Aushalten des Unspektakulären, wenn das Leben ruhig fliesst, ist auch wichtig. Der Turm stellt für mich das Wachsen, vielleicht auch mein Wachsen im Klosterleben dar. Ich bin froh, dass er nicht verkauft wurde. Denn das meiste, was ich in dreissig Jahren an Kunsthandwerklichem schuf, ist in der Welt draussen. Der Turm blieb. Das ergab sich so. Er war für die Person, die ihn bestellt hatte, schliesslich zu teuer. Mein Glück! Die Leidenschaft fürs Arbeiten mit Ton wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Erst im Kloster durfte ich meine handwerkliche Gabe erkennen und entwickeln. Ein Geschenk.
Ich bin in der Nähe von Stettfurt aufgewachsen. Der Thurgau ist mir sehr lieb. Er ist mein Ursprung. Am 12. Januar 1946 wurde ich daheim auf unserem Bauernhof im Weiler Chöll geboren, getauft auf den Namen Rita Maria. Mein älterer Bruder Guido war zwei Jahre vor mir zur Welt gekommen, der jüngere, Beda, zwei Jahre nach mir. 1951 kam Edith und 1959 als Nachzüglerin Brigitte dazu. Unsere Grosseltern väterlicherseits lebten mit uns auf dem Hof, der schon seit Generationen den Wismers gehörte.
Ich war ein ruhiges Kind, das lieber mit Puppen spielte, strickte und Puppenkleider nähte, am Holzherd Suppe oder Omelette kochte, als im Stall zu helfen. Es war Nachkriegszeit, und wir mussten zu allem Sorge tragen. Wir waren eine religiöse Familie, aber nicht frömmlerisch. Fleisch gab es bei Tisch meist nur für die Erwachsenen. Für uns Kinder legte Mutter jeweils ein Brotmutschli als Ersatz in die Fleischsauce – eine herrlich mundende, unvergessliche Kindheitserinnerung! Den ersten Mantel schneiderte Mutter für mich aus ihrem eigenen, alten – mein Stolz war fast grenzenlos. Welches gleichaltrige Mädchen in der Gegend hatte schon einen Mantel!
Da wir abgelegen wohnten und zu Fuss eine halbe Stunde unterwegs waren bis hinunter ins Dorf Stettfurt, galten wir in der Schule manchmal als Aussenseiter. Wir konnten nicht wie unsere Kameraden nach der Schule auf dem Pausenhof spielen, sondern hatten einen weiten Heimweg. Die Schule hätte es von mir aus gar nicht gebraucht. Zu Hause bei Mutter und im Haushalt hätte ich mich gut verweilen können! Sieben Primarschuljahre absolvierte ich in Stettfurt dann doch und wurde für die achte Klasse zu den Dorothea-Schwestern nach Flüeli-Ranft geschickt, gefolgt von einem Haushaltsschuljahr in Freiburg bei der gleichen Schwesterngemeinschaft. Dort entstand mein Berufswunsch: etwas tun für und mit Kindern.
Als 17-Jährige, nach einem Praktikum in einer Kinderkrippe in Genf und einem Haushaltslehrjahr bei einer Familie in Frauenfeld, begann ich mit der einjährigen Ausbildung als Wochenpflegerin in der katholischen Pflegerinnenschule Alpenblick in Hergiswil. Die Ausbildung war anspruchsvoll, aber ich fühlte mich in meinem Element, liebte vor allem die kleinen Kinder. In der Institution, die ein Durchgangsheim für alleinstehende Mütter mit ihren Kleinen war, lebten sechzig bis siebzig Kinder, vom Neugeborenen bis zum