Im Fahr. Susann Bosshard-Kälin

Im Fahr - Susann Bosshard-Kälin


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der Primarschule war ich eher eine Mitläuferin, aber ich lernte gern. Mein Knoten löste sich dann in der Sekundarschule. Dort wurde ich zur Klassenchefin gewählt, völlig überraschend. Ich hätte mir das nie zugetraut. Jetzt merkte ich: Die hören auf mich. Das gab mir ungeahntes Selbstvertrauen. Ich spürte plötzlich, ich kann etwas, ich bin wer.

      Wie es nach der Schule mit mir weitergehen sollte? Ich hatte keine Ahnung. Mich drängte niemand zu irgendwas. Meine Eltern hatten genug zu tun und konnten sich nicht auch noch um mich kümmern. Meine Freundin Cornelia schrieb mir aus dem Internat in Nordfrankreich, wo sie ein Jahr verbrachte, wie toll es dort sei. Und so meldete ich mich spontan an und fuhr mit einer Gruppe Schweizerinnen im Herbst 1961 für ein Jahr nach Frankreich. Heimweh hatte ich nie. Ich spürte, ich bin gemeinschaftsfähig, obwohl ich ja wie ein Einzelkind aufgewachsen war. In der Gruppe fühlte ich mich geborgen, konnte meine Meinung vertreten und lernte un peu de français. Mein Humor, ein eher trockener Humor, den ich von Vater geerbt habe, half mir sehr.

      Ich wäre gerne Clownin geworden oder Dirigentin. In beiden Berufen hat man mit Menschen zu tun. Sie zu erheitern, über die Musik zusammenzuführen, ihnen Freude zu bereiten, das hätte mir gefallen. Aber beide Ausbildungswege waren im Umfeld, in dem ich gross wurde, unvorstellbar.

      Ein Onkel vermittelte mich zu einer Familie mit fünf Kindern nach Uitikon-Waldegg. Dann arbeitete ich für kurze Zeit in einem Büro in St. Gallen, wo ich auf einer elektrischen Schreibmaschine Briefe tippte, und schliesslich entschied ich mich, Krankenschwester zu werden.

      Als 18-Jährige nahm mich die Psychiatrische Klinik Wil auf. Die drei Jahre als Lernende auf verschiedenen Abteilungen gefielen mir sehr gut. Die Welt in der Klinik war keine fremde für mich – zu Hause im Bürgerheim hatte ich bereits Bekanntschaft mit Menschen aller Art und mit verschiedenen psychischen Krankheiten gemacht. Nur die Drogensüchtigen, so fand ich, waren hier nicht richtig aufgehoben. Aber wo hätte man sie damals sonst unterbringen sollen? Geeignete Institutionen befanden sich in den Sechzigerjahren erst im Aufbau.

      In diesen Jahren hatte ich einen Freund, einen sehr lieben. Er wohnte in meiner Nachbarschaft, und wir unternahmen viel gemeinsam. Aber ich spürte, er ists nicht fürs Leben. Das liess ich ihn wissen, was ihn sehr betrübte. Er meinte, ich hätte wohl einen anderen. Ich mochte ihn sehr, hatte aber immer das Gefühl, dass da noch etwas anderes für mich kommt. Keine einfache Situation. Er heiratete später eine liebe Frau, und die beiden kamen mich im Kloster sogar besuchen.

      Zwar hatte ich nun mein Diplom als Psychiatrieschwester, aber was ich mit meinem Leben anstellen sollte, war mir nicht klar. Ich fühlte mich wie in einer Sackgasse. In meiner Not fing ich an zu beten: «Herrgott, ich hätte gerne ein Zeichen, wie es weitergehen soll – heiraten, oder was sonst soll ich tun?»

      Es klingt fast kitschig. Aber ich bekam dieses Zeichen wirklich. Während einer langen Nachtwache hatte ich im Stationszimmer Zeit, in Zeitschriften zu blättern. Ein Artikel von Schwester Hedwig, der Ordensfrau und Dichterin Silja Walter, fiel mir ins Auge: «Und unten blühen die Königskerzen – ein monastischer Tag im Kloster Fahr». Ich las begeistert, schloss das Heft und wusste: Das Kloster Fahr ist es. Es war eine Gebetserhörung. Wenn Leute zu mir kommen und sagen, sie beten und es passiere nie etwas, dann kann ich sagen, dass es meistens so sei. Aber es gebe sie auch, die Gebetserhörung.

      Ein Leben in einem Kloster konnte ich mir vorstellen, war doch eine meiner älteren Schwestern in jungen Jahren in ein offenes Kloster in Freiburg eingetreten und glücklich mit ihrem Leben. Ich meldete mich also im Kloster Fahr an und spürte, dass die Priorin, Schwester Elisabeth, etwas zurückhaltend war. Sie wusste ja nicht, wer da ins Kloster wollte. Die meisten jungen Frauen, die sich bewarben, waren ihr bekannt, sie kamen über die Bäuerinnenschule ins Kloster. Wenn sie bloss nicht verlangt, dass ich noch diese Schule absolviere!, durchzuckte es mich. Erst als ich meine Schwester erwähnte, die in einem Kloster lebte, wurde es einfacher, und ich konnte mich für die → Kandidatur anmelden.

      Meine Arbeitsstelle im Spital kündigte ich mit der Begründung, ich würde ins Ausland gehen. In der Öffentlichkeit von einem Klostereintritt zu reden, traute ich mich nicht. Die Enttäuschung des Oberarztes war gross – hatte er mir doch die Verantwortung für eine Abteilung übergeben wollen.

      Für die Zeit vor meinem definitiven Eintritt ins Kloster hatte ich mit einer Kollegin einen Arbeitseinsatz in einem Kibbuz in Israel geplant. Die drei Monate bis Weihnachten 1969 waren ein grosses Erlebnis, und aus Begeisterung blieben wir zusätzliche drei Monate für einen Einsatz in einem Kinderspital in Nazareth.

      Am 4. November 1970 trat ich ins Kloster Fahr ein. Der Eintritt wäre schon für eine Woche früher angedacht gewesen, aber ich war an die Hochzeit meiner Freundin Lis eingeladen. Sie und Hanspeter wollten eigentlich im darauffolgenden Frühling heiraten, zogen die Feier aber meinetwegen vor. Nach dem Klostereintritt hätte ich nicht mehr rausgedurft. Es war ein traumhaftes Fest, und wir sind heute noch miteinander befreundet.

      Ein Ja ist ein Ja. Und das hat Folgen. Das war mir mit dem Entscheid für das Kloster bewusst. Die erste Zeit war eine harte Schule. Ich war eine selbstständige, selbstsichere Frau, und das Noviziat war eng und streng. Ich hatte mich in die Gemeinschaft einzufügen, durfte während der Ausbildung nicht mit den Konventschwestern sprechen. Doch ich sah es trotzdem nie als mühsamen Weg an. Die schwere Zeit würde vorübergehen, danach wäre ich freier.

      Zur Feldgruppe eingeteilt, arbeitete ich vor allem draussen, hatte jedoch jeden Tag Zeit zum Klavierspielen. Später kam noch das Orgelspiel dazu. Und bald begleitete ich jede → Laudes und Vesper und wurde umgehend kritisiert, wenn ich einen Fehler machte. Das war ein enormer Druck und führte dazu, dass ich den Erwartungen nicht mehr standhielt. Mit der Zeit verlor ich die Freude an der Musik. Solche Dinge erlebt man in Gemeinschaften. In den Siebzigerjahren hatte man im Fahr nicht die Zeit, auf die Psyche jeder einzelnen Schwester einzugehen.

      Die Bäuerinnenschule war damals ein Politikum im Kloster. Die einen, um Schwester Elisabeth, befürworteten sie. Andere hingegen, wie Schwester Raphaela oder Schwester Hedwig, wollten ein kontemplatives Kloster, geprägt von Innerlichkeit und Gebet. Die Aufgaben der Schule würden zu viele Kräfte des Klosters absorbieren, sagten sie. Dieser Konflikt flammte immer wieder auf, und wer nicht an der Schule war, konnte ihre positiven Impulse nicht verstehen. Dabei war ja der grösste Teil der Schwestern über die Schule ins Kloster gekommen! Ich selbst wurde für das Fach «Häusliche Krankenpflege» an die Schule delegiert – mir gefiel das Unterrichten sehr, aber ich spürte den Konflikt unter den Schwestern immer. Das änderte sich erst, als Schwester Raphaela im Jahr 1978 Priorin wurde und von Amtes wegen für die Schule einstehen musste.

      In einem Seminar mit Heilungsgebeten, Mitte der Achtzigerjahre, durfte ich erfahren, dass eine innere Heilung mit mir geschah. Explizit war sie nicht, aber sie ist mir geschehen, sie wurde mir geschenkt. Ich hatte von diesem Tag an keine Panik mehr an der Orgel. Wie so etwas geschehen kann? Ein Geschenk des Herrgotts!

      Meinen Platz in der Klostergemeinschaft vergleiche ich mit der Wurzel eines Baums, der wunderschöne Blätter und Früchte trägt. Man sieht den äusseren Reichtum, aber die Wurzeln nicht. Die sind trotzdem wichtig. Es ist mir recht und lieb, wenn ich im Hintergrund bin. Weitreichende Entscheidungen treffe ich nicht, ich führe aus, was mir aufgetragen wird. Ich hätte als Krankenschwester Karriere machen können, vielleicht wäre auch ein Mann in mein Leben getreten. Aber das war nicht meine Berufung. Wieso funkt es in der Liebe zu einem Partner? Man kann es mir nicht erklären. Und so kann ich es in meinem Fall auch nicht. Die Berufung ist ein Ruf und bleibt letztlich ein Geheimnis. Ich höre keine Stimme, aber es ist ein Eindruck, mehr Intuition als direkte Ansprache.

      Im Kloster leben heisst für mich, immer wieder Wege zurück in die Stille zu finden. Laufend aus ihr herausgerissen zu werden, ist mühsam. Deshalb schweigen wir den grössten Teil des Tages, damit wir in dieser Ruhe bleiben. Ob wir in der Kirche sind, beim Beten, beim Arbeiten oder beim Essen – alles geschieht schweigend. So lassen wir uns nicht hinaustreiben aus der Verbindung zu Gott. Wenn man hinter diese Klostermauern kommt, ist das ein Kampf, es braucht Training; es ist ein Hineinwachsen. Das kommt nicht von einem Tag auf den andern.

      Verzicht gehört zu dieser Form von Leben, und er ist für mich nicht negativ: Lege ich eine Frucht, die ich


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