Zwingli. Franz Rueb
Spielerei, die ihm gefiel. Der Name Zwingli leitete sich ab von Twing, was umfriedetes Bauerngut bedeutete. Luther nannte Zwingli fast immer Zwingel, da er die Heilige Schrift in seinem Sinne zwinge.
WILDHAUS
Seitwärts vom Berg Säntis, hoch oben, fast auf der Passhöhe, wo in uralten Zeiten mal ein «wildes Haus» gestanden haben soll, eine gewaltige quadratische Ritterburg über den einfachen Siedlungen, dort befindet sich der Ort Wildhaus. Hier hausten die Vögte, danach nicht bestimmte Edle und Grafen und zeitweilig Gesandte des Klosters von Einsiedeln und des Stifts von St. Gallen. Alles andere als Wilde also. Es gibt gar Theorien, die Burg sei im Hochmittelalter ein produktives Zentrum für die Pflege von Dichtung gewesen.
Am Neujahrstag 1484 kam in diesem Wildhaus Ueli auf die Welt. Und am 6. Januar, dem Dreikönigs- oder Epiphanias-Tag, am Tag der Erscheinung des Herrn, wurde er getauft, sechs Tage nach der Geburt deshalb, weil die Taufe in der Kirche in Gams unten im Rheintal durchgeführt wurde. Im Winter war der Weg dorthin ziemlich beschwerlich. Dieser Gang musste vorbereitet werden.
Wildhaus, auf 1100 Meter über Meer gelegen, war noch kaum ein Dorf, die Talschaft mit verstreuten Einzelhöfen besiedelt. Im 14. Jahrhundert wurde durch Rodungen Weideland gewonnen und im 15. Jahrhundert bauten die Väter die Strasse vom Rheintal über den Pass hinüber ins Toggenburg. Das war die entscheidende grosse Leistung, damit überwand das Tal seine Abgeschlossenheit und band sich auf den zwei Seiten ans Geschäftsleben an.
Jetzt fuhren und wanderten die Alpbauern auf die Märkte ins Rheintal und an die untere Thur und boten ihre Produkte an und brachten Obst und Früchte mit nach Hause. Das Tal florierte, natürlich in einem bescheidenen Masse. So blieben auch die Bewohner bescheiden. Unserem Zwingli war die genügsame Lebensweise in Fleisch und Blut übergegangen. Man hatte es hartnäckig sogar mit Ackerbau versucht, aber ausser Gerste wuchs hier kein Getreide. Es scheint aber jedenfalls gesichert, dass die Zwinglis nie Mangel hatten, alles Nötige war da, mochten die Lebensverhältnisse auch schlicht sein, die Kästen und Truhen waren meistens voll.
Uelis Weg innnerhalb dieser Bergbauernfamilie ist ein Unikum. Die drei Jüngsten gingen den Bildungsweg. Die fünf Älteren blieben Bauern. Ueli wurde schon als sechsjähriger Knabe an einen Onkel in die Schule nach Weesen am Walensee zur offensichtlich frühen systematischen Ausbildung gegeben. Bedenken wir, dass wir uns mitten in der Realität des alten Glaubens befinden, dass das kirchliche Oberhaupt der Toggenburger Landschaft der Bischof von Konstanz war, dass der kleine Ueli wahrscheinlich noch Messdiener war, mindestens in Weesen, vielleicht dort sogar in der Messe unter der Leitung seines Onkels Bartholomäus, der ihm zeigte, wer der Herr im Hause ist.
Man hatte etwas vor mit Ueli, er wird besonders aufgeweckt gewesen sein. Der Onkel Bartholomäus Zwingli war in Weesen Pfarrer und Dekan. Wie er da gelebt hat, wissen wir nicht. Mit zehn Jahren war der Junge jedenfalls so sattelfest im Lesen und Schreiben, dass er über die Weesener Schule hinausgewachsen war, sodass Onkel Barthli ihn an den aus Weesen stammenden Lehrer Gregorius Bünzli in Basel gab. Man profitierte auch zu der Zeit von Beziehungen und schöpfte sie aus.
Ulrich war also in der Familie der Auserkorene. Zwar gingen auch die zwei jüngeren Brüder den Weg des akademischen Studiums, denn man muss bedenken, dass nicht für alle jungen Männer Platz war im Bauernstand. Doch man entschied sich in Ulrichs Fall sehr früh und begann ihn bereits sechsjährig auf diesen Weg der Bildung zu schicken. Das sieht nach Planung für den Jungen aus, auch nach Familienehrgeiz. Und offenbar hatte der Toggenburger Bauernsohn Begabung und Spass am Lernen und wurde den familiären Ausrichtungen und Plänen ganz natürlich gerecht. Wie ein musikalisch Begabter im Biotop der Musikersippe früh die Grundlagen des musikalischen Handwerks erlernt und seine Begabung ganz natürlich im Familienverband gefördert wird, so lernte der kleine Ulrich als Kind den selbstverständlichen Umgang mit dem geistigen Rüstzeug von seinem Onkel, wenn auch nicht direkt in der Familie selbst, aber es führte dazu, dass er kaum über 20-jährig bereits ein frühreifer intellektueller Kopf war.
ZÜRICHS GERINGE WIRTSCHAFTSKRAFT
Die Jahrzehnte vor der Reformation im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert waren gekennzeichnet durch ein überwiegendes politisch-kriegerisches Interesse dieser urtümlich heldenhaften Eidgenossen. Die wirtschaftliche Kraft der einzelnen Orte des Bundes ging wegen der steten Kriege fast überall zurück. Die Dominanz der Kriegsmentalität, der Kriegsschrecken und die Kriegsopfer von mehreren Generationen vor der Reformation können nicht genug betont werden. In der publizistisch-populären Zwingli-Literatur liest sich die Schlacht bei Kappel im Jahre 1531 vielerorts so, als habe hier Zwingli in einer Zeit grosser und langanhaltender Ruhe im friedlichsten Land einen Krieg angezettelt, dem er dann selbst zum Opfer gefallen sei.
Während die St. Galler Leinwandindustrie ihre Stellung zu behaupten vermochte und in viele europäische Länder exportierte, hatte in der Limmatstadt Zürich das Gewerbe um 1500 nur noch lokale Bedeutung, das heisst, man exportierte kaum noch Güter. Die einst blühende Seidenindustrie war nun fast ganz verschwunden. Es blieb die gute Verkehrslage der Stadt zwischen den Alpenpässen zum Süden und den Städten im Reich. Die wirtschaftliche Situation war, trotz Vieh-, Getreide- und Salzhandel, so schlecht, dass fast alle gesellschaftlichen Gruppen Stagnation und sogar Rückgang wahrnahmen. Und das machte sie hellhörig und empfindlich.
Die Bauern klagten über die Abgaben und die Handelsbeschränkungen für ihre Produkte. Die Handwerker jammerten über steigende Lebenshaltungskosten, steigende Löhne der angestellten Gesellen und über höhere Materialpreise. Die reichen Pfründner bemerkten einen Vermögensrückgang und die Kaufleute wetterten über die Gebühren, Zölle und Steuern. Alle produktiv Tätigen waren unzufrieden. Nur die Soldherren, die «Pensionenritter», die dem Papst, dem Kaiser und den diversen Königen und Fürsten Schweizer Soldaten und Waffen verkauften, diese Pensionäre strichen fortwährend dicke Gewinne ein, liessen sich schmieren und bestechen, Hauptsache, der Gulden rollte.
Die Gesellenorganisationen in allen Berufen strebten danach, ihre Freizeit im Kreise ihrer Alters- und Berufsgenossen in eigenen Trinkstuben und Gesellenherbergen zu verbringen, sich von der Kontrolle ihrer Meister zu lösen und selbstständige Sicherungen für Krankheit, Tod und Begräbnis zu schaffen. Sie machten lediglich 10 bis 12 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Gesellen wurden aber immer stärker von Meister, Zunft und Stadt unter Kontrolle gestellt.
Die jungen Männer in der freien Schweiz waren so frei, das Interesse für eintönige Handels- und Gewerbetätigkeit oder die Feldarbeit zu verlieren und von sich zu weisen, sie fanden keinen Gefallen mehr an den bescheidenen, engen Verhältnissen in den Bergtälern der Innerschweiz, am langweiligen Handwerk oder an der Scholle hinter dem Wald. Unter diesen Bedingungen spross ein zynisches Verhältnis zum Vaterland, zur gebremsten und fehlgeleiteten Entwicklung des eigenen Landes, besonders bei denen, die gross mit dem Vaterland prahlten. Diese Entwicklung spürte der Student Zwingli und später noch verschärft der junge Priester auf dem Land schmerzlich. Man kam und ging, wie es gerade passte, man warf mit dem Geld um sich, das man mit dem Kriegshandwerk in fremden Diensten verdient hatte, man haute die geplünderte Beute auf den Kopf, egal, ob man ein körperlicher oder seelischer Krüppel war. So wurde der Reislauf (der Eintritt in fremden Dienst als Söldner) zum Hauptübel der Gesellschaft, und er beschleunigte die wirtschaftliche, soziale, politische wie moralischsittliche Verluderung. Dies ist nicht nur die Deutung Zwinglis und seiner Mitstreiter. Mehrmals, bereits einige Jahre vor Zwingli, wurden die sogenannten Blutsverkäufer bekämpft, die Reisläuferei wurde verboten und strengere Sittenmandate erlassen; die Verbote wurden nach kurzer Zeit wieder fallen gelassen. Das war überhaupt ein wichtiges Kennzeichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Vor-Zwingli-Zeit: Sittenmandate wurden immer und immer wieder erlassen, aber sie wurden kaum befolgt. Die Obrigkeit konnte sich nicht durchsetzen, was sich übel auswirkte auf das Gemeinwesen und somit auf die Gesellschaft der damaligen Zeit. Die sittliche Lage war katastrophal.
Ganze Stadt- und Staatshaushalte, vor allem in den inneren Orten, waren von den fremden Pensionen abhängig. Der französische König zahlte weitgehend die «Betriebskosten» dieser Gemeinwesen. Rom zahlte den Priestern bescheidene Unterstützungsgelder, um sie an das Papsttum zu