Die Idee des lebendigen Gottes. Ralph Poirel
Chronist der Familie Dieringer, Pfarrer Andreas Dieringer, beschreibt die Erziehung des jungen Franz Xavers als christlich geprägt und seine priesterliche Berufung fördernd.6 Dies deckt sich mit den meisten Beschreibungen der religiösen Situation in der Region um Rangendingen zu dieser Zeit. Das bäuerliche Umfeld des fast geschlossen katholischen Fürstentums Hohenzollern-Hechingen war von der „Aufklärung unberührt geblieben“7 und lebte noch in einer Welt der barocken Volksfrömmigkeit mit einem lebendigen religiösen Brauchtum8. Die Kindheit Dieringers wird daher sowohl ein ausgeprägtes Wallfahrtswesen und vielfältige Segnungsriten als auch fast abergläubische Praktiken und Auffassungen gekannt haben, in denen Teufel, Hexen und Dämonen ihren Platz hatten.9
1.2.1.1 Die Schulzeit in Konstanz
Erst der spätere Schulbesuch in Konstanz brachte Dieringer in Kontakt mit einem anderen, aufgeklärten Denken, nämlich dem eines Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg. Die ersten Jahre der Gymnasialbildung verbrachte er jedoch noch im heimatlichen Hedingen-Sigmaringen10 auf dem erst 1819 vom Fürsten Anton Alois von Hohenzollern-Sigmaringen gegründeten Gymnasium. In dieser Gründungszeit des Gymnasiums (bis 1839) verlief der Unterricht nur bis zur vierten Gymnasialklasse, so dass ein Wechsel zum weiterführenden Gymnasium nach Konstanz für Dieringer unumgänglich war, um das Abitur zu erreichen.11 Mit dem Wechsel nach Konstanz, wo er im Jahr 1831 sein Abitur mit der Note „sehr gut“ absolvierte12, kam er mit siebzehn Jahren zum ersten Mal aus der dörflichen Umgebung Hohenzollerns heraus in ein städtisches Milieu. Der bereits erwähnte Kontakt mit dem sogenannten Wessenbergianismus wird in ihm Widerstände ausgelöst haben, wie sie allgemein in Hohenzollern im Gegensatz von Stadt und Land zu Tage traten.13 Seine dörfliche, barocke Prägung wird ihn mit Verwunderung und sicherlich auch mit Verwirrung auf den Geist der Aufklärung und des Josephinismus, den er in Konstanz vorfand, reagieren lassen haben. Dennoch wäre es verkürzt, Dieringers spätere theologische bzw. kirchpolitische Opposition gegen I. H. Wessenberg, J. B. Hirscher oder A. Günther14 allein in dieser Jugenderfahrung begründen zu wollen. Vielmehr scheint sich hier bereits anzubahnen, was später für Dieringers theologisches Denken kennzeichnend sein wird, nämlich seine Fähigkeit zur Synthese verschiedener Ansätze und Richtungen. So werden sich in seinen Schriften und in seiner gesellschaftspolitischen Arbeit durchaus volkspädagogische Ansätze wessenbergischer Prägung finden, aber auch deutliche Abgrenzungen von dessen Überzeugungen, die zu Dieringers Schulzeit das beherrschende Kirchenverständnis darstellten.15 Wenn man hier etwas aus jugendlicher Opposition heraus erklären will, so muss man mindestens zugestehen, dass es sich um eine reflektierte und wohl begründete Opposition handelte, die Dieringer vorantrieb.
1.2.2 Studium in Tübingen und Repetent in Freiburg
Nach dem Abitur und den zweijährigen philosophischen Studien am Lyceum in Konstanz beginnt Dieringer 1831 das Studium der Theologie zunächst in Freiburg im Breisgau, wechselt allerdings bereits im Folgejahr nach Tübingen, wo er bis 1834 die Gründungsprofessoren der sogenannten Katholischen Tübinger Schule, nämlich Johann Sebastian von Drey, Johann Baptist Hirscher und Johann Adam Möhler, hört.16
1.2.2.1 Der Kontakt zur Katholischen Tübinger Schule
Mit dem örtlichen Wechsel von Freiburg nach Tübingen erfuhr Dieringer auch einen Wechsel im theologischen Denken. Wurde Freiburg in den frühen 30er Jahren des 19. Jahrhunderts noch von der Aufklärung und den rationalistischen Theologen Johann Heinrich Schreiber und Karl Alexander von Reichlin-Meldegg geprägt, waren es in Tübingen die genannten Professoren, die für eine andere Richtung standen. Sie standen weder für einen romantischen Mystizismus, noch für einen aufklärerischen Rationalismus, noch versuchten sie, eine zeitlose Lehre oder System zu errichten. Vielmehr entwickelten sie eine an der positiven, geschichtlichen Offenbarung und kirchliche Tradition gebunden Theologie.17 Diese Kennzeichnung der Katholischen Tübinger Schule als Vermittler einer sogenannten positiven Theologie ist tatsächlich für Dieringers theologische Arbeit von größter Bedeutung gewesen. Er selbst bezeichnet sich später als Vertreter einer positiven Theologie.18 Von dieser Theologie geprägt und getragen tritt Dieringer 1834 in das Priesterseminar zu Freiburg ein, wo er am 19. September 1835 die Priesterweihe empfing.19 Während der knapp einjährigen Seminarszeit muss Dieringer der Seminarleitung sowohl durch seine intellektuellen Begabungen als auch durch seine pädagogischen und menschlichen Fähigkeiten aufgefallen sein, da man ihm gleich nach der Weihe eine Stelle als Repetent im Priesterseminar anbot.20
1.2.2.2 Repetent in Freiburg und der Kontakt zu F. A. Staudenmaier
Als Repetent war er zugleich Bibliothekar des Seminars und dessen Dozent für Homiletik, wahrscheinlich repetierte er zudem Katechetik und systematische Theologie.21 In dieser Zeit (1836/37) war auch der spätere Theologe Thomas Geiselhart ein Student unter Dieringer, der ihn in seiner Autobiographie als „gut katholisch“ im Gegensatz zu vielen anderen Ausbildern bezeichnete.22 Tatsächlich tat sich Dieringer in seiner ersten theologischen Veröffentlichung als Vertreter einer strengkirchlichen Richtung kund. 1836 erschien in der Tübinger Theologischen Quartalsschrift ein Artikel von ihm „Über die Bedeutung der kirchlichen Exorzismen und Benediktionen“, in dem er sich deutlich für den Erhalt dieser traditionellen liturgischen Handlungen ausspricht, da sie lebendiger Ausdruck des Auftrags der Kirche sind, der ganzen Welt das Heil und den Segen Christi zuzusprechen und gerade darin den Fluch der Erbsünde, der auf der ganzen Schöpfung lastet, zu brechen.23 Mit dieser Veröffentlichung greift Dieringer mutig und selbstbewusst ein in den im Erzbistum Freiburg entbrannten sogenannten „Ritual-Kampf“.24 Hintergrund der Debatte war ein 1835 durch das Freiburger Ordinariat, näherhin von Domkapitular Demeter, herausgegebene Rituale, das wieder deutliche Nähe zum Rituale Romanum zeigte und damit das 1831 von Wessenberg erstellte Rituale ablösen wollte. In dieser Debatte bezog Dieringer eindeutig Position für das Rituale Demeters und damit eine strengkirchliche Stellung, die ihm für seinen Werdegang in Baden insofern zum Verhängnis wurde, als dass ihm die badische Regierung im Jahr 1839 mit dem Hinweis auf seine „in Vorträgen und Druckschriften“ vertretenen „krassesten scholastisch-theologischen Ideen“ und „exorbitanter ultramontaner Tendenzen“ die von ihm beantragte Einbürgerung verweigert, womit ihm ein weiterer Verbleib in Freiburg erschwert wird.25
Mit dem Ruf von F. A. Staudenmaier, einem Schüler Dreys, 1837 an die Freiburger Universität kommt Dieringer mit dessen theologischem Gedankengut in Kontakt. In der Folge veröffentlich er im Mainzer Katholik im Jahr 1838 einen Aufsatz „Über die Offenbarung als Vermittlung des höheren Lebens durch die Gottheit“26, in dem sein eigenes Theologieverständnis und sein Offenbarungsverständnis auf der Grundlage der Staudenmaierschen Schrift „Geist der göttlichen Offenbarung“ entwirft. Diese Schrift ist gleichsam die Grundlage des theologischen Konzepts Dieringers und ist ganz im Geiste der positiven Theologie gehalten.27 Die weiteren Werke und Arbeiten Dieringers werden diesen Ansatz einer Theologie, die sich ganz der positiven, geoffenbarten Wahrheit, wie sie in den Quellen von Schrift und (lehramtlicher) Tradition vorgefunden wird, verpflichtet fühlt, nicht mehr verlassen. Von genau diesem Geiste ist auch sein erstes größeres Werk geprägt, dessen ersten Band er noch in Freiburg als Repetitor schreibt und im Jahr 1840 vollendet. „Das System der göttlichen Thaten des Christenthums, oder: Selbstbegründung des Christenthums, vollzogen durch seine göttlichen Thaten.“28 ist eine vehemente Verteidigung der Historizität der biblischen Wunderberichte als Ausdruck geschichtlicher Wirksamkeit Gottes in dieser Welt zur Stiftung der wahren Religion im Christentum. Der erste in Freiburg geschriebene Band wird von Dieringer auch „Polemik der göttlichen Thaten“ genannt, spricht sich deutlich gegen jede Form der Wunderkritik aus und beschreibt die Durchsetzung des Christentums gegenüber Juden- und Heidentum.29 Dieringer selbst schreibt im Vorwort des Werkes, dass das Buch seine Anregung in seiner Tätigkeit als „Lehrer der Kanzelberedsamkeit“ gefunden hat, als er den Seminaristen anhand der jeweiligen Schrift-Perikopen