Die Essenz der Landschaftsfotografie. William Neill

Die Essenz der Landschaftsfotografie - William Neill


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am Anfang dieses Essays. Der Mond zeigte sich nur für diese eine Belichtung. Bei einem weiten Landschaftsüberblick wie in diesem Bild muss man dennoch die Grundregeln für sorgfältige Gestaltung beachten. Man verdrängt das bei derart begeisternden Bedingungen schnell. Zwar mag das Licht als stärkstes Element den Blick des Betrachters anziehen, aber das gestalterische Fundament muss trotzdem das Bild tragen, damit es den Betrachter länger als nur für diesen ersten Augenblick zu fesseln vermag.

      In diesem Foto sind zum Beispiel die Bäume im Vordergrund wichtig als grafische Komponente, aber auch vom Tonwert her. Die dunklen Umrisse heben sich klar von den helleren Tönen des Sees ab, und auch die Tatsache, dass sie schwarz sind, trägt zur Bildgestaltung bei. Verglichen mit dem Rest des Bildes sind sie klein, konkurrieren also nicht mit den Wolken. Zur Bildgestaltung gehört unter anderem, die relative Bedeutung der einzelnen Bildbestandteile festzulegen, und in diesem Fall muss man auch die ganz unterschiedlichen Lichtverhältnisse auf diesen Objekten berücksichtigen.

      Aufgrund der dramatischen Lichtsituation nehmen die Wolken die Hälfte der Bildfläche ein. Die Horizontlinie in der Aufnahme, der See, liegt weit unten im Bildausschnitt, um das Leuchten im Himmel zu betonen.

      Als ich das magische Licht fotografierte, wie es die Landschaft des Nationalparks vor meinen Augen veränderte, dachte ich nicht an die Malstunde zu Sonnenaufgang vor vielen Jahren, auch nicht an Joel Meyerowitz’ Unterricht. Aber ich weiß, dass ich all diese frühen Offenbarungen in mir trage. Ab und an vergisst jeder von uns Dinge, die er oder sie gelernt hat. Wie Bill Murray im Film Groundhog Day [5] so schön zeigt, müssen wir manche Lektionen immer und immer wieder lernen, bevor wir Erfolg haben. Wenn wir Schüler des Lichts bleiben, liegt unser größter Erfolg vielleicht darin, dass wir nie aufhören werden, die Lektionen des Lichts zu lernen.

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      Field of Lupine (Lupinenwiese) | Ahwahnee, Kalifornien | 2005

      VOM INTERPRETIEREN UND VEREDELN

      DER DRUCK AUF DEN AUSLÖSER IST NUR DER ANFANG

       Es ist mir nicht möglich, die tiefere Bedeutung von Bildern in Worte zu fassen. Einige meiner Freunde sind dazu in der Lage, auf sehr mystischen Ebenen. Ich sage lieber: Wenn ich etwas sehr tief empfinde, dann mache ich ein Foto, und dieses Foto entspricht dem, was ich gesehen und empfunden habe …

      ANSEL ADAMS

      Im Zeitalter der Digitalfotografie spielt die Bearbeitung des Bildes nach der eigentlichen Belichtung eine wesentliche Rolle. Zu analogen Zeiten war es eine Herausforderung, genügend Details in den hellsten und dunkelsten Bildteilen aufzuzeichnen. Heutzutage gibt uns Bildbearbeitungssoftware eine große Bandbreite an Werkzeugen an die Hand, mit denen wir unsere Arbeit interpretieren und in ein Kunstwerk verwandeln können. Die Bilder, die aus digitalen Spiegelreflexkameras kommen, enthalten normalerweise sehr viel mehr Informationen in den hellen und dunklen Tonwerten, wirken aber oft zu flach. Ganz gleich, ob Sie Film verwenden oder Digitaltechnik: Die unbearbeiteten Ergebnisse sind weder »Realität« noch repräsentativ für den extremen Tonwertumfang, den das menschliche Auge wahrzunehmen vermag. Hinzu kommt, dass die unveränderte Aufnahme wahrscheinlich wenig emotionalen Bezug aufweist zu dem, was – wie Ansel es formuliert hat – der Fotograf im jeweiligen Moment gesehen und gefühlt hat.

      Die Digitalfotografie bringt den Vorteil mit sich, dass unsere Bilder mutmaßlich eine größere Detailfülle aufweisen, was unsere kreativen Möglichkeiten erweitert. Der Nachteil besteht darin, dass man bei digitalen Aufnahmen oft ein bisschen nachhelfen muss, um sie zum Leben zu erwecken – damit sie das repräsentieren, was wir gesehen und erlebt haben.

      Die Software, die Sie verwenden, sollte Ihnen Kontrolle über Ihre Bilder geben. Adobe Lightroom ist eine erstklassige Bildverwaltung und enthält darüber hinaus jede Menge mächtige, benutzerfreundliche Werkzeuge für die Bildbearbeitung. Vielen Fotografen reicht dieses Programm für sämtliche Zwecke vollkommen aus. Ich selbst nutze eine Kombination aus Lightroom und Photoshop, abhängig davon, was für jedes einzelne Bild notwendig ist.

      Das Foto der Lupinen ist hinter meinem Haus entstanden. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und nun kam die Sonne gerade über den Berghang. Ich neigte mein 90-mm-Tilt-Shift-Objektiv nach vorn, um über den gesamten Bildbereich hinweg Schärfe zu erzielen. In Photoshop bearbeitete ich das Bild mithilfe von Einstellungsebenen und dem Werkzeug Auswahl > Farbbereich. Der wesentliche Effekt der Ebenen ist in diesem Fall die deutlichere Trennung der Tonwerte, vor allem in den Schatten. Die Schwärzen waren zu hell in der Raw-Datei, also habe ich sie abgedunkelt, dabei aber die deutlichen Abstufungen in den dunklen Tonwerten beibehalten.

      Die Lichtstimmung zeichnete sich vor allem durch die funkelnden Glanzlichter in den Blüten und Gräsern aus. Um diese Wirkung zu konservieren, zog ich die Gradationskurve in den Lichtern so weit an, dass die hellsten Töne so hell wie möglich waren, ohne Zeichnung zu verlieren. In sehr kontrastreichen Szenen wie dieser ist das eine Gratwanderung: Ich wollte die Helligkeit der sonnenbeschienenen Blüten erhalten, ohne dass die Schatten zuliefen. Ich entschied mich dafür, die Blüten im Schatten herauszuarbeiten – sie sollten genauso leuchten wie diejenigen im Gegenlicht.

      Den in voller Blüte stehenden Birnbaum auf der folgenden Seite habe ich als High-Key-Aufnahme ausgearbeitet. In der Raw-Datei sind der Baumstamm und die Äste beinahe Silhouetten, aber das war mir zu dunkel für die Stimmung, die ich erzielen wollte. In Lightroom hellte ich die Tiefen auf und hob auch die Tonwerte in ihrer Gesamtheit an, um das strahlende Licht wiederzugeben, das ich gesehen hatte.

      Angesichts all der Werkzeuge, die uns heute für die Bildbearbeitung zur Verfügung stehen, bleiben kaum noch Ausreden, nicht in die digitale Dunkelkammer abzutauchen. Wenn Sie mit Photoshop arbeiten und gegenwärtig noch keine Master-Dateien Ihrer Lieblingsbilder haben, d. h. komplett mit den einzelnen Ebenen, die all Ihre Anpassungen enthalten, dann lassen Sie sich einen der größten Vorteile entgehen, den die Digitalfotografie mit sich bringt. Ansel nannte seine Negative oft die Notenblätter, seine Ausbelichtungen die Aufführungen. Ihre digitale Aufnahme trägt alle Noten Ihres Bildes in sich. In der digitalen Dunkelkammer ist es dann an Ihnen, diese Noten in Töne zu verwandeln und zum Klingen zu bringen – damit es ein großartiges Konzert wird!

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      Pear Tree in Bloom (Birnbaum in voller Blüte) | Fresno, Kalifornien | 2018

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      Cypress Trees in Fog (Zypressen im Nebel) | Monterey, Kalifornien | 2019

      VERSCHIEBEN SIE DIE GRENZEN

      HIGH-KEY-EXPERIMENTE

      In der kreativen Fotografie ist es nötig, Grenzen zu verschieben – über Normen und tagesaktuelle Trends hinaus. Über all die Jahrzehnte hinweg, in denen ich Landschaftsaufnahmen gemacht habe, hat es meine Kreativität belebt und mich künstlerisch weitergebracht, wenn ich in Sachen Motiv eine neue Richtung eingeschlagen oder eine neue Methode ausprobiert habe. Neuerdings experimentiere ich voller Begeisterung mit High-Key-Aufnahmen und versuche mich an dieser alternativen Bildbearbeitungsvariante.

      Die meisten von uns entwickeln ihre Bilder typischerweise so, dass sie einen möglichst vollständigen Tonwertumfang aufweisen – von tiefen Schatten, die trotzdem noch Zeichnung enthalten, bis zu den hellsten Tönen. High-Key-Aufnahmen hingegen zeigen nur Tonwerte am rechten Rand des Histogramms, wobei sich die dunkelsten Werte um Mittelgrau bewegen und die helleren Töne von Hellgrau bis fast Weiß reichen.

      Inspiriert haben mich die High-Key-Aufnahmen von Don Worth, einem von Ansel Adams’ ersten Assistenten. Seine Aufnahme einer Sukkulente in unzähligen feinsten Hellgrautönen hat eine mystische Anmutung und gehört zu meinen absoluten Lieblingsbildern. Mit der gleichen High-Key-Behandlung hat Don Worth auch Baumstämme im Wald bei Nebel fotografiert. Huntington Witherill hat mich mit seinen High-Key-Aufnahmen von Dünen inspiriert. Je mehr


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