Die Essenz der Landschaftsfotografie. William Neill

Die Essenz der Landschaftsfotografie - William Neill


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für diese Aufnahme verwendete, hat einen begrenzten Kontrastumfang. Gleichmäßig ausgeleuchtete Motive lassen sich deshalb bei kontrastärmerem Licht mit einer größeren Farbvielfalt und Detailfülle aufnehmen. Mit direktem Sonnenlicht in der Szene hätten die Glanzlichter auf dem Wasser die Blüten optisch erdrückt. Mit einer Digitalkamera wäre die Aufnahme in diesem weichen Licht ein Leichtes gewesen; der Kontrastumfang der Sensoren übersteigt den von Film bei Weitem. Zusätzlich hätte ich den Vorteil gehabt, in der Vorschau sehen zu können, ob die Blüten scharf abgebildet waren; ich hätte verschiedene Verschlusszeiten ausprobieren können, um das Wasser zu verwischen, und ich hätte obendrein noch die ISO-Empfindlichkeit verändern können, was sich auf die Schärfe der Blüten und das verschwommene Wasser ausgewirkt hätte.

      Es war Glück, dass der eleganteste Ast über den Fluss ragte und sich so vom Rest des Baumes abhob. Die nächste Herausforderung bestand darin, eine Kameraposition zu finden, bei der sich der Hintergrund nicht störend auswirkte. Ich erinnere mich daran, dass ich meine liebe Mühe hatte, den elegant gebogenen Ast von der ihn umgebenden Unordnung zu isolieren, auch noch mit der längsten Brennweite, die ich für meine 4 × 5-Kamera hatte: 360 mm, was 105 mm beim Kleinbild entspricht. Dann fiel mir mein 6 × 7-Rollfilm-Rückteil ein, das sich in das Großformat-Kamerarückteil einschieben lässt. Damit verdoppelte sich meine effektive Brennweite, und ich war endlich in der Lage, den Ast nah genug heranzuholen und das unerwünschte Durcheinander loszuwerden.

      Der Einsatz einer Fachkamera erwies sich auch bei dieser Aufnahme als Vorteil, weil ich die Verschwenkung und die Neigung anpassen konnte. Als ich endlich im richtigen Winkel einen Standort fürs Stativ gefunden hatte, verlief der Ast sehr schräg zur Kamera. Die Fachkamera machte es mir möglich, die Filmebene so zu verändern, dass der Ast scharf abgebildet war, ohne die optimale Kameraposition aufgeben zu müssen. Für eine schlichte, wirkungsvolle Bildgestaltung brauchte ich den Fluss im Hintergrund, aber ohne die beiden Uferstreifen. Die zwei Felsen, die hinter dem Ast klein zu sehen sind, liefern genug Kontext, ohne abzulenken. Die Belichtungszeit lag irgendwo zwischen 15 und 30 Sekunden. Ich musste immer noch ziemlich stark abblenden, um den gesamten Ast scharf zu bekommen, und hatte Glück, dass wirklich kein Lüftchen ging. Die Unschärfe des Flusses unterstreicht die Stimmung und erleichtert die Freistellung des Astes vor dem Wasser. Die Stromschnellen spiegeln in ihrer monochromen Anmutung die dunklen Wolken über der Szene wider, was dazu führt, dass die grünen Blätter und die rosafarbenen Blüten aus den winterlichen Farbtönen des Flusses regelrecht herausleuchten.

      Es gibt noch eine andere Kameraoption, mit der dieses Bild möglich gewesen wäre. Mit Tilt-Shift-Objektiven hat der Landschaftsfotograf ähnliche Möglichkeiten zum Verschieben und Verschwenken wie mit Fachkameras. Hätte ich diese Aufnahme im Kleinbildformat machen wollen, wäre mein 90-mm-Tilt-Shift-Objektiv von Canon in Verbindung mit einem Zweifach-Telekonverter zum Einsatz gekommen. Die Neigung, die man normalerweise nutzt, um den Bereich der Schärfentiefe zu vergrößern, hätte man in diesem Fall seitlich eingesetzt, um die Schärfentiefe auf der linken und der rechten Seite des Bildes zu kontrollieren. Bei 180 mm Brennweite wäre ein normales Objektiv nicht in der Lage, die Schärfentiefe des gesamten Astes abzudecken, auch nicht bei der kleinstmöglichen Blende.

      Mit der Isolation von Bildbestandteilen – ob nun durch den Einsatz von Brennweite, Kamerawinkel oder durch andere Mittel der Bildgestaltung – lässt sich eine willkommene Vereinfachung der Bilder erreichen, und Ihre Landschaftsaufnahmen gewinnen dadurch an Vertrautheit. Dem Betrachter wird klar, dass Sie gezielt nach etwas ganz Besonderem gesucht haben, das vielleicht nur Sie allein wahrgenommen haben. Schließlich geht es in der Fotografie ja darum, dass andere die Welt mit Ihren Augen sehen können.

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      Sunrise Storm Clouds (Gewitterwolken bei Sonnenaufgang) | St. Mary Lake, Glacier National Park, Montana | 1995

      AUF DEN SCHWINGEN DES LICHTS

      LICHT SPIELT DIE HAUPTROLLE – BEREITEN SIE IHM DIE BÜHNE!

      Wie eine Welle spielt das Licht in der Landschaft. Wir schauen zu, warten, schnappen nach Luft und hoffen. Manchmal stöhnen wir auch auf. Wird das Licht seine magischen Kräfte entfalten, und falls ja, wann genau ist der entscheidende Moment? Landschaftsfotografen müssen eifrige Wetterstudenten sein, um diesen einen magischen Sonnenstrahl oder diese dramatische Farbigkeit vorherzusehen. Unsere Aufgabe ist, das Licht wahrzunehmen.

      Menschen tendieren dazu, das Licht, das sie Tag für Tag sehen, als gegeben hinzunehmen. Ich glaube, als Fotografen tun wir gut daran, uns tagtäglich und lebenslang als Schüler des Lichts zu begreifen. Ich halte mich nicht für einen Lichtexperten, und ich glaube auch nicht, dass ich je einer sein werde. Es gibt so viele feine Abstufungen und Varianten, dass ich einfach hoffe, jedes Mal dazuzulernen. Wenn jemand davon ausgeht, Licht wirklich in- und auswendig zu kennen, wird diese Annahme ihn oder sie daran hindern, sich kreative fotografische Möglichkeiten zu erschließen. Unser künstlerisches Potenzial ist größer, wenn wir stets danach streben, dazuzulernen, unser Wissen zu erweitern und unser Verständnis zu vertiefen.

      Ich bin in den frühen 1980ern zu dieser Erkenntnis gelangt, als ich in der Ansel Adams Gallery in Yosemite arbeitete. Der berühmte Fotograf veranstaltete dort seinen Sommer-Workshop, und Joel Meyerowitz war einer der Dozenten. Meyerowitz ist ein Meister der Farbfotografie, sein Buch Cape Light ein Klassiker. Die Abstufungen von Licht und Farbe in seinen Bildern sind eine Inspiration. Ich hatte das Glück, ihm während seines Unterrichts beim Fotografieren zuzusehen, und er verwies auf Farbschattierungen in seinem Motiv, die ich zunächst nicht einmal wahrnehmen konnte. Ich war schockiert. Nachdem ich eine Weile darauf gestarrt hatte, sah auch ich schließlich, was der Meister gesehen hatte. Voller Demut schwor ich mir, meine Sujets künftig genauer und eingehender zu betrachten – und noch mehr zu lernen.

      Einmal war ich im Glacier National Park, um zu fotografieren, während ich an zwei Buchprojekten arbeitete. Dreiundzwanzig Jahre zuvor, als Collegestudent mit einem Ferienjob, hatte hier mein Leben als Fotograf begonnen, als ich eine Kamera auf meine Wanderungen mitnahm. Nach all den Jahren kehrte ich nun in den Park zurück, um meine Verbindung zu dieser ganz besonderen Landschaft wiederaufleben zu lassen und neue Bilder zu machen.

      Bei meinen anfänglichen Besuchen im Park hatte ich meine ersten Lektionen in Sachen Licht gelernt. An einem Sommermorgen war ich noch im Dunkeln zu einem Bergsee gewandert, im Gepäck eine leere Leinwand und Ölfarben. Ich hoffte darauf, den Sonnenaufgang in den Bergen malen zu können, wie er sich im See spiegelte – obwohl ich nur wenig Erfahrung mit der Malerei hatte und überhaupt keine damit, Natur »live« zu malen.

      Als das Sonnenlicht die Gipfel erreichte und die Flanken hinabkroch, arbeitete ich zügig, mischte Farben für Himmel, Fels, Baum und Wasser. Ich war neunzehn, und alles war möglich. Ich mischte die Grüntöne so an, wie ich sie sah, aber in dem Moment, als ich die Farbe auf die Leinwand strich, hatten sie sich in der Natur schon verändert. Es war faszinierend zu begreifen, dass Farbe und Licht so nuanciert sein konnten und sich ständig wandelten. Ohne nachzudenken legte ich mich schließlich auf jene Farben fest, die am besten auszusehen schienen, und malte weiter, voller Begeisterung für das Spektakel. Ich sah ein, dass es offensichtlich schwierig ist, die Realität zu malen, und zudem eine Frage der Interpretation. Ich lernte aber noch etwas Wichtigeres: Licht ist flüchtig und wunderbar; es beflügelt mich. Ich begann einzusehen, dass die Fotografie mit ihrer Zweckmäßigkeit und Unmittelbarkeit besser zu meiner jugendlichen Ungeduld passte als Malerei oder andere Kunstformen.

      Zurück in die jüngere Geschichte: Bei meiner Rückkehr in den Park besuchte ich einen anderen Bergsee zu Sonnenaufgang. Als ich im Dunkeln vom Campingplatz losfuhr, erwartete ich nicht viel, weil es die ganze Nacht geregnet hatte und der Himmel noch voller dunkler Wolken hing. Aber die Dämmerung bekam Farbe, als ich meine Fachkamera mit einem Weitwinkel aufbaute. Ich fotografierte zügig, die Belichtung für jede einzelne Aufnahme messend, während ich versuchte, die große Kamera im starken Wind zu stabilisieren. Es waren schwierige Bedingungen, aber sie brachten mich in Schwung!

      Die rötlichen Strahlen der Sonne trafen zuerst die Wolken und bewegten sich dann hinab zu den Gipfeln. Die Farben veränderten sich in cineastischen


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