Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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wie angegossen. »Fahr los. Wahrscheinlich wartet morgen wieder ein Sechzehn-Stunden-Tag auf dich.«

      »Eher achtzehn«, antwortete Anna, während sie sich im Spiegel betrachtete. Sie musste sich eingestehen, dass schwarze Latexhosen und ein rückenfreies Top durchaus ihren Reiz hatten. »Danke«, sagte Anna und umarmte Mimi zum Abschied.

      »So schnell wird man Anwältin«, sagte Mimi, bevor sie ihr Büro verließ.

      7

      DIENSTAG

      Die roten Punkte der Tasse leuchteten im Neonlicht. Als der Kessel pfiff, griff Anna danach und übergoss die Teeblätter mit kochendem Wasser. Das Aroma von schwarzem Darjeeling füllte ihre Nase, während sie ihre Handflächen am aufsteigenden Dampf wärmte. Das Thermometer vor dem Küchenfenster zeigte drei Grad über Null. Die kahlen Äste der japanischen Kirschbäume bewegten sich rhythmisch im Wind. Zu ihren Füßen drückte ein einzelner Fußgänger seinen Hut auf den Kopf und umschlang den Kragen seines Mantels. Nachdem Anna vergeblich die Straße nach parkenden Geländewagen abgesucht hatte, stellte sie die halb geleerte Tasse neben die Spüle und wischte Krümel ihres gestrigen Abendessens von der Arbeitsfläche. Wenn sie sich weiter von Knäckebrot mit Butter ernährte, würde sie in Kürze neue Hosen besorgen müssen.

      Am Weg zur Wohnungstür flocht sie ihre Haare zu einem Zopf, stülpte ein rotes Gummiband über das Ende und fischte ihre Jacke vom Garderobenhaken. Während sie die Laufschuhe schnürte, drangen die Goldberg-Variationen aus ihren Kopfhörern. Anna zog den Reißverschluss bis unter das Kinn und Handschuhe über und lief die Stiegen fast geräuschlos nach unten. Als sie das Haustor öffnete, riss der Wind an ihrer Mütze. Anna zog sie tiefer in die Stirn, trocknete ihre tränenden Augen und legte die wenigen Straßen bis zum Radweg am Ufer des Donaukanales in lockerem Trab zurück. Ohne den Schutz der Häuser verstärkte sich der Wind zum Sturm und sie hatte Mühe, ihren gewohnten Rhythmus zu finden. Ihre Freundinnen verstanden nicht, warum sie sich jeden Morgen aus dem Bett quälte, um eine Stunde durch das verschlafene Wien zu laufen. Ihr Vater sorgte sich, ob sie unbeschadet zurückkäme und hätte ihr am liebsten einen Hund geschenkt. Doch Anna brauchte diese Stunde der Einsamkeit, in der ihre Fälle weit hinter ihr blieben. Nur in dieser Stunde hatte sie die Möglichkeit, die Jahreszeiten zu verfolgen. Es war die einzige Stunde des Tages, in der sie nur an sich denken konnte. Oder nicht denken konnte. Es war ihre ganz persönliche Stunde.

      Als Anna sich vom Stadtzentrum entfernte, kam ihr ein einsamer Läufer entgegen. Stumm nickten sich die beiden zu und Anna schaute auf ihre Armbanduhr. Ihr blieben fünf Minuten, bevor sie ihren gewohnten Wendepunkt erreichte. Da ihre Lungen von der ungewohnt kalten Luft schmerzten und ihre Haut brannte, entschied sie, früher umzukehren, zumal sie den Umweg über Mimis Wohnung einberechnen musste. Noch in der Nacht hatte ihre Freundin ihr mitgeteilt, dass ihr kein Wagen gefolgt war. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Hatte der Fahrer einfach dieselbe Route genommen? Mimi hatte nach dem Warum gefragt. Lag der Grund in einem lange zurückliegenden Fall, oder ließ Tolstunov sie beschatten? War es möglich, dass er bereits wusste, dass Julia sie aufgesucht hatte?

      Anna bemerkte den entgegenkommenden Läufer erst, als sie mit ihm zusammenprallte. Zu spät versuchte sie, ihren Kopf zu heben, doch da drückte sein Schlüsselbein bereits gegen ihren Hinterkopf. Er hielt sie an den Oberarmen, um sie beide am Fallen zu hindern.

      »Ich habe nicht aufgepasst«, sagte Anna.

      Der Wind war zu laut um seine Antwort zu verstehen.

      »Es tut mir leid«, rief sie einem Rücken in einer dunklen Jacke zu, die in der Dunkelheit verschwand. Als Anna den ersten Schritt machte, fuhr der Wind ungeschützt über ihren Kopf. Ihre Mütze lag am Wegrand auf einem Haufen Laub und sie bückte sich danach. Der Stoff war feucht und nasse Blätter klebten daran. Als Anna sie überzog, bemerkte sie, dass sich auch ihr Zopf gelöst hatte. Sie suchte den Boden nach dem roten Gummiband ab, doch sie konnte es nicht entdecken. Nachdenklich drehte sie sich noch einmal um. Der andere Läufer war verschwunden und Kälte drang durch den Stoff ihrer Laufhose. Anna setzte sich in Bewegung und wechselte von den Goldberg-Variationen zu Michael Jackson. Sie musste sich beeilen, wenn sie es pünktlich ins Büro schaffen wollte.

      8

      Anna trat aus der Tiefgarage ins Freie. Noch zwei Querstraßen bis zur Kanzlei, noch eine halbe Stunde bis zu ihrem ersten Termin. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und wirbelte Blätter auf. Am Horizont färbte ein fahler Streifen den Himmel. Anna bedauerte, dass sie den Lauf der Sonne nicht auf einem hohen Berg über der Baumgrenze verfolgen konnte. Untertags leuchtete das Gelb durch die verspiegelten Scheiben ihrer Bürofenster kraftlos und trüb, während das Abendlila matt statt zärtlich schimmerte. Am Ende eines Arbeitstages verhinderten die Dächer der umliegenden Hochhäuser, dass sie die Sonne als rot glühenden Ball versinken sah. Statt tausender Sterne erhellten Neonbuchstaben den Nachthimmel. Anna hätte viel dafür gegeben, für einen Tag auszubrechen und auf einem warmen Stein den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Stattdessen hielt sie wie jeden Morgen an dem kleinen Kiosk, den ein Inder mit seiner Frau betrieb.

      »Sie kommen heute spät«, sagte er und streckte ihr einen Becher entgegen.

      »Ich wurde aufgehalten«, antwortete Anna.

      »Ein Mann?« Als er lächelte, hoben sich seine weißen Zähne deutlich von der braunen Haut ab.

      Anna nickte und reichte ihm die Münzen, die sie sich zurechtgelegt hatte.

      »Er tut Ihnen nicht gut«, sagte er.

      »Wie kommen Sie darauf?«

      »Sie sehen nicht glücklich aus«, sagte der Inder.

      »Ein Croissant«, sagte Anna und durchsuchte ihre Handtasche nach weiteren Münzen.

      »Geht aufs Haus«, sagte der Inder. »Das ist das erste Mal seit ich eröffnet habe, dass Sie mehr als einen Kaffee möchten. Lassen Sie es sich schmecken. Die Croissants sind gut. Der Kuchen ist noch besser. Meine Frau bäckt ihn frisch. Seit drei Jahren macht sie das jede Nacht. Nächste Woche ist ihr Geburtstag, da gibt es den Kaffee zum halben Preis und gratis Kuchen für alle.«

      »Ich kann mich noch an den Tag der Eröffnung erinnern«, sagte Anna. »Sie haben zehn Minuten mit der Maschine gekämpft.«

      »Trotzdem sind Sie wiedergekommen. Sie waren meine zweite Kundin«, antwortete er, »auch ich kann mich gut erinnern. Damals waren Ihre Haare kürzer und Sie waren nicht so dünn wie jetzt. Zu wenig Croissants«, fügte er lächelnd hinzu.

      »Haben Sie jemals daran gedacht, ein Restaurant zu eröffnen?«, fragte Anna und nippte an der Flüssigkeit. Sie war heiß und süß.

      »Ich denke jeden Tag daran, aber es wird immer ein Traum bleiben.«

      »Wenn Sie etwas Passendes finden, sagen Sie Bescheid«, meinte Anna. »Ich helfe gerne.«

      »Ich weiß nicht, ob ich mir Ihr Honorar leisten kann«, gab der Inder zu Bedenken.

      »Anwälte können auch in Naturalien bezahlt werden.«

      »Sie meinen, die Rechtsanwältin Anna kann in Naturalien bezahlt werden?«, fragte er lächelnd.

      Anna lächelte zurück. »Einen schönen Tag noch«, sagte sie, während sie sich umdrehte. Der Inder kannte seine Träume. Hätte jemand sie nach ihren gefragt, hätte sie keine Antwort geben können. In einem renovierten Bauernhaus Kinder im Grünen aufwachsen sehen, wie Lukas vorgeschlagen hatte? Wohl kaum. Skifahren an einem einsamen Ort in den Alpen? Ebenso wenig. Lena Hofstetters Vergewaltiger vor Gericht sehen? Wahrscheinlich hätte ihre Antwort so ähnlich gelautet. Sie blieb nachdenklich vor einem Bürogebäude stehen und nippte an ihrem Kaffee. Er war erkaltet und sie warf den Becher in einen Abfalleimer. Warum musste sie ständig an das Mädchen denken? Auf dem Papier unterschied sich der Fall nicht von anderen, die sie in den vergangenen zehn Jahren übernommen hatte. Sie hatte wenige Anhaltspunkte, doch das war keine Seltenheit. Der Fall warf eine Menge Fragen auf, doch das taten viele und es war Annas Aufgabe, sie zu beantworten. Waren es die Begleitumstände, die sie irritierten? War der Zusammenstoß heute Morgen auf der Laufrunde kein Zufall gewesen? Hatte


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