Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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zu müssen und dabei wertvolle Tage verstreichen lassen. Wollte Anna Spuren sichern, die einen Täter vor Gericht bringen konnten, durfte sie keine Zeit mehr verlieren. »Schauen Sie mich an.« Die Bestimmtheit, mit der sie sprach, ließ Julia aufblicken. »Glauben Sie, dass er Lena missbraucht hat?«

      Julia nickte und verschränkte die Finger.

      »Warum glauben Sie das?«

      »Die Innenseiten ihrer Oberschenkel waren mit blauen Flecken übersät«, sagte Julia und biss sich erneut auf die Lippen. »Nicht nur ihre Oberschenkel«, fügte sie hinzu.

      »Ich verstehe«, sagte Anna. »Warum behaupten Sie, dass Maxim es war?«

      Julia schaute sie wütend an. »Ich weiß, dass er es war.«

      »Hat Lena es gesagt?«

      »Lena hat seither nicht mehr gesprochen.«

      »Dann stelle ich die Frage anders: wie können Sie es wissen?«

      Julia schaute wieder auf ihre Hände. Offenbar fiel es ihr leichter, über die Ereignisse zu sprechen, wenn sie scheinbar mit sich selbst sprach. »Als ich aus dem Kino zurückkam, sah ich ihn wegfahren. Maxim hat einen Geländewagen mit einem Aufkleber am Heck. Einen heulenden Wolf. Ich würde das Auto unter hunderten wiedererkennen.«

      »War es hell genug, um einen Aufkleber zu erkennen?«

      »Ich wollte noch nicht in meine Wohnung zurück und rauchte eine letzte Zigarette auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Abend war endlich wieder wie in alten Zeiten. Kino. Ein Drink. Lachen mit einer Freundin. Das Zuschlagen einer Wagentür holte mich in die Realität zurück. Sein Auto stand direkt unter der Laterne vor unserem Wohnhaus. Ich dachte, er wollte Lena besuchen. Er hatte einen Schlüssel. Manchmal kam er vorbei, um nach uns zu sehen. Manchmal brachte er Lena oder mir Geschenke mit. Er kündigte sein Kommen nie an.«

      »Wusste er, dass Sie an diesem Abend ins Kino wollten?«, fragte Anna.

      »Wir haben nie über unseren Alltag gesprochen.«

      »War er schon einmal mit Lena in der Wohnung, alleine?«

      »Vor zwei Monaten musste ich für eine Kollegin einspringen und die Nachtschicht übernehmen. Er hat auf Lena aufgepasst.«

      »Was machen Sie beruflich?«

      »Kellnerin. Ich arbeite, während Lena in der Schule ist. Früher habe ich Nachtschichten geschoben, da gibt es mehr Trinkgeld. Seit ich alleine bin, geht das nicht mehr.«

      »Was ist mit Lenas Vater?«

      »Er ist gestorben. Autounfall. Seither reicht das Geld nie.«

      »Was wissen Sie von dem Abend, an dem Maxim auf Lena aufgepasst hat?«

      »Maxim hat meine Dokumente durchsucht. Ich bewahre sie in der Kommode in meinem Schlafzimmer auf. Normalerweise liegt mein Reisepass ganz unten. Danach lag er gut sichtbar oben auf. Er wollte, dass ich es weiß.«

      »Haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

      »Ich hatte keine stichhaltigen Beweise.«

      »Warum hat Maxim das getan?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Was glauben Sie?«

      Julia zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihm einmal erzählt, dass ich noch nie im Ausland war. Vielleicht wollte er prüfen, ob ich die Wahrheit gesagt habe.«

      »Haben Sie das denn?«

      »Warum hätte ich lügen sollen?«

      »Ist in den vergangenen zwei Monaten sonst etwas vorgefallen? Hat er sich anders verhalten als sonst? Hat Lena sich verändert?«

      Julia schüttelte den Kopf.

      »Sind Sie sicher?«

      »Alles war wie immer. Bis zu dem Abend, an dem Lena verschwand.«

      »Haben Sie die Polizei gerufen?«

      Julia verneinte ein weiteres Mal. »Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich mein Kind ein paar Stunden lang alleine in der Wohnung gelassen hatte? Die Polizei hätte das Jugendamt eingeschaltet. Lena ist das einzige, das mir geblieben ist.«

      »Waren Sie mit Lena beim Arzt?«

      Julia hob abwehrend die Hände. »Ich konnte das nicht. Es wäre so endgültig gewesen. Ich hätte die Vorstellung nicht ertragen, was er mit ihr gemacht hat. Ich habe ihr Tabletten gegen die Schmerzen gegeben. Ich habe sie vorsichtig gewaschen. Sie hat viel geschlafen. Ich wollte in Ruhe überlegen, wie ich vorgehe.

      »Wir müssen wissen, was genau mit Lena passiert ist. Würden Sie mit ihr zu einer Ärztin meines Vertrauens gehen?«, fragte Anna.

      »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, erwiderte Julia.

      »Sie sind zu mir gekommen. Dieser Schritt hat mehr Mut erfordert, als mit Lena eine Ärztin aufzusuchen.«

      »Kann ich darüber nachdenken?«

      »Denken Sie nicht zu lange darüber nach. Mit jedem weiteren Tag wird es schwieriger, den Grad der Verletzungen festzustellen«, sagte Anna, langte hinter sich und überreichte Julia eine Visitenkarte. »Ich vertraue Doktor Andrea Reisinger. Sie hat Erfahrung mit Missbrauchsopfern. Sie weiß, was zu tun ist.«

      Julia steckte die Karte in ihre Tasche ohne einen Blick darauf zu werfen. Dann blickte sie Anna fragend an: »Werde ich alles vor Gericht erzählen müssen?«

      »Sollte es zu einer Verhandlung kommen, werden Sie als Zeugin aussagen müssen.«

      »Was brauchen Sie noch, um vor Gericht gehen zu können?«, fragte Julia.

      »Ich brauche mehr. Viel mehr«, sagte Anna.

      »Aber es ist doch alles klar! Ich habe Maxim gesehen. Nur er hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung.«

      »Sind sie sicher?«

      »Absolut.« Julias Stimme war nun um vieles fester. »Wann wird er bestraft für das, was er getan hat?«

      Anna schlug ihren Terminkalender auf und blätterte durch die Seiten. »Unsere Rechtsordnung gibt den Rahmen und das Verfahren vor. Ich erstatte Anzeige. Die Polizei ermittelt für den Staatsanwalt, der entscheidet, ob er Anklage erhebt und ein Gerichtsverfahren einleitet. Bisher gibt es nur Ihre Zeugenaussage. Die Staatsanwaltschaft leitet nur dann ein Verfahren ein, wenn die von uns vorgelegten Beweise dies rechtfertigen. Derzeit haben wir nicht genug«, sagte Anna. »Ich will Lena sehen.«

      »Muss das sein?«

      »Ich übernehme den Fall sonst nicht. Ich muss mir selbst ein Bild machen.«

      »Sie passen doch auf sie auf?«

      »Sie haben gemeint, ich wäre die Richtige.«

      Julia knetete ihre Finger. Dann atmete sie aus und sah Anna direkt an. »Sie sind die Richtige. Ich will ihn vor Gericht sehen, welchen Preis auch immer ich dafür bezahlen muss.«

      »Es geht nicht darum, dass Sie einen Preis bezahlen. Es geht darum, einen Täter vor Gericht zu stellen. Einen Richter ein Urteil fällen zu lassen. Einen Schuldigen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Das ist unser Rechtssystem.«

      »Was kann ich dazu beitragen?«

      »Bringen Sie Lena hierher.«

      »Wann?«

      »Morgen.«

      Julia nickte und hängte ihre Tasche über die Schulter.

      »Wir sehen uns«, sagte Anna und drückte Julias Hand. Sie hatte kalte Finger erwartet. Stattdessen hatte sie das Gefühl, einen heißen Ofen zu berühren.

      4

      Als Anna das Diktiergerät ausschaltete und die erledigten Akten neben einen Stapel Briefe schob, fiel ihr Blick auf das angebissene Tramezzini. Die Ränder wölbten sich nach oben und der Salat war welk


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