Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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sagte sie.

      »Habe ich einen Termin?«, fragte Anna.

      »Sie sagt, du hättest versprochen, sie einzuschieben«, antwortete Susanne.

      »Schick sie rein«, sagte Anna.

      Verwundert betrachtete Anna die kobaltblaue Handtasche mit aufgedruckten Sonnen, die ihre Besucherin an sich presste. Dann fiel ihr Blick auf die Schwellung um ihr Auge, die im Licht der Neonlampen größer wirkte, als Anna es aus der Entfernung vermutet hatte. Gekonnt verbarg sie ihre Überraschung, die Frau aus dem Gerichtssaal so schnell wiederzusehen.

      »Willkommen«, sagte Anna.

      JULI 1988

      Luna sitzt auf der Schaukel und beobachtet die Erwachsenen. Heute ist Großmutters Geburtstag, das ganze Dorf ist eingeladen. Ihre Freundinnen decken die Tische, hängen Lampions in die Bäume und schmücken die Tanzfläche mit bunten Bändern. Der Garten ist ein Farbenmeer aus blühenden Pflanzen und bunten Papiersternen, die sie in den vergangenen Tagen gemeinsam gebastelt haben. Luna stößt sich ab und gibt mit ihren Beinen das Tempo der Schaukel vor. Wenn sie am höchsten Punkt für einen Moment stehen bleibt, fühlt sie sich wie ein Vogel, der auf alles herabsieht. Das Seil knarrt auf dem Ast, so hoch schwingt sie sich zum Himmel. Warum kann es nicht jede Woche so große Feste geben, Teller voller Leckereien, Musik und Tanz, lachende Gesichter und eine Nacht, die nie endet? Doch vielleicht ist es gut so, so kann sie sich ein weiteres Jahr darauf freuen. Als Luna glaubt, nie mehr den Boden zu erreichen, sieht sie Onkel Hans kommen. Er hat ein Päckchen in der Hand. Immer sucht er ganz besondere Dinge aus. Luna schaukelt weiter, bis der Himmel ganz nah scheint und ihr Magen sich hebt. Dann ist er da und lächelt sie an, als wäre auch er sieben Jahre alt und könnte sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr zu plaudern.

      »Luna.« Seine rechte Hand verbirgt er hinter seinem Rücken.

      »Onkel Hans. Was hast du mir mitgebracht?«

      »Hast du Zauberaugen und kannst durch mich hindurch sehen?«

      »Ich kann nicht zaubern, Onkel Hans. Unser Dorfarzt Doktor Forster kann es. Er kann Menschen gesund zaubern.«

      »Jede Frau kann zaubern. Du bist nur nicht alt genug, das zu verstehen.«

      »Ich bin schon sieben.«

      Onkel Hans reißt erstaunt die Augen auf. »Das wusste ich nicht«, sagt er, »ich dachte, du wärst fünf.«

      »Du bist schon fast so vergesslich wie Großmama«, kichert Luna.

      »Ist man mit sieben nicht zu alt für ein Geschenk?«

      »Nicht einmal Großmama ist zu alt für Geschenke«, sagt Luna, »und sie wird heute zweiundsiebzig.«

      Endlich zieht er das Päckchen hinter seinem Rücken hervor, es ist viel größer als die Jahre zuvor.

      »Hast du mir eine Krone mitgebracht?«

      »Mach es auf.«

      »Ich will schaukeln.«

      »Vielleicht ist es tatsächlich eine Krone?«

      »Kronen sind doch nur für kleine Mädchen, Onkel Hans.«

      »Vielleicht ist es ein Kätzchen?«

      »Das könnte ich doch hören.«

      »Bist du nicht neugierig?«

      Luna liebt es, Onkel Hans an der Nase herumzuführen, sie weiß, er kann es kaum erwarten, dass sie sein Geschenk in Händen hält. Doch sie will sich noch ein kleines bisschen länger freuen und fliegt noch zwei Mal, bevor sie von der Schaukel springt und vor ihm steht. Der große Mann mit den blonden Haaren lächelt und will sie umarmen, doch Luna mag es nicht, wenn er sie allzu fest an sich presst. So streckt sie ihm ihre Hand entgegen und für einen Augenblick berühren sich ihre Finger. Luna kann spüren, wie warm die seinen sind. Als er die Hand ausstreckt, um ihre Wange zu berühren, wendet Luna sich ab und reißt das Papier auf.

      »Wie schön!«, ruft Luna, während sie den roten Stoff vor die Sonne hält. Sie glaubt, der Rock wäre von Flammen durchzogen, so glüht er. Er ist so leicht, dass er im Wind flattert. Kleine aufgenähte Glasperlen blitzen auf und reflektieren das Licht. Dazu hat Onkel Hans eine passende Spange für ihre langen Haare gekauft. Jetzt hätte sie Onkel Hans am liebsten doch umarmt.

      »Du wirst beim Fest die Schönste sein«, sagt Onkel Hans.

      »Rot ist meine Lieblingsfarbe«, sagt Luna.

      »Das hat mir ein kleines Vögelchen verraten.«

      »Heißt das Vögelchen Großmutter?«

      Onkel Hans lacht. »Du bist ein ziemlich schlaues Mädchen.«

      »Darf ich ihn gleich anziehen?«

      »Noch ist der Rock unser Geheimnis. Warte bis zum Fest.«

      »Ich würde ihn so gerne anprobieren.«

      »Bekommst du immer, was du willst?«

      »Meistens«, antwortete Luna, »Oma sagt, ich bin hartnäckig.«

      »Da muss ich deiner Großmutter recht geben«, sagt Onkel Hans und zieht einen Fotoapparat aus der Jackentasche.

      Luna hört das Klicken, als er auf den Auslöser drückt. Sie dreht sich in dem Rock, die Arme zum Himmel gestreckt.

      »Kann ich gut tanzen?«, fragt Luna.

      »Wie eine Ballerina«, antwortet Onkel Hans.

      »Tanzt eine Ballerina nicht auf einer Bühne?«

      »Eine Ballerina tanzt vor Publikum.«

      »Bist du mein Publikum?«

      »Heute Abend werden alle Gäste dein Publikum sein«, antwortet Onkel Hans, dreht sich um und kehrt zum Haus zurück. Rasch schlüpft Luna wieder in die Hosen und setzt sich auf die Schaukel. Ein weiterer Tisch vor Großmutters Haus ist gedeckt. Noch mehr Lampions hängen in den Bäumen. Nun dauert es nicht mehr lange, bis die Gäste kommen.

      3

      Anna stand auf und umrundete den Schreibtisch. »Anna Walter«, sagte sie.

      »Julia Hofstetter«, antwortete ihre Besucherin und presste ihre Tasche noch fester an sich. Ihr Händedruck war schwach und leblos.

      »Etwas zu trinken?«, fragte Anna.

      »Wasser, bitte«, antwortete Julia und schaute sich in Annas Büro um, bevor sie zwei Schritte zu der gerahmten Urkunde neben dem Türrahmen machte. »Sie sind so jung«, sagte sie, während sie Annas Zulassungsurkunde zur Rechtsanwältin las, »und trotzdem so selbstsicher.«

      »Selbstsicherheit ist eine der Grundanforderungen meines Berufes. Wie könnte ich sonst meine Gegner beeindrucken?«

      »Haben sie diese Bücher alle gelesen?«, fragte Julia und fuhr mit der Fingerspitze über die gelben Buchrücken, die in gerader Reihe in Augenhöhe im Regal neben Annas Schreibtisch standen.

      »Kodizes enthalten Gesetzestexte«, antwortete Anna, »ich schlage in ihnen nach.«

      Julia stieß gegen den Aktenstapel auf dem Parkettboden. Lose Blätter glitten aus den Deckeln. »Das wollte ich nicht«, stammelte sie, kniete nieder und schob wahllos Papiere zusammen.

      »Kommen Sie«, sagte Anna, umfasste Julias Oberarm und deutete auf die Couch, die ihrem Schreibtisch gegenüberstand. Anna hatte das Grün bewusst gewählt. Die Farbe der Hoffnung. Um denen, die sie längst verloren hatten, ein wenig davon zurückzugeben. Julia nickte und schlüpfte aus ihrem Mantel. Sie trug ein Wollkleid und Stiefel, die einmal beige gewesen sein mussten. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden, ließ sich in den weichen Stoff fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Anna füllte zwei Gläser mit Wasser.

      »Ich wollte Sie persönlich erleben«, sagte Julia, während


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