Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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bin«, erwiderte Anna und setzte sich.

      Julia schaute erschrocken auf. »Sie müssen meinen Fall übernehmen.«

      »Die Entscheidung, ob ich Ihr Mandat übernehme, liegt bei mir«, sagte Anna ruhig, aber bestimmt.

      Julia nippte an dem Wasser. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas abstellte. »So habe ich das nicht gemeint. Natürlich entscheiden Sie. Es tut mir leid.«

      »Ich gehe davon aus, dass Sie nicht hierhergekommen sind, um sich zu entschuldigen«, sagte Anna, »ich wollte nur unsere Rollen klar definieren, um Missverständnisse zu vermeiden.«

      Julia nickte. »Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob Sie einen Fall übernehmen?«

      »Ich übernehme nur Fälle, bei denen ich eine Chance sehe, für meine Mandanten das Bestmögliche zu erreichen.«

      »Was ist das Bestmögliche?«

      »Das ist von Fall zu Fall verschieden.«

      »Wer erfährt davon, wenn Sie eine Vertretung übernehmen?«, fragte Julia.

      »Das hängt von der notwendigen Vorgehensweise ab«, antwortete Anna, »vorerst wird nichts von dem, was Sie mir erzählen, diesen Raum verlassen. Jedes Wort unterliegt dem Anwaltsgeheimnis. Er kann Ihnen hier keinen Schaden zufügen.«

      Julia nickte und schaute Anna direkt an. »Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die nur nehmen und nicht geben können?«

      »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.«

      »Er bezeichnete es anfangs als Affäre. Das klingt so abwertend. Nicht einmal das Wort Geliebte wird der Situation gerecht. Ich kenne keinen passenden Ausdruck für das, was ich für ihn war.« Julia zögerte und trank einen weiteren Schluck. »Jeden Donnerstag kam er zu mir. Manchmal blieb er über Nacht. Er dominierte. Aus Überzeugung. Ich fügte mich, ohne meine Rolle anzuzweifeln. Ein Außenstehender hätte vieles von dem, was wir taten, wohl als Vergewaltigung eingestuft. Die Mischung aus Schmerz und Lust erregte uns beide. Er brauchte mich ebenso wie ich ihn. Jede Woche fieberte ich diesem Abend entgegen. Drei Jahre lang. Er fragte nie, wie es mir dabei ging. Er sprach davon, seine Frau zu verlassen. Mich zu sich zu holen, in dieses große Haus, in dem er lebt. Mich mit Geschenken zu überhäufen, wenn wir uns nicht mehr verstecken müssten.« Eine Träne rann über Julias Wange. »Ich war so naiv zu glauben, dass ich den Lottosechser gewonnen und meinen Traumprinzen gefunden hatte.«

      »Ich brauche seinen Namen.«

      Julia biss sich auf die Lippen und zögerte.

      »Sie wären nicht zu mir gekommen, wenn Sie ihn nicht vor Gericht sehen wollten. Ich kann kein Phantom zur Rechenschaft ziehen.«

      Julia nickte. »Maxim. Maxim Tolstunov.«

      »Was ist passiert?«

      »Ich habe ihm gesagt, dass er nie wieder kommen darf.«

      »Wie hat Maxim reagiert?«

      »Er hat einfach zugeschlagen.«

      »Waren Sie im Krankenhaus?«

      Julia blickte auf. »Natürlich nicht. Man hätte zu viele Fragen gestellt. Vielleicht sogar Anzeige erstattet. Ich hätte keine passenden Antworten gewusst.«

      »Das war aber noch nicht alles, richtig?«

      »Ich hatte ihn wegen dieses Abends zur Rede gestellt. Zuerst lachte er und meinte, es wäre nicht der richtige Augenblick für Scherze. Ich bohrte weiter und wollte Details erfahren. Irgendwann schwieg er und starrte mich an. Sein Schlag traf mich direkt neben dem Auge. Als ich am Boden lag, wollte er wissen, wie ich es wagen könnte, ihm so etwas zu unterstellen. Dann drehte er sich um und ging.«

      »Weswegen haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

      Julia zögerte. »Ich war nicht ganz ehrlich zu ihm.«

      »Ein anderer Mann?«

      Julia schüttelte den Kopf. »Es gab nur Maxim«, antwortete sie.

      »Was haben Sie getan?«, fragte Anna.

      »Ich habe ihn nicht angelogen«, antwortete Julia hastig, »aber ihm nicht alles erzählt.«

      »Wie Sie mir gerade nicht alles erzählen?«

      Julia schaute sie hilfesuchend an. »Ich werde alles später erklären«, sagte sie.

      Anna ahnte auf Grund langjähriger Erfahrung, wie schwer es Julia fiel, über den besagten Abend zu sprechen, und beschloss, vorerst abzuwarten. »Was haben Sie unternommen?«, fragte sie.

      »Nichts«, antwortete Julia und berührte ihr geschwollenes Auge. »Ich habe mich krank gemeldet und von Migräne erzählt.«

      »Haben Sie Maxim seither wiedergesehen?«

      Julia schüttelte den Kopf. »Am nächsten Tag läutete es an der Wohnungstür. Ich hatte zwei Schmerztabletten genommen, geschlafen und konnte nicht klar denken. Ich hoffte, Maxim wäre gekommen, um sich zu entschuldigen. Als ich öffnete, wurde mir klar, wie unvorsichtig ich gewesen war. Ein Mann drängte sich hinein und versperrte mir die Tür.«

      »Wie sah er aus?«

      »Groß. Dunkle Haare, glaube ich. Ich drehte mich um und wollte ins Wohnzimmer. Er packte meinen Arm und hielt mich fest. »Wer wird denn so unartig sein?«, waren seine Worte. Ich würde seine Stimme sofort wieder erkennen. Sie war überraschend sanft.«

      »Hat er Sie in der Folge bedroht?«

      Julia schüttelte erneut den Kopf. »Er bezeichnete es als guten Rat. Es wäre Zeit, Maxims Nummer aus meinem Telefon zu löschen. Dann ging er.«

      »Sie müssen mir die ganze Geschichte erzählen, wenn ich Sie vertreten soll«, sagte Anna nachdrücklich.

      Julia presste ihre Hand auf den Mund. Anna hätte am liebsten die Arme nach ihr ausgestreckt. Auch nach vielen Jahren neigte sie dazu, sich von den Gefühlen ihrer Mandanten beeinflussen zu lassen. Doch mit Emotionen konnten sie weder vor Gericht argumentieren, noch einen Richter überzeugen. Es waren die Fakten, die zählten. Verurteilungen erreichte sie mit der richtigen Vorgehensweise, gepaart mit überzeugender Argumentation. Anna langte nach der Box Taschentücher, die außerhalb Julias Reichweite stand.

      »Es geht um Lena«, sagte Julia.

      »Wer ist Lena?«

      »Meine Tochter. Sie ist sieben.«

      »Was ist mit Lena passiert?«

      »Ich weiß es nicht genau.«

      »Was vermuten Sie?«

      Julia holte tief Luft. »Ich wollte mit einer Freundin ins Kino. Der Babysitter hatte in letzter Minute abgesagt. Ich brachte sie zu Bett und ging. Es war so still, als ich in die Wohnung zurückkam. Ich wusste sofort, dass sie nicht mehr da war. Ich rief Maxim in dieser Nacht siebenunddreißig Mal an. Er nahm keinen meiner Anrufe entgegen. Ich wartete neben dem Telefon und starrte aus dem Fenster. Zwanzig Stunden lang. Ich war verrückt vor Sorge. Am Abend klingelte sie einfach. Sie hatte noch dieselben Sachen wie am Vortag an. Ihren rosa Pyjama, den mit den kleinen Bären darauf.« Julias Hände zitterten.

      »Erzählen Sie weiter«, sagte Anna sanft.

      »Lena ließ sich anfangs nicht einmal von mir berühren. Und ihre Haare – sie waren weg. Maxim hat ihr die langen Haare abgeschnitten.« Julia starrte verwundert auf ihre Hände, als würden sie nicht zu ihr gehören.

      »Haben Sie sich jemandem anvertraut?«, fragte Anna.

      Julia schüttelte den Kopf.

      »Warum nicht?«, fragte Anna.

      Julia zuckte mit den Schultern. »Ich habe niemanden außer Lena«, sagte sie leise.

      Anna betrachtete die Verfärbungen um Julias Auge, die bereits von Lila ins Gelb überwechselten. »Wie lange liegt der Vorfall zurück?«

      »Zehn Tage«, antwortete Julia. Sie sprach mittlerweile so leise,


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