Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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auf ihn ein. Als er Anna sein Gesicht zuwandte, glaubte sie, Bewunderung zu erkennen. Auch er wusste, dass er sich zu früh in Sicherheit gewiegt hatte. »Ich spreche mich gegen die Zulassung dieses Beweismittels aus«, sagte er, »die Zeichnung einer Achtjährigen beweist nichts.«

      »Das wird ein Sachverständiger beurteilen«, sagte Anna, durchquerte den Saal und legte das Blatt auf den Richtertisch, bevor sie auf ihren Platz zurückkehrte.

      »Warum haben Sie das Beweisstück nicht früher vorgelegt?«, fragte der Richter, während er die Zeichnung betrachtete.

      »Melanie Salzer hat dieses Bild gestern bei ihrer Therapeutin gemalt. Ihre Mutter hat es mir vor der Verhandlung übergeben«, sagte Anna, »ich bitte die Gegenseite um Entschuldigung, dass sie sich nicht umfassend auf dieses Vorbringen vorbereiten konnte. Bis zur nächsten Tagsatzung bleibt dafür sicherlich ausreichend Zeit.« Sie ordnete ihre Unterlagen und lehnte sich zurück.

      Pieler hatte seine Hände zu Fäusten geballt und starrte sie an. Das Blau seiner Augen war um vieles dunkler geworden. Die Pharmaindustrie muss wohl in nächster Zeit auf einen ihrer Mitarbeiter verzichten, dachte Anna, blendete die Stimme des Richters aus, der das Protokoll diktierte, und schaute in den Zuschauerraum, um das Lächeln zu verbergen, das sie nicht länger zurückhalten wollte.

      Zu Annas Verwunderung war nicht ein leerer Saal stummer Zeuge ihres Gefühlsausbruchs. Eine junge Frau im Wintermantel saß in der letzten Reihe und schaute in Annas Richtung. Ihre blonden Haare waren zu einem schlichten Knoten aufgesteckt, eine Sonnenbrille bedeckte ihre Augen. Anna hätte erwartet, dass ihre Mitwisserin das Lächeln erwiderte, stattdessen drehte sich die Unbekannte zur Richterbank und holte Anna in die Welt der Gewalt, Verletzung und Demütigung zurück, die sie für einen kurzen Augenblick hinter sich geglaubt hatte. Anna ahnte das blaue Auge, das die Frau zu überdecken suchte. Wahrscheinlich hatte sie im Krankenhaus von einem Unfall erzählt. Vielleicht kannte die beste Freundin die wahre Geschichte. Wenn sie den Mut fand, würde sie sich irgendwann der Polizei oder einem Anwalt anvertrauen.

      Jemand räusperte sich. Anna wendete ihren Kopf. Der Richter sah sie tadelnd an. »Ich habe keine weiteren Fragen«, sagte Anna und verstaute den Akt in ihrer Tasche.

      »Der Prozess wird vertagt, um das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen. Der Termin für die nächste Verhandlung ergeht schriftlich«, sagte der Richter und verließ mit der Schriftführerin den Saal.

      Als Anna ihren Mantel überzog, nickte sie der jungen Frau im Zuschauerraum zu. Die Sonnenbrille verhinderte, das Senken ihres Kopfes als Zeichen der Zustimmung oder Scham zu deuten.

      »Gelungene Prozessführung«, sagte der Gegenanwalt.

      »Routine«, antwortete Anna.

      Der Verteidiger drückte Pieler eine Hand auf die Schulter, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Sie hatten die Zeichnung schon die ganze Zeit über vorliegen, richtig?«

      »Würde es an der Schuld Ihres Mandanten etwas ändern, wenn es so wäre?«

      »Wer sagt denn, dass er schuldig ist?«

      »Wir beide müssen nicht darüber entscheiden.«

      »Das Kind hat die Geschichte erfunden.«

      »Herr Kollege, Sie verschwenden Ihre Kräfte. Sie müssen den Richter überzeugen, nicht mich«, sagte Anna, »kümmern Sie sich um Ihren Mandanten und verhindern Sie, dass er weitere Dummheiten begeht.«

      Pieler stand auf, schaute seinen Verteidiger fragend an und wischte dessen Hand wie ein lästiges Insekt von seiner Schulter. »Haben Sie sich mit ihr verbündet?«, fragte er erstaunlich ruhig und kontrolliert. Hätte Anna dem Angeklagten gegenüber nicht dermaßen viel Verachtung empfunden, hätte sie seiner Selbstbeherrschung Respekt gezollt.

      »Einen schönen Tag noch, Herr Kollege«, sagte Anna und ging zum Ausgang. Als sie die Tür hinter sich schloss, reduzierte sich die mittlerweile laut geführte Diskussion zwischen Pieler und seinem Anwalt auf ein unverständliches Gemurmel. Vor den Fahrstühlen hatte sich eine lange Schlange gebildet. Anna passierte die Wartenden und eilte die Treppen hinunter. Da ihr niemand entgegenkam, ballte sie triumphierend die Hand zur Faust.

      2

      Als Anna das zwölfstöckige Gebäude betrat, in dem sich die Kanzlei befand, für die sie seit gut zehn Jahren tätig war, schlug ihr warme Luft entgegen. Die Heizungen liefen auf Hochtouren, um die herbstliche Kühle hinter die hundert Jahre alten Mauern zu verbannen. Ein Mosaik aus Hinweistafeln wies den Weg zu den Büros. Wer mit seinem Firmensitz ein Zeichen setzen wollte, residierte in diesem oder einem der angrenzenden Gebäude entlang der Ringstraße. Anna schlüpfte aus dem Mantel und wartete auf den Fahrstuhl. Als sich die Türen öffneten, strömten Menschen im Einheitsdress von Anzügen und eng sitzenden Kostümen ins Freie, um den Wartenden Platz zu machen. Einmal mehr stach Anna in ihrer beigen Hose und dem dunkelgrünen Pullover aus der Masse heraus. Sie verhinderte mit einem geschickten Ausweichmanöver den Zusammenstoß mit einem jungen Mann, der unvermutet vor ihr stehen geblieben war. Anna schloss sich den anderen Fahrgästen an, die in den Aufzug drängten. Zeit war Geld. Verrechnet in Stundensätzen der Rechtsanwälte, Behandlungskosten der Ärzte oder Honorarnoten der Steuerberater.

      In der Kabine war es unangenehm warm und roch nach übertrieben aufgetragenem Parfum. Als Anna sich umdrehte, erhaschte sie zwischen den sich schließenden Fahrstuhltüren einen Blick auf den unbekannten Bewunderer. Er balancierte auf Zehenspitzen, um sie zwischen den anderen Fahrgästen auszumachen. Als er sie erkannte, lächelte er, doch Anna ignorierte ihn, lehnte sich an die Metallwand des Fahrstuhles und betrachtete ihr Spiegelbild. Der kühle Novemberwind hatte ihre Wangen gerötet und ihren Kopf befreit. Die Verhandlung war in weite Ferne gerückt. Geblieben war das dumpfe Gefühl, alles erreicht und doch zu wenig getan zu haben.

      Als eine blecherne Stimme die Ankunft im sechsten Stock verkündete, deutete Anna zur Tür. Ein grau melierter Mittvierziger drückte sich an die Fahrstuhlwand, um Platz zu machen. Anna nickte mechanisch, doch ihre Gedanken kreisten bereits um das nächste Opfer, dessen Geschichte sie bald vor Gericht in Worte fassen würde. Ein neuer Akt, ein neuer Prozess. Neuerliche Gewalt, die allgegenwärtig war und wie ein schwarzes Loch Materie anzog und unerbittlich verschlang.

      Während Anna den Wartebereich der Kanzlei durchquerte, zählte sie aus Gewohnheit die siebzehn Schritte bis zur Glastür, die das Foyer von den Arbeitsplätzen trennte. An ihrem ersten Arbeitstag hatte sie jeden einzelnen davon staunend zurückgelegt. Die lederne Sitzgarnitur strahlte in Kombination mit dem darüber hängenden Miró Eleganz und Macht aus. Als die Wolkendecke aufbrach, färbte die Sonne die Marmorfließen gelb, durchzogen von den Schatten der deckenhohen Fenstereinfassungen. Anna lauschte der vertrauten Klangwolke aus läutenden Telefonen und surrenden Kopiergeräten, die gedämpft durch die Glasscheibe drang. Ihre Welt. Trotzdem hätte sie heute gerne umgedreht, um auf einer einsamen Parkbank die letzten Sonnenstunden zu genießen. Um umhertollende Kinder zu beobachten und den Krähen zuzuhören, die mit ihren Schreien vom Winter erzählten, der sich bereits mit Nebel, Frost und braunen Blättern auf den Gehwegen ankündigte. Um bei einem Spaziergang die vorbeiziehenden Wolken zu beobachten und ihren Träumen nachzuhängen. Um in einem kleinen Café einen Cappuccino zu trinken und eine Zeitschrift durchzublättern. Doch als sie die Tür öffnete, konnte sie nicht mehr tun, als ihre Arme um den Stapel Akten zu schließen, den ihr eine der Schreibkräfte an die Hüfte drückte. In ihrer Welt war kein Platz für sonnenbeschienene Parkbänke.

      Lukas erwartete sie lächelnd auf ihrem Schreibtischsessel. »Man darf gratulieren?«, fragte er.

      »Was machst du in meinem Büro?«, entgegnete Anna frostig.

      »Du wirst deine Verurteilung bekommen. Ist es nicht das, was zählt?«, fragte er, »du solltest stolz auf dich sein. Ich würde mir an deiner Stelle anerkennend auf die Schulter klopfen.«

      Nun musste auch Anna lächeln. »Das hat sich aber schnell herumgesprochen«, sagte sie, ließ den Papierberg auf den Parkettboden gleiten und las die Notizzettel ihrer Sekretärin. »Wie hast du davon erfahren?«

      »In Wien funktionieren Buschtrommeln ausgezeichnet.«


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