Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger
können, dass Nadjas Stimme noch nie so hoch gewesen war. Wie das Fiepen einer Maus, die ängstlich vor der Katze Schutz suchte. »Warum sollte ich den Mann kennen?«, fragte Vanessa.
»Ich habe ihn heute schon gesehen. Am Schulhof. Er hat uns beobachtet«, antwortete Nadja.
»Bist du dir sicher?«, fragte Vanessa. Noch nie hatte sie ein vergleichbares Gespräch mit Nadja geführt. Als wären sie ebenbürtig. Auf Augenhöhe. Für sie zählte Nadjas Aufmerksamkeit um vieles mehr als ein verzerrtes Gesicht im Glas. Im Gegensatz zu Nadja hatte sie keine Angst. Den Mann faszinierten wahrscheinlich die blonden Locken und das zauberhafte Lächeln ihrer Freundin. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte Vanessa und zog Nadja mit sich. Sie fragte sich, wie lange Nadja ihre Hand in ihrer eigenen dulden würde. Doch für den Moment spürte sie nichts anderes als Nadjas Finger in den ihren, den sanften Druck, mit dem sich ihre Hände ineinander verschränkten, und den Wind, der durch ihre Haare fuhr. Selten war Vanessa so stolz gewesen.
DER JÄGER
Stille war eingekehrt. Er liebte diese Stunden, wenn alle schliefen und jeder Raum nur sich selbst gehörte. Wenn niemand erwartete, dass er im richtigen Augenblick in ein Gespräch eingriff. Wenn sein Herzschlag den Rhythmus der Zeit vorgab. Wenn er keine Maske aufsetzen musste, um als liebevoller Vater, als besorgter Ehemann oder als erfolgreicher Geschäftsmann zu gelten. Wenn niemand fragte, warum er sich eine Zigarette anzündete. Das Streichholz zischte, als er es über die Reibfläche zog. Die Flamme erhellte sein Arbeitszimmer, bevor er seine Hand schüttelte und das verglühte Holz in den Aschenbecher gleiten ließ. Während er tief inhalierte, trat er ans Fenster. Der Ahorn hatte die Blätter verloren. Der Sommer war nicht mehr als ein letzter Hauch von Blütenduft, der bloß in seiner Erinnerung existierte. Hätten sich nicht Nebelschwaden um die Straßenlaternen gelegt und einen Teil des Lichtes verschluckt, hätte er zwischen den kahlen Ästen die Eisenstäbe des Zaunes erkennen können, der den Garten einschloss und sein Reich vom Rest der Welt trennte. Ein dunkler Fleck huschte den Stamm hinab und bewegte sich über den Rasen. Als würde jemand an der Linse einer Kamera drehen, gewann die Gestalt an Schärfe, je näher sie dem Haus kam. Von Zeit zu Zeit schlich die Nachbarskatze auf ihrem Beutezug durch seinen Garten. Als er gegen die Scheibe klopfte, zuckte das Tier zusammen und ergriff mit langen Sprüngen die Flucht. Er duldete keinen Eindringling in seiner Welt. Ganz besonders nicht, wenn es sich um andere Jäger handelte.
Er kniff die Augen zusammen, als er ein letztes Mal an der Zigarette zog. Die Katze war verschwunden. Als ein Windstoß durch den Baum fegte, wiegten sich die Zweige im Takt, als würden sie ein Lebewohl anstimmen. Er drehte sich um, ging zu seinem Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Der Silberrahmen des Fotos reflektierte das Licht und Großvater schaute ihn fragend an. Was er von dem Weg halten würde, den sein Enkel eingeschlagen hatte? Er konnte nicht sagen, ob die Farben über die Jahre verblasst waren oder seine Erinnerung ihn täuschte, doch er hätte geschworen, dass Großvaters blaue Augen um vieles intensiver geleuchtet hatten. Unvermittelt war er wieder neun Jahre alt. Sein Vater war im Winter beerdigt worden. Er verbrachte die Ferien am Land. Die Burschen aus dem Dorf arbeiteten auf den Höfen und waren größer und kräftiger als er. Im Gegensatz zu seiner war ihre Haut gebräunt. Sommersprossen überzogen seine Nase und dünne Waden ragten aus seinen Hosen. Seine Schuhe waren abgetreten und Steine drückten auf seine Fußsohlen, wenn sie an den Abenden die Hügel erforschten. Er hasste die Kälte des Baches und ekelte sich vor den Käfern, die sie in Marmeladegläsern fingen. Bei jedem Streifzug kämpfte er um den Anschluss in der Gruppe. Er errötete, wenn sie die Mädchen beim Baden beobachteten. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Lagerfeuer entzündete. Er wagte es nicht, die Äskulapnattern anzufassen, die sich auf Steinen sonnten und ihre gespaltenen Zungen zeigten. Die anderen lachten über ihn. Er sehnte sich nach der Stadt, nach der Umarmung seiner Mutter und nach der Zeit, als er seine Nachmittage nicht in Krankenhäusern hatte verbringen müssen, um seinem Vater beim Sterben zuzusehen. Das Wort Krebs konnte er nicht einordnen. Den Sarg, der in das dunkle Grab hinabgelassen wurde, sehr wohl. Er hatte keine Vorstellung davon, wie er Abschied nehmen sollte. Er hatte kein Rezept, wie er seine Mutter trösten konnte. Er hatte nur Großvater, der sich um ihn kümmerte. Eines Abends erzählte er von den anderen Kindern. Von ihrem Hochmut, ihrem Unverständnis und ihrem Lachen. Der alte Mann starrte in das Kaminfeuer. Schließlich trocknete er mit seinem Taschentuch die Tränen des Enkels und meinte: »Morgen wird alles anders.«
Als der alte Mann sich über ihn beugte und seinen Namen flüsterte, öffnete er schlaftrunken die Augen. Mondlicht fiel durch das Dachfenster und malte einen hellen Fleck auf den Zimmerboden. Großvater hüllte ihn in eine warme Jacke und reichte ihm Regenstiefel. Gemeinsam gingen sie zum See. Nebel hing über der Wasseroberfläche und Dampf stieg auf, als würden sich Nixen erheben und einen Tanz vollführen. Sie lagen im feuchten Laub, das nach abgestandenem Wasser roch, und lauschten in die Dunkelheit, die nicht weichen wollte. Großvater reichte ihm süßen Tee, den er in einer Thermoskanne mitgebracht hatte. Endlich färbte ein gelber Streifen den Himmel. Als er den Horizont betrachtete und hoffte, die Sonne möge ihn wärmen, zeigte Großvater Richtung Wald. Seine schläfrigen Augen tränten vom Wind und er hatte Mühe, in der Ferne Einzelheiten zu erfassen. Zuerst erkannte er das Geweih zwischen den Bäumen. Dann sah er den Kopf des Tieres, der sich Richtung See schob. Es bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit, als würde es den Wald besitzen. Während der Hirsch aus dem See trank, reichte Großvater ihm das mitgebrachte Gewehr und nickte. Die letzten Wochen hatte der Alte ihm beigebracht, auf Blechdosen zu zielen. Endlich war der Moment gekommen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ohne zu zögern legte er an und drückte ab. Lautlos ging das Tier zu Boden. Er biss sich auf die Lippen, um nicht zu zeigen, wie sehr seine Schulter schmerzte, der Alte hätte es ihm nicht verziehen. Gemeinsam näherten sie sich der Beute. Als der Hirsch sich ein letztes Mal aufbäumte, schoss ihm Großvater in den Kopf. Dann legte er dem Enkel seine Hand auf die Schulter und erklärte ihm, dass er eben zum Mann geworden war. Sein eigener Stolz spiegelte sich in den wässrigen Augen seines Gegenübers, als Großvater nickte und ihm zum Zeichen, dass er sein Nachfolger geworden war, sein Gewehr schenkte. Noch am selben Tag machte die Geschichte im Dorf die Runde. Die anderen lachten nie wieder über ihn. Sie respektierten ihn. Ein einzelner Schuss hatte sein Leben verändert und die Welt auf den Kopf gestellt.
Gedankenverloren strich er über die Stelle oberhalb des Schlüsselbeines, wo ihn der Rückstoß der Waffe getroffen hatte. Viele Jahre erinnerte sie ihn daran, wie einfach es war, sich über andere zu erheben. Doch mit der Zeit verblasste das berauschende Gefühl, das ihn beim Drücken des Abzuges durchströmte. Die erlegten Tiere wurden zahlreicher, doch der Funken Glück, den er dabei verspürte, schwächer. Wenn er nach einer erfolgreichen Nacht am Hochstand erwachte, dominierten Gleichgültigkeit und Enttäuschung. Statt des berauschenden Gefühls der Macht schmeckte er die Galle durchzechter Stunden und roch den schalen Gestank eines ungelüfteten Raumes, der von zu vielen Zigaretten und halb gefüllten Weingläsern zeugte. Das Töten war zur Gewohnheit geworden.
Er öffnete die Schreibtischlade, löste das Brett aus der Halterung, das den dahinter befindlichen Hohlraum verschloss, und holte die sicher verborgene Holzschatulle aus ihrem Versteck. Ob Großvater gewusst hatte, dass es Formen der Jagd gab, die kaum vorstellbare Sphären der Realität eröffneten? Dass ein von der Ferne erlegtes Tier ein schaler Abglanz dessen war, was die Wirklichkeit noch zu bieten hatte? Er hob den Deckel und drückte seine Nase in die Öffnung. Manchmal glaubte er, ihren Geruch noch einzuatmen. Mit dem Zeigefinger strich er über den Zopf. Über die Jahre hatten die Haare an Weichheit verloren und an Glanz eingebüßt. Trotzdem gelang es ihm bei der Berührung, die alten Bilder heraufzubeschwören. Er war wieder in der Höhle und lauschte in die Dunkelheit. Er hatte erwartet, ihre Arme würden sich um ihn schließen und ihre Tränen seine Wange benetzen. Er hatte gehofft, sie würde voll Erleichterung zu ihm aufschauen und für ihre Erlösung danken. Stattdessen forderte sie ihn heraus, suchte ihr Heil in der Flucht und raubte ihm die Stunde des Triumphes. Als er sich in Bewegung setzte, um ihr zu folgen, waren seine Instinkte geschärft wie nie zuvor. Er hörte ihren keuchenden Atem. Er roch ihre Angst. Er spürte ihre Verzweiflung. Er entschied nicht über das Schicksal eines Tieres. Er entschied zum ersten Mal über das Schicksal eines Menschen.
Als sie in den Abgrund stürzte und vor ihm lag, gab sie keinen Laut von sich. Sie hatte mit ihm gespielt, Lolita im roten Rock,