Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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Stunden dauern, sie abzuarbeiten. Doch sie war überzeugt, dass jede einzelne Minute gut investiert war und irgendwann belohnt wurde.

      »Wir sollten feiern. Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«

      »Lukas, wir kennen uns seit zwei Wochen. Mein Schreibtisch geht über mit Akten.«

      »Ich habe andere Frauen schon nach zwei Stunden zu einem Abendessen überreden können. Die Akten werden auch morgen noch auf deinem Schreibtisch liegen.«

      »Lass uns in fünf Minuten anstoßen, ich möchte mir einen Überblick verschaffen, was mich in den nächsten Stunden erwartet.«

      »Das ist immerhin ein Anfang. Ich bin gleich zurück.«

      Anna wartete mit zwei Gläsern, von denen sie eines Lukas reichte. »Auf die Gerechtigkeit«, sagte sie und nippte an der Flüssigkeit.

      Lukas schaute angewidert auf sein Glas. »Was ist das bitte? Moët sicher nicht.«

      »Champagner wäre reine Verschwendung. Du trinkst Vitamin C-Brause. Hilft beim Denken und wirkt gegen Erkältungen«, erwiderte Anna. »Soll ich dir noch eine Tablette auflösen?«

      »Ich hätte es wissen müssen«, sagte Lukas und schüttelte den Kopf, »du machst dir nichts aus deinem Erfolg.«

      »Würdest du das als Erfolg bezeichnen? Ein Mann wird wahrscheinlich für das verurteilt, was er einem kleinen Mädchen angetan hat, das nicht einmal wusste, was mit ihr geschieht. Wenn mein Auftreten heute überzeugend war und der Sachverständige ein Gutachten erstellt, das meine Behauptungen stützt, logiert er auf Staatskosten eine Zeit lang in einem Einzelzimmer, isst ausgewogene Mahlzeiten, liest die Bücher, die er immer schon lesen wollte und trainiert intensiver, als er es die vergangenen Jahre über konnte, weil ihn seine Geschäftstermine vom regelmäßigen Besuch eines Fitnessstudios abgehalten haben. Ihr Leben ist im schlimmsten Fall zerstört. Sie kann vielleicht nie wieder Vertrauen zu einem Mann aufbauen und durchlebt in ihren Albträumen jede Nacht aufs Neue, was mit ihr passiert ist. Ich zweifle, ob Erfolg das passende Wort ist.«

      Lukas zögerte, bevor er nach einer Pause fragte: »Du bist intelligent und zielstrebig. Warum hast du keine andere Richtung gewählt? Hättest du dich auf Wertpapierrecht spezialisiert, wärst du bereits eine reiche Frau. Du könntest den ganzen Laden hier übernehmen, wenn die dich auf die Börse loslassen.«

      »Vielleicht bedeutet mir Geld nicht so viel wie dir, lieber Wertpapierspezialist. Was sollte ich deiner Meinung nach mit einem gut gefüllten Konto tun?«

      »Du könntest einen alten Bauernhof kaufen und dir ein Paradies fern von der Großstadt schaffen, einen netten Partner suchen, eine Babypause einlegen und deine Kinder in der Natur aufwachsen sehen. Stattdessen kämpfst du jeden Tag aufs Neue für Frauen, die du in der Notaufnahme des Krankenhauses aufliest, für Kinder, deren Leben durch Gewalt zerstört wurde, für Menschen, die kaum dein Honorar bezahlen können. Du musstest lang auf deine Partnerschaft warten, weil du der Kanzlei nicht ausreichend Gewinn einbringst. Du hättest mehr Anerkennung verdient.«

      »Hast du Erkundigungen über mich eingeholt?«, fragte Anna.

      »Die Partner nehmen sich diesbezüglich kein Blatt vor den Mund.«

      »Ich mache mir nichts daraus, was andere über mich sagen. Außerdem profitieren beide Seiten davon, dass mein Name auf dem Briefpapier der Kanzlei als Partnerin aufscheint. Für mich haben sich dadurch Türen geöffnet, die mir als Einzelkämpferin verschlossen blieben. Die Kanzlei schätzt das regelmäßig geäußerte Lob der Presse, dass sich eine Partnerin einer Wiener Nobelkanzlei für Mandanten einsetzt, die an anderen Türen abgewiesen wurden. Falsch verstandene Eitelkeit würde jedem von uns das Erreichen seiner Ziele erschweren.«

      Lukas setzte sich auf die Schreibtischkante. »Klingt plausibel. Nichtsdestotrotz würde ich gerne erfahren, warum du kein anderes Spezialgebiet gewählt hast.«

      Anna stellte ihr Glas ab, drehte ihm den Rücken zu, stützte ihre Hände auf das Fensterbrett und starrte auf die Silhouette Wiens, die in oranges Herbstlicht getaucht vor ihr lag. Die Kastanienbäume zu ihren Füßen hatten die Blätter verloren. Anna schloss die Augen und blendete Lukas Anwesenheit ebenso wie die Geräusche aus. Sie glaubte, Pilze und Himbeeren zu riechen. Reifen Weizen zu sehen, der sich im Wind wiegte. Die Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Das Rufen der anderen Kinder zu hören. Über eine Wiese zu laufen und einen Drachen steigen zu lassen. Warme Kekse aus dem Ofen zu stehlen. Wieder ein kleines Mädchen zu sein. Sie atmete tief ein, drehte sich um und verschränkte die Arme, als könnte sie auf diese Weise Abstand gewinnen. »Einmal Anwalt, immer Anwalt, oder? Ergreifen wir nicht alle diesen Beruf, um Antworten zu bekommen?«

      »Was ist passiert?«, fragte Lukas.

      »Du würdest früher oder später doch wieder fragen.«

      »Das würde ich wohl.«

      »Meine Cousine wurde als Kind schwer verletzt. Die Familie hat geschwiegen. Niemand hat davon erfahren. Der Täter musste sich nie vor Gericht verantworten.«

      Lukas schwieg, Anna konnte ihm nicht in die Augen sehen, als sie weitersprach. »Wir haben den Sommer am Land verbracht. Ferien bei der Großmutter, fern von der Stadt. Eine Horde Kinder, sich selbst überlassen. Dorfbewohner, Feriengäste, wir haben jeden Tag aufs Neue die Umgebung erkundet. Die Tage waren endlos. Wir waren frei. Niemand hat gefragt, was wir taten, wir mussten nur zum Abendessen erscheinen. Unter den Kindern gab es strenge Hierarchien. Es gab die, die bestimmten, und die, die geduldet wurden. Die Burschen machten die Regeln. Wir Mädchen mussten Mutproben bestehen. Sie haben meine Cousine in eine Höhle gesperrt und in der Dunkelheit zurückgelassen. Nach Stunden ist einer von ihnen wieder gekommen und hat sie durch die Gänge gejagt. Sie ist auf der Suche nach einem Versteck in einen Abgrund gestürzt. Ich fürchte, der Täter hat sie auch vergewaltigt. Nur der Dorfarzt durfte zu ihr, nachdem der Suchtrupp sie gefunden hatte. Ich habe nie erfahren, was genau geschehen ist.« Als Lukas einen Schritt auf Anna zuging, wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Ein Spatz ließ sich auf dem Fensterbrett nieder. Als er die Gestalt hinter der Scheibe entdeckte, flog er auf. »Ich war damals noch sehr klein. Ich habe nicht begriffen, was mit ihr passiert ist. Nur, dass es etwas ganz Schreckliches sein musste. Mein Vater hat verboten, Fragen zu stellen. Die Familie hat nie wieder darüber gesprochen. Doch es hat alles zerstört. Nichts war danach so, wie es einmal war.«

      »Konnte dein Vater eine solche Entscheidung alleine treffen?«

      »Mama war zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre tot«, sagte Anna. Auch nach so vielen Jahren veränderte sich ihre Stimme, wenn sie über ihre Mutter sprach, als wäre sie wieder vier Jahre alt. »Brustkrebs. Sie hat viel zu spät einen Arzt aufgesucht.«

      »Das tut mir leid«, sagte Lukas.

      »Das muss es nicht«, antwortete Anna, »es ist lange her. Irgendwann verblasst der Schmerz. Großmutter hat sich um uns Kinder gekümmert. Wir haben sie geliebt. Sie hat meiner Cousine geholfen, darüber hinwegzukommen.«

      »Hat deine Cousine auch einen Namen?«

      »Luna.«

      »Luna?«

      »Das muss dir reichen. Ich muss sie schützen. Auch ich gehöre zur Familie«, sagte Anna.

      »Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte Lukas.

      Anna nickte ihm zu und griff nach dem obersten Akt auf ihrem Schreibtisch. »Wir finden einen Termin für ein gemeinsames Abendessen.«

      Es klopfte an ihrer Tür.

      »Wie wäre es mit morgen?«, fragte Lukas.

      Anna lächelte. »Bist du immer so hartnäckig?«

      »Bist du das nicht auch?«

      Ein dunkler Pagenkopf tauchte im Türrahmen auf. Susanne war alleinerziehende Mutter, chaotisch, vergesslich, stets fröhlich und zutiefst loyal. Aus diesen Gründen hatte Anna ihre Sekretärin vor zehn Jahren eingestellt. »Deine neue Klientin …«, sagte sie und hob entschuldigend die Hand, als sie Lukas bemerkte.


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