Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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er dazu auserkoren war, ihre geheimen Wünsche zu erfüllen. Mit jedem Schritt, den er auf sie zuging, wuchs dieses Gefühl der Macht, mit nichts zu vergleichen, dessen Existenz er immer geahnt, aber nie zu erreichen vermocht hatte. Er war berauscht und schwebte. Als er vor ihr stand, flehten ihre Augen um Erlösung. Auch sie konnte es kaum erwarten, dass er zu Ende brachte, was unausweichlich geworden war. Er vollendete, was das Schicksal für sie beide vorgesehen hatte. So nahm er zuerst ihre Unschuld. Dann ihren Zopf.

      In Gedanken schloss er den Eingang der Höhle hinter sich, öffnete die Augen, versperrte die Schreibtischlade und mit ihr die Erinnerung. Während er sich eine weitere Zigarette anzündete, genoss er die Vorfreude, die sich in seinem Magen aufbaute. Ein wohlmeinendes Schicksal hatte ihn heute zum richtigen Schulhof geführt. Beim Läuten der Pausenglocke waren die Kinder ins Freie gedrängt und hatten um den besten Platz auf dem Klettergerüst gekämpft. Zwei Mädchen hatten sich abseits gehalten und waren keinen Meter von ihm entfernt gestanden. Die Größere der beiden hatte eine rosa Daunenjacke und Wildlederstiefel getragen. Ihre blonden Locken waren beim Schnurspringen auf- und abgewippt. Ihre Freundin hatte ein Buch an die Brust gedrückt und zu Boden gestarrt. Ihre Hosen endeten an den Waden, obwohl die Temperatur keine zehn Grad betragen hatte. Als sich das Seil zwischen den Beinen des Lockenkopfes verfangen hatte, fragte sie: »Kannst du nicht aufpassen?«

      »Was meinst du?«, hatte ihre rothaarige Freundin erwidert.

      »Vanessa, ich kann nicht springen, wenn du so schaust«, hatte die Blonde geantwortet, »manchmal hast du diesen Blick. Wie eine Hexe. Eine böse noch dazu.«

      Vanessa hatte sich auf die Lippen gebissen und das Buch noch fester an sich gepresst. »Tut mir leid«, hatte sie gesagt.

      Der Lockenkopf war weitergesprungen.

      Vanessa, die Erste. Er hatte die nächste Prinzessin gekrönt. Noch nie hatte er eine Rothaarige gewählt. Sie würde ihm eine neue Erfahrung ermöglichen. Gerne hätte er jemandem von diesem seltenen Moment des Glücks erzählt. Ihn geteilt. Ihn multipliziert. Doch wer hätte ihn verstanden und die gesellschaftlich vorgekauten Normen ebenso als widernatürlich entlarvt, die seine Handlungen verdammten und seine Taten nicht würdigten? In einer Zeit, in der Dummheit regierte und Gesetze von der Masse ungefragt befolgt wurden, war es schwierig geworden, Menschen wie ihn zu verehren. Man hätte auf ihn gezeigt und wäre ihm nicht mehr mit Hochachtung begegnet. Es war besser, diesen Teil im Verborgenen zu halten. Seine Jagd war eröffnet.

ERSTER TEIL SCHULD

      1

      MONTAG

      Stille legte sich über den Saal. Die Schriftführerin knackte mit den Fingerknöcheln und schaute erwartungsvoll zur Richterbank. Die Verhandlung war seit über einer Stunde ereignislos dahingeplätschert. Keiner der vom Staatsanwalt befragten Zeugen hatte Entscheidendes zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen können. Der gegnerische Verteidiger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lockerte seine Krawatte, er schien sich eines Freispruches für seinen Mandanten sicher.

      Der Richter blätterte in seinen Unterlagen und warf Anna Walter einen gelangweilten Seitenblick zu. »Möchte die Privatbeteiligtenvertreterin noch etwas vorbringen?«, fragte er und schloss den vor ihm liegenden Akt.

      Auch nach vielen Jahren im Gerichtssaal konnte Anna nicht verstehen, wie jemand bei einem Delikt wie dem eben verhandelten emotionslos bleiben konnte und versuchte sich einzureden, dass es eine nachvollziehbare, wenn auch schwer zu verstehende Methode war, Grausamkeit zu verarbeiten. Sie selbst konnte die Genugtuung spüren, die sich immer dann in ihrem Magen ausbreitete, wenn sie einem Prozess die entscheidende Wendung geben konnte. Jahrelange Übung ermöglichte es ihr, sich äußerlich nichts von ihrer Erregung anmerken zu lassen. Sie wartete ein weiteres Ticken des Sekundenzeigers der Wanduhr ab, bevor sie ihren Stuhl zurückschob. »Ich habe durchaus noch einige Fragen«, sagte sie, während sie den Angeklagten musterte und ihre Füllfeder neben den aufgeschlagenen Akt legte. Ihre hohen Absätze hallten auf dem Parkettboden des Gerichtssaales wider, als sie auf Robert Pieler zuging.

      »Ich möchte vorab klarstellen, dass ich Sie weder anklage noch über Sie richten werde«, sagte Anna zu dem Angeklagten. »Ich bin sicher, Ihr Verteidiger hat Ihnen erklärt, welche Position ein Privatbeteiligtenvertreter in einem Verfahren einnimmt.« Ein fragender Seitenblick auf seinen Anwalt bestätigte Annas Verdacht, dass Pieler keine Ahnung davon hatte, welche Rolle sie spielte. Auch wenn das Gesetz den Rahmen für ihre Vorgehensweise absteckte, hatte sie als Vertreterin des Opfers einen weitaus größeren Spielraum für ihre Befragung und etwaige Anträge als der Staatsanwalt.

      »Sie mögen Kinder, richtig?«, fragte sie und schob eine Strähne ihrer langen Haare hinters Ohr.

      »Tut das nicht jeder?«, fragte Pieler zurück. Bereits während der Vernehmung durch den Staatsanwalt hatte seine Stimme ebenso bestimmt geklungen. Als Vorstandsmitglied einer Pharmafirma wusste er offenbar sehr genau, wie man Antworten gekonnt vermied.

      »Ich fürchte nein«, sagte Anna und ging einen weiteren Schritt auf den Angeklagten zu. Sie hätte ihre Hand ausstrecken und ihn berühren können. Er wich nicht einen Millimeter zurück. »Zumindest scheint es sehr unterschiedliche Auffassungen zu geben, was Zuneigung bedeutet.«

      »Frau Kollegin, die Verhandlung ist nicht auf Stunden anberaumt«, warf Pielers Verteidiger ein.

      Anna ignorierte den tadelnden Blick des Gegenanwaltes und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu. »Wir haben bereits gehört, dass Sie selbst zwei Kinder haben. Wie heißen denn Ihre Beiden?«

      »Aenea«, antwortete Pieler, »und Nele«.

      »Eine außergewöhnliche Wahl.«

      »Sollte das eine Frage sein?«

      »Meine ganz private Meinung«, antwortete Anna.

      »Ich fasse sie als Kompliment auf«, sagte Pieler.

      »Frau Kollegin …«

      Anna nickte dem Verteidiger zu. »Wir haben im bisherigen Verfahren viele Fakten, aber wenig Persönliches über Ihren Mandanten gehört«, sagte sie, »ich halte es für den Sachverhalt für durchaus wichtig, ihn ein wenig näher kennenzulernen. Sie haben ausgesagt, jeden Samstag mit Ihren Kindern auf denselben Spielplatz zu gehen, auf dem sich auch Melanie Salzer gerne aufhält. Kennen Sie das Mädchen?«

      Der Angeklagte hob die Schultern. »Wissen Sie, wie viele Kinder dort jedes Wochenende herumtoben? Ich achte nicht auf die anderen. Meine Aufmerksamkeit gilt ausschließlich Aenea und Nele.«

      »Wie verbringen Sie denn so die Nachmittage?«

      »Die beiden spielen Indianer. Oder Verstecken. Manchmal spielen wir zusammen Fußball.«

      »Wie sie selbst ausgesagt hat, ist Fußball Melanies Lieblingsbeschäftigung. Ist Ihnen das Mädchen mit den dunklen Locken nie aufgefallen?«

      »Ich könnte nicht einmal attraktive Mütter beschreiben, die wahrscheinlich oft genug neben mir auf den ubequemen Holzbänken gesessen sind«, antwortete Pieler und lächelte entschuldigend.

      »Baden Sie gerne mit Ihren Kindern?«

      »Frau Kollegin, ich wüsste nicht, wohin diese Fragen führen sollten«, wendete der Verteidiger ein.

      »Ich komme bereits zur Sache«, sagte Anna, ohne Pielers Anwalt zu beachten.

      »Das Baden übernimmt meine Frau«, antwortete Pieler.

      Anna nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass auch der Richter sein Zögern bemerkt hatte. Sie konnte die Blicke in ihrem Rücken spüren, als sie zu ihrem Platz ging, um ein unscheinbares Blatt zwischen ihren Unterlagen hervorzuziehen. »Ich beantrage, ein neues Beweisstück zu den Akten zu nehmen. Eine Kinderzeichnung, gemalt von Melanie Salzer, die der Angeklagte nicht kennen will. Melanie hat den Angeklagten gut getroffen. Er sitzt in einer Badewanne. Nackt. Wir können ihn gerne bitten, sein Hemd zu öffnen, um uns davon zu überzeugen, wie authentisch die Darstellung ist.«

      Pieler griff sich instinktiv an die Seite, knapp oberhalb des Ledergürtels, der aus der geöffneten Anzugjacke hervorlugte. Dort musste sich das auffällige


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